Wie schafft es eine Kleinstadt, sich in einem großen gesellschaftlichen Umbruch zu behaupten? Diese Frage stellte sich schon Cordia Schlegelmilch in ihren Büchern „Wurzen. Ankunft in einer anderen Zeit“ und „Eine Stadt erzählt die Wende“. Mit „Zeitenwende“ ergänzt Silke Kasten nun einige Aspekte zur Wurzener Transformationserzählung.

Wobei die Unterschiede in der Herangehensweise nicht zu übersehen sind, hat Cordia Schlegelmilch die Wurzener ja vor allem aus sozialwissenschaftlicher Sicht interviewt. Silke Kasten ist Journalistin und hat vor ihrer Übersiedlung ins Wurzener Land bei den „Lübecker Nachrichten“ gearbeitet.

Als sie 1998 in den Osten kam, war die Hochzeit der ostdeutschen Lokalzeitungen schon langsam an ihrem Ende angekommen. Heute arbeitet sie als freie Autorin und Ghostwriterin. Und irgendwie wollte sie doch auch gern wissen, wie die „Wende“ in Wurzen vor sich ging und wie die Betroffenen das vor allem erlebten.

Der Blickwinkel ist leicht verschoben, denn eine Journalistin schaut eher nach den Geschichten, die Menschen so erlebt haben und sich erzählen. Erst diese Geschichten ergeben ja das, was als gemeinsame Erinnerung an eine markante Zeit übrig bleibt.

Und natürlich wird da deutlich, dass für die von Silke Kasten Interviewten vor allem die harte Transformationszeit nach der deutschen Einheit im Fokus steht und auch emotional direkt an der Oberfläche liegt.

Denn fast alle erlebten sie mit, wie die Euphorie der Einheit binnen weniger Monate in Katzenjammer überging und viele von denen, die die schnelle Einheit herbeigewünscht hatten, nun auf einmal erlebten, wie der Betrieb, in dem sie gerade noch gehofft hatten, bis zur Rente endlich für Westgeld arbeiten zu können, vor ihren Augen abgewickelt oder verkauft wurde.

Transformation mit Dilettanten

Auch Wurzen erlebte das, manchmal mit lauter atemraubenden Wendungen wie bei der Teppichfabrik, die bis zur Einheit auch den westdeutschen Markt mit hochwertigen Teppichen und Läufern beschickte und unter einem neuen Eigentümer einen durchaus Hoffnung verheißenden Neustart hinlegte – ja, bis sich herausstellte, dass die Treuhand gepfuscht hatte und auf dem Werk Restitutionsansprüche angemeldet wurden.

Der Neustart wurde für Angestellte wie neuen Besitzer zum Desaster. Heute erzählt nur noch ein übrig gebliebener Hochbau von der traditionsreichen Fabrik, die eben nicht dafür steht, dass der Osten nicht konkurrenzfähig gewesen wäre. Aber es steht für den Dilettantismus der Abwicklung der ostdeutschen Industrie, der hier markant zum Vorschein kam.

Anders als in der Filzfabrik, wo die Alteigentümer wieder in Verantwortung kommen durften und den Betrieb in wenigen Jahren sanierten – und das unter enger Einbindung der Beschäftigten. Und da Kasten mit den Beschäftigten sprach, spürt man hier etwas von jener Verbundenheit, die viele Ostdeutsche einst mit ihren Betrieben identifizierten.

Vielleicht wegen der ganzen sozialen Einrichtungen, die mit den Betrieben auch verbunden waren. Aber eigentlich glaubt man das nicht mehr wirklich. Es ist etwas anderes, das da anklingt, etwas, was hinter dem Lobpreis der Arbeit in der DDR (den Kasten insbesondere im Kapitel zu den sozialistischen Feiertagen thematisiert) fast verschwindet. Und was man an dieser Stelle einfach mal hervorheben sollte, weil es der Boden ist, auf dem alle unsere heutigen demografischen und Radikalisierungsprozesse basieren.

Denn der feste Arbeitsplatz bedeutet eben nicht nur Verbundenheit mit den Kolleg/-innen, sondern auch eine Verwurzelung in der Region. Die Fabriken, die Kasten ins Zentrum rückt, waren bis 1990 genauso identitätsstiftend wie etwa die heute noch lebendige Süßwarenproduktion. Identität aber wird heimatlos, wenn Menschen nicht mehr dort mit anpacken und gestalten können, wo sie leben.

Identitätsstiftende Arbeit

Auch im Kapitel zu Liftket/Hoffmann Fördertechnik wird das deutlich – nicht nur in Bezug auf die Eigentümerfamilie, die zu Recht stolz war, einen weltmarktfähigen Betrieb in Wurzen am Leben erhalten zu haben, sondern auch in Bezug auf die Beschäftigten, die sich mit ihrem Betrieb und der qualifizierten Arbeit dort identifizierten. Und die 1990 zu Recht davon ausgingen, dass sie auch nach der deutschen Einheit gebraucht würden und ihre Qualifikation gefragt wäre.

Eine Hoffnung, die auch für einige der von Kasten Befragten gründlich enttäuscht wurde. Sie wurden entlassen, erlebten Jahre zwischen Arbeitsamt, ABM und Aushilfsjob und damit die gründliche Entwertung nicht nur ihrer Arbeitskraft, sondern auch ihrer Erfahrung und ihrer Qualifikation.

Die Arbeitsgesellschaft der DDR erlebte einen markanten Bruch, dem dann auf den Fuß der demografische Bruch folgte und die Abwanderung vor allem der jungen Menschen zu den Arbeitsplätzen, die jetzt auf einmal im Westen lagen.

Dort wurden sie mit Kusshand genommen. Zwei Millionen vor allem junge, gut qualifizierte Menschen wanderten ab 1990 in den Westteil des Landes ab. Heute fehlen sie. Auch die Unternehmen, die den Sprung über die ersten harten Jahre geschafft haben, suchen heute händeringend nach Arbeitskräften.

Oder mal so formuliert: Demografie ist ein Feld, auf dem die meisten Politiker blind wie die Hühner sind. Sie lässt sich ja nicht in eine Legislatur packen, sondern braucht einen langen Atem.

Identifikation über den Sport und Jazz

Das können auch die Interviewpartner erzählen, die Silke Kasten zu Fußball, Rudern und Reiten gesprochen hat, alles auch in der Zeit vor der Friedlichen Revolution identitätsstiftende Angebote in Wurzen. Anders organisiert, eingebaut in die Rundumversorgung eines sozialistischen Staates, dessen Funktionäre sich am 1. Mai auf der Tribüne bejubeln ließen (ja, auch die Provinzfunktionäre in Wurzen), aber noch genauso wichtig.

Hier werden junge Menschen aufgefangen, wird Gemeinschaft geschaffen, manchmal kommt dabei sogar ein Olympiasieger hervor wie der Ruderer Philipp Wende. Aber wo die finanzstarken Sponsoren fehlen, ist mehr Engagement der zusehends älter werdenden Vereinsmitglieder nötig.

Überhaupt diese Älterwerden. Natürlich hat man da was zu erzählen. Auch über die durchaus rebellischen Seiten, die Wurzen vor der Friedlichen Revolution auch hatte. Was Silke Kasten am Beispiel des Jazzclub Wurzen 725 erzählt und dem Leben seiner Macher, die hier im kleinen Wurzen für sieben Jahre einen kleinen Ort der musikalischen Freiheit schufen in einem Land, in dem der Staat alle unbefohlenen Aktivitäten mit höchstem Misstrauen beobachtete.

Denn selbst diese Flucht der jungen rebellischen Leute in den Jazz als nicht zensierbare Musikrichtung weckte den Argwohn der Stasi und der Partei. Denn natürlich passierte hier, was die Diktatur nicht verträgt: die mutige Selbstorganisation in einem Stück selbst geschaffene Freiheit. Bis die Staatsmacht dann zuschlug und dieses Pflänzchen auch zertrampelte.

Kontrolliertes und privates Feiern

Im Kapitel, „Feste und Feiern“ freilich schreibt Silke Kasten nicht die x-te Geschichte über die staatlich befohlenen Jubelfeiern, auch wenn diese am Beispiel Wurzen auch beleuchtet werden. Aber mit ihren Gesprächspartnern beleuchtet sie auch die Räume des privaten Feierns, wo dann in der Regel all das passierte, was in den organisierten Feierstunden des Staates nicht passierte.

Da war auch der Wurzner frei und feierte das auch zünftig, wohl wissend, dass man die mitfeiernden Nachbarn und Kollegen in dieser Mangelgesellschaft immer mal brauchen würde. Auch das gehört zum Gemeinschaftsgefühl, das heute einer erschreckenden Vereinzelung gewichen ist.

Womit auch hier deutlich wird, dass eine Diktatur ohne Schizophrenie und Selbstbetrug nicht auskommt. Denn wenn die SED- und Stasi-Genossen feierten, ging es ebenso zügellos zu. Alle wussten, dass die offiziellen Feiern alle nur Inszenierung waren, die plakative Schauseite einer Gesellschaft, in der auch die Brüderlichkeit der Genossen nur Show war, die sich ruckzuck in Bestrafungsmaßnahmen verwandeln konnte, wenn einer auch nur wagte zu sagen, der Genosse Kaiser sei doch nackt.

Gesellschaften sterben auch deshalb, weil am Ende kaum noch einer die plakatierten Märchen glaubt. Dann läuft das Volk davon, bringt gewaltig was ins Rutschen, auch wenn die meisten nicht wissen, was am Ende nach dem ganzen Rutsch herauskommt.

Verlustgefühl und Überlebenswillen

Sodass auch Silke Kasten dieses Doppelgefühl beschreiben kann, das so viele Geschichten aus dem Osten trägt: die vorhandene Wehmut, weil die Befragten sehr wohl ein nachweisbares Verlustgefühl haben (siehe oben), verbunden mit einem ganzen Strauß von Tapferkeiten, mit denen viele die Rumpeltour nach der Abwicklung „ihrer“ Betriebe versuchen in eine tapfere Überlebensgeschichte umzuerzählen.

Was sie ja auch in der Regel ist. Denn auch wenn man den Ostdeutschen attestieren kann, dass sie – mauer-bedingt – zuvor ein ziemlich immobiles Leben führten, haben die Meisten nach 1990 gezeigt, was wirklich Einsatzbereitschaft und Flexibilität sind und wie man sich selbst dann durchbeißt, wenn einen überhebliche Amtsmitarbeiter behandeln, als wäre man mit einer ostdeutschen Sozialisation sowieso nur faul und verwöhnt.

Eine Haltung, die viele Ostdeutsche nach 1990 erlebten und die eine Menge dazu beigetragen hat, den Frust wachsen zu lassen.

Und so sieht Silke Kasten etwas, was ein gut Teil der deutschen Politiker bis heute nicht verstanden und gesehen hat: „In den neuen Ländern schlugen die Umbrüche dagegen ebenso plötzlich wie unabänderlich in den Biografien ein. Umso mehr bewundere ich es, wie viele Ostdeutsche es schafften, sich im Strudel der Umwälzungen irgendwie über Wasser zu halten.“

Einige von ihnen porträtiert sie in diesem Buch, das auf seine Weise zeigt, wie sich die Menschen in einer arbeitsamen Kleinstadt in einer „Zeitenwende“ schlagen.

Geschichten erzählen

„Jeder erzählt seine eigene, unverwechselbare Geschichte, die aber doch durch und durch geprägt ist von den Rahmenbedingungen, wie sie das Wechselbad aus Diktatur, Wende-Hoffnung und Alltag im neuen System bot. Zerborstene Hoffnungen, Enttäuschungen, sowie Chancen, Aufbruch und gemeisterte Schwierigkeiten – all das lag und liegt dicht beieinander“, beschreibt das Netzwerk für Demokratische Kultur e. V. in Wurzen, das dieses Buch gemeinsam mit dem Archiv Bürgerbewegung Leipzig e. V. herausgegeben hat, das Anliegen des Buches.

Finanziell unterstützt wurde das Projekt vom Land Sachsen sowie der Stiftung weiterdenken (Heinrich-Böll-Stiftung in Sachsen).

„Wir wollten die Erfahrungen und Leistungen der Menschen in der Region würdigen“, erläutern NDK-Geschäftsführerin Martina Glass und Uwe Schwabe vom Archiv Bürgerbewegung Leipzig ihr Engagement, „und zugleich einen differenzierten Blick auf den Transformationsprozess werfen.“

Ursprünglich waren zum Thema auch Erzählcafés geplant, um Zeitzeugen sowie die jüngere Generation ins Gespräch zu bringen. Pandemiebedingt musste darauf jedoch verzichtet werden.

Silke Kasten stammt aus Lübeck, wo sie als Lokalredakteurin bei den „Lübecker Nachrichten“ arbeitete. Sie konzentrierte sich in den letzten Jahren als freie Autorin auf biografische Projekte (Ghostwriting) und arbeitet derzeit für die „Torgauer Zeitung“. Sie ist verheiratet, hat zwei mittlerweile erwachsene Kinder und lebt seit 1998 in einem kleinen Dorf im Wurzener Land.

Silke Kasten „Zeitenwende im Wurzener Land“, Netzwerk für demokratische Kultur, Wurzen / Archiv Bürgerbewegung, Leipzig 2022

Die Bücher sind beim Netzwerk für Demokratische Kultur in Wurzen am Domplatz 5 gegen eine Spende erhältlich. Öffnungszeiten Mo–Fr: 10–16 Uhr.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar