Natürlich gibt es auch eine Festschrift zum 150. Geburtstag der Leipziger Straßenbahn. Die freilich weniger eine Festschrift ist als eine Zeitreise, die etwas sichtbar macht, was selbst in einer vierbändigen Stadtgeschichte meistens untergeht: dass Geschichte immer Veränderung war und Mobilität immer das A und O war. Auch für eine Stadt wie Leipzig.

Natürlich kommt die Straßenbahn auch in der vierbändigen Stadtgeschichte vor. Dort in den Kapiteln zum Verkehr, geschrieben natürlich auch von Helge-Heinz Heinker, der sich wie kein Anderer in Leipzig mit der Verkehrsgeschichte dieser Stadt beschäftigt hat.

Für dieses Buch hat er sich mit Rolf-Roland Scholze zusammengetan, der wohl das umfangreichste Bilderarchiv zur Geschichte der Leipziger Straßenbahn besitzt und in der AG Historische Nahverkehrsmittel Leipzig e. V. engagiert ist. Was dann – mit vielen Fotos auch aus dem Archiv des Stadtgeschichtlichen Museums – eine bilderreiche Reise durch 150 Jahre Straßenbahn in Leipzig garantiert.

Und zwar nicht nur mit großen Fotostecken, auf denen so gut wie alle Fahrzeuge zu sehen sind, die jemals durch das Leipziger Schienennetz gefahren sind. Sondern auch mit historischen Aufnahmen, die zeigen, wo sie überall gefahren sind. Denn das Leipziger Schienennetz war immer in Bewegung. Sorry. Ja, so rutschen einem die Sätze heraus.

Denn es gehört auch zum kleinen Ärger der heutigen Planer, dass die Betreiber der Leipziger Pferdebahn, die 1872 an den Start ging, das mit der Sicherung der Spurweite nicht so genaugenommen haben und es ziemlich fahrlässig in Kauf nahmen, dass die Schienen im Lauf der Zeit auseinandergedrückt wurden.

Ergebnis: Leipzigs Schienennetz hat eine ungewöhnlich breite Spurweite und die Straßenbahnen können nicht – wie etwa in Chemnitz – einfach ins Gleisnetz der Deutschen Bahn wechseln.

Die Mobilität für eine wachsende Industriestadt

Wobei es Chemnitz deutlich leichter hatte, sein 30 Kilometer langes Schmalspurnetz auf Normalspur umzubauen. Das Leipziger Schienennetz ist fast zehnmal so lang und in seinen Grundzügen genau in der Zeit entstanden, in der sich Leipzig von einer 100.000-Einwohner-Stadt (1871) zur Halbmillionenstadt mauserte.

Ein Wachstum, das private Investoren geradezu reizte, hier 1872 eine für die Zeit moderne Pferdebahn ins Rollen zu bringen und damit nicht nur das Leben der Leipziger zu beschleunigen, sondern auch Gewinn zu machen.

Etwas, was natürlich aus heutiger Perspektive verblüfft: Dass Pferdebahnen und ab 1896 zwei konkurrierende Straßenbahnunternehmen hier ohne ÖPNV-Förderung in Gleise, Depots und Wagenpark investierten und sogar Gewinne machten und sich über Aktien refinanzieren konnten.

Da Helge-Heinz Heinker aber auch das Erzählen in Zusammenhängen beherrscht, hat er das Motiv der aufkommenden Automobilität immer wieder eingewoben. Denn dass ÖPNV „sich nicht rechnet“, hat mit der aufkommenden Automobilität zu tun, die über 100 Jahre lang auch von Staat und Stadt massiv subventioniert und gefördert wurde und erst zu der Konkurrenz im Verkehrsraum geführt hat, die wir heute erleben.

Und von der die Automobilisten tatsächlich glauben, das sei schon immer so gewesen und der Verkehrsraum gehöre zuallererst ihnen.

Was natürlich Quatsch ist. Denn natürlich betonen auch die Leipziger Verkehrsbetriebe zu Recht, die 1916 aus den beiden zuvor konkurrierenden Privatbahnen hervorgingen und seit 1919 Eigentum der Stadt sind (und seit 1938 so heißen), dass sie seit 1896 Vorreiter in Sachsen E-Mobilität in Leipzig sind.

Und dass Straßenbahnen das E-Mobilitätsangebot der Zukunft sind. Gerade die Krisen- und Kriegszeiten haben immer wieder bewiesen, dass Leipzig auch dann funktioniert, wenn kein Pkw mehr rollt, aber die Straßenbahnen fahren.

30 Linien und fast 360 Millionen Fahrgäste

Selbst in der DDR bildeten die Straßenbahnen – die nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu ein Sammelsurium notdürftig reparierter Fahrzeuge von vor 1933 darstellten – das Rückgrat der Leipziger Mobilität.

Bis zu 30 Linien gab es zeitweilig und besonders dichte Taktzeiten zum Schichtwechsel in den großen Betrieben, sodass es die LVB schafften, bis zu 330 Millionen Fahrgäste im Jahr zu transportieren. 1959 waren es sogar fast 360 Millionen. Erst danach sanken die Fahrgastzahlen, weil auch im Osten so langsam das Autozeitalter begann, mit Wartburgs und Trabis.

Das Buch ist schön übersichtlich in naheliegende Zeitepochen gegliedert, sodass man in aller Ruhe in die völlig unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Leipziger Straßenbahn eintauchen kann. Ein Kapitel zu „Stallungen, Remisen und Wagenhallen“ ist sogar mit „Im Fluss der Zeit“ betitelt.

Denn wenn man die 150-Jahre-Perspektive einnimmt, dann sieht man erst, wie selbst etwas scheinbar so Sprödes wie ein Straßenbahnunternehmen seine Metamorphosen erlebt und sich unter dem Druck der technischen Innovationen und der wachsenden Ansprüche verändern musste.

Einige der alten Depots kann man im Stadtgebiet ja noch finden – in neuer Nutzung, um- und überbaut. Das Buch hilft beim Auffinden genauso wie beim Erkunden der Strecken, die im Lauf der Zeit auch wieder eingestellt wurden – nicht immer, „weil es sich nicht rechnete“.

Manchmal waren es einfach Beschlüsse am Zielort (wie 2015 in Markkleeberg), auf die die LVB keinen Einfluss hat. Manchmal waren es aber auch riesige Neusortierungen im Leipziger Straßennetz wie in den 1960er und 1970er Jahren, als die letzten Querungen durch die Innenstadt demontiert wurden und die Straßenbahnen fortan nur noch über den Ring fuhren.

Einige Gleispläne im Anhang des Buches geben zumindest einen Eindruck davon, wie das Netz erst immer weiter wuchs und immer kleinteiliger wurde und sich dann in den letzten Jahrzehnten wieder konzentrierte auf 13 Hauptlinien, die aber mit immer größeren und moderneren Fahrzeugen befahren wurden.

Gothaer, Tatras, Leoliner

Wer die Sammlung historischer Straßenbahnfahrzeuge im alten Depot in Eutritzsch in der Apelstraße besucht, sieht, wie klein die Fahrzeuge einst waren, als sie noch von ein oder zwei Pferden gezogen wurden. Der sieht aber auch die evolutionären Übergänge mit Anhängern und Drehgestellen, ersten Niederflurexperimenten und auch Fahrzeuge, die von den LVB selbst gebaut wurden.

Der „Leoliner“ war ganz und gar kein Novum in dieser Beziehung. Man findet dort die namhaften Straßenbahnbauer der Weimarer Republik, als sich so langsam die Standards des heutigen Straßenbahnwesens herausbildeten – mit ersten Heizungsexperimenten in den Waggons, die bis dahin unbeheizt waren, mit Sitzplätzen für die Fahrer, die bis dahin stehen mussten, oder mit „handbetätigten Außenschiebetüren“, die später pneumatisch wurden und die so mancher ältere Leipziger noch in den späten 1980er Jahren erlebte.

Da war noch so manches Fahrzeug aus den 1950er Jahren unterwegs, gebaut in Gotha und Werdau, als die DDR noch einen eigenen Straßenbahnbau hatte, bevor die gesamte Straßenbahnproduktion des RGW in Prag konzentriert wurde, woher Leipzig dann auch die über 800 Tatra-Wagen bezog, die im Jahr der Friedlichen Revolution 1989 das Straßenbild bestimmten und am 9. und 16. Oktober tatsächlich in den Menschenmassen feststeckten, die um den Ring zogen.

Ein sprechendes Bild, wie Helge-Heinz Heinker feststellt: Nichts ging mehr. Die DDR war zum Erliegen gekommen.

Was nicht an den Reparaturkünstlern und Fahrern in der LVB lag. Die hielten ihren Laden mit genauso viel Erfindungsreichtum am Laufen, wie es die von den Straßenbahnen Transportierten in ihren Fabriken auch machten.

Womit die Geschichte ja nicht endet, denn 1994 begann ja die nächste Evolutionsstufe mit den neuen Niederflurwagen NGT 8, die erstmals zeigten, wie moderner Fahrkomfort in einer Tram aussieht.

Die Neubeschaffungen nach 2000 zeigten dann freilich auch, wie enorm der Modernisierungsdruck auf ein Nahverkehrsunternehmen ist, welches das Mobilitätsrückgrat einer tatsächlich wieder wachsenden Großstadt sein will.

Die Bahnen wurden größer und leistungsfähiger. Mit 45 Metern Länge hatte Leipzig zeitweilig eine der längsten Bahnen Europas. Aber nun kündigen sich mit den ab 2024 startenden Neuanschaffungen sogar 60 Meter lange Fahrzeuge an.

Wie schafft man 240 Millionen Fahrgäste?

Denn die vom Stadtrat beschlossenen Streckenerweiterungen werden Zeit brauchen und vor 2030 nicht wirksam werden. Und dichtere Takte sind vor einem kompletten Umbau des Rings, über den alle Bahnen fahren, auch nicht drin.

Also müssen vorerst größere Fahrzeuge die Steigerungen im Fahrgastaufkommen abfangen, die die LVB eigentlich bringen sollen. Bis zu 240 Millionen nach dem Beschluss zum nachhaltigen Mobilitätskonzept.

Dass sie in den beiden Corona-Jahren auf etwas über 100 Millionen abgestürzt sind, hat ja nur bedingt mit ihrem Angebot zu tun. Es hat auch mit einem Rückgang von Mobilität zu tun – insbesondere jeder Menge Freizeitmobilität.

Wobei die Unternehmensentscheidungen zu Streckeneröffnungen in der Vergangenheit fast immer wirtschaftliche Gründe hatten. Das war so bei der Aufnahme des Omnibusbetriebes in den 1920er Jahren wie bei der Installierung der beiden O-Bus-Linien 1938 oder der Netzerweiterungen nach Grünau in den 1970ern.

Dieser Druck scheint nicht mehr da zu sein, seit sich jeder, der genug verdient, ein Auto leisten kann. Aber es sind diese Unmengen von Autos, die die Mobilität in Leipzig massiv beeinträchtigen und auch dafür sorgen, dass die Straßenbahnen ihr Potenzial gar nicht entfalten können.

Das Buch ist – auch wenn es am Ende nur kurz auf die künftigen Anschaffungen und Streckenerweiterungen eingeht, auch eine kleine Kampfansage an alle, die glauben, man könne die Mobilität in heutigen Großstädten dauerhaft so organisieren, wie das derzeit der Fall ist.

So klimaschädlich, platzverschlingend und gerade die Verkehrsarten behindernd, die tatsächlich energiesparend und zukunftsfähig sind. Und dazu gehört nun einmal die Straßenbahn, deren Leipziger Evolution dieses Buch erzählt.

Ein Buch, das auch einen festen Einband verdient hätte, denn wer sich für die „Bimmel“ begeistert, der wird immer wieder dazu greifen und mit Texten und Bildern auf Zeitreise gehen. Und über echte Trittbrettfahrer genauso staunen wie über Leipziger, die brav an der hinteren Tür ein- und an der vorderen aussteigen.

Man erlebt das Ende der Schaffner mit und die freudig gefeierte Einführung der Monatskarten. Und sogar das derbe Ratschen scheint man wieder zu hören, mit dem man einst in den Bahnen seinen 20-Pfennig-Schnipsel entwertete.

An die Geschichte der Fahrkartenautomaten haben sich die beiden Autoren dann nicht mehr gewagt. Da wäre es wahrscheinlich ein bisschen zu turbulent geworden.

Aber wer Verkehrsgeschichte mag und wissen will, was eine Großstadt wie Leipzig tatsächlich immer in Bewegung gehalten hat, der sollte sich die Festschrift besorgen, solange die Auflage reicht. So umfassend bekommt er die Geschichte der Straßenbahn in Leipzig so bald nicht wieder in einem Buch.

Helge-Heinz Heinker, Rolf-Roland Scholze „150 Jahre Straßenbahn für Leipzig“, LVB, Leipzig 2022, 29,95 Euro

Erhältlich ist die Festschrift zum Preis von 29,95 Euro (Hardcover) oder 18,72 Euro (Softcover) im Straßenbahnmuseum, ) im Servicezentren und am Servicemobil der LVB sowie in ausgewählten Buchhandlungen Leipzigs.

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