Manche Historiker haben ja schon versucht, all die goldigen Legenden über August den Starken zu hinterfragen, Legenden, aus denen bis heute ein guter Teil des Sachsen-Marketings besteht. Mit Friedrich August I., wie er tatsächlich hieß, begannen das „Augusteische Zeitalter“ in Sachsen, die noch heute in Dresden zu besichtigende Prachtentfaltung und ein kleines Stück Versailles. Fast vergessen ist, dass Friedrich eigentlich nicht der Thronanwärter war. Andrea Martin holt seinen Bruder aus dem Vergessen und spürt einem möglichen Verbrechen nach.

Historiker verkünden keine Wahrheiten

Andrea Martin hat sich nicht nur durch die Berge von historischen Ruhmesgesängen gearbeitet, in denen die Regierungszeit Friedrich Augusts I. verklärt wurde. Und auch nicht nur durch die Veröffentlichungen, in denen die alten Vorurteile gegen Friedrichs Bruder Johann Georg und seine Geliebte Sibylla von Neitschütz immer wieder aufgewärmt wurden, ohne dass die Abschreiber hinterfragten, wer eigentlich aus welchen Motiven all diese Legenden in die Welt gesetzt hat. Aber genau da fängt wirkliche, seriöse Geschichtsforschung an: Sie hinterfragt das scheinbar Legendäre und zieht die Originaldokumente der Zeit zu Rate.

Was nicht bedeutet, dass am Ende „die Wahrheit“ gefunden wird. Aber das Bild von historischen Persönlichkeiten wird differenzierter und genauer. Und manches, was Stadtbilderklärer heute immer noch mit großer Geste den leichtgläubigen Besuchern des barocken Sachsens erzählen, entpuppt sich als Märchen, Lüge, bewusst platzierte fakenews und schillernde Selbstvermarktung.

Und darin war der starke August gut. Schon von Kindesbeinen an. Denn die Dokumente, die von der Jugend der beiden Brüder erzählen, berichten auch von den schwelenden Konflikten, die gerade der jüngere, Friedrich August, immer wieder zum offenen Ausbruch brachte. Denn er hielt sich schon immer für den Stärkeren und Überlegenen und empfand seine Zweitrangigkeit in der Thronfolge immer als Zurücksetzung.

Nicht nur Andrea Martin attestiert ihm einen ausgewachsenen Narzissmus. Und vieles von dem, wofür Friedrich August in den sächsischen Legenden gerühmt wird, ist eindeutig Ausdruck einer solchen Kompensation, mit welcher der Jüngere selbst dann noch sein Gefühl, zurückgesetzt gewesen zu sein, auslebte in einer schillernden, rücksichtslosen und geldverschwenderischen Selbstdarstellung.

Geschichte aus weiblicher Sicht

Frauen, die das erlebten, konnten ein Lied davon erzählen. So wie die von August düpierte Gräfin von Cosel, die freilich ihr Lied lieber nicht öffentlich sang. Denn wie rachsüchtig der starke August war, das wusste sie nur zu gut.

Und natürlich sieht Geschichte völlig anders aus, wenn man sie – wie Andrea Martin – aus weiblicher Perspektive betrachtet. Und am Ende wird sie zusehends kritischer und deutlicher, was das letztlich schäbige Verhalten Friedrich Augusts betrifft, als ihm der Tod seines Bruders 1694 den Weg auf den Thron eröffnete. Im letzten Kapitel „Mutmaßungen und ein Fazit“ eröffnet Andrea Marin durchaus die Möglichkeit, dass sowohl der Tod von Sibylla von Neitschütz als auch der Tod seines Bruders an den Blattern möglicherweise ein Tötungsverbrechen war.

Beweisen lassen wird es sich nicht. Aber ein ganz starkes Indiz spricht dafür, dass in diesem später theatralisch aufgeladenen Doppeltod ein Verbrechen steckt. Das ist der von Friedrich August eingefädelte riesige Hexenprozess gleich nach dem Tod seines Bruders, in dem auch Sibyllas Mutter gefoltert wurde, sich aber nicht dazu zwingen ließ zuzugeben, die Liebe ihrer Tochter zu Johann Georg durch Hexerei bewerkstelligt zu haben.

Perfide ist der Prozess nicht nur durch das abergläubische Konstrukt der Hexerei, dem nicht einmal die Leipziger Schöffen folgen wollten, sondern durch die systematische Zerstörung des Rufes von Friedrich Augusts Bruder und seiner Geliebten. Ein Rufmord, der bis heute nachwirkt und den Blick darauf verstellt, dass sich in Johann Georgs Liebe zu Sibylla ein Liebesideal zeigt, das für das späte 17. Jahrhundert ganz und gar nicht die Norm war. Alles spricht dafür, dass Johann Georg Sibylla tatsächlich liebte und sie nur zu gern zur Frau genommen hätte, wenn das die starren Standesnormen des Hochadels überhaupt ermöglicht hätten.

Heiraten musste er die verwitwete Eleonore Erdmuthe Luise von Sachsen-Eisenach, mit der er überhaupt nicht glücklich war. Just in dem Jahr, als sowohl Sibylla als auch er auch die Blattern bekamen, obwohl es in Dresden gar keine Epidemie gab, bemühte sich Johann Georg am Kaiserhof in Wien darum, dass die eben erst in den Grafenstand erhobene Sibylla auch in den Fürstenstand ehoben würde. Dann hätte er sich von Eleonore trennen und tatsächlich Sibylla heiraten können.

Moralische Manipulationen

Motive, diesen ungeliebten Bruder und seine Geliebte aus der Welt zu schaffen, gab es genug. Und so manches schriftliche Zeugnis deutet darauf hin, dass Friedrich August selbst schon lange vorher die Reputation seines Bruders und dessen Geliebter öffentlich attackieren ließ und die Stimmung anheizte, die sich aktenkundig gegen Johann Georg und Sibylla richtete. Und auf einmal kommt einem das sehr heutig und vertraut vor. Denn dabei konnte er immer mit dem alten, moralisch verklemmten Luthertum spielen, das sich bis heute als konservatives Element in der sächsischen Landespolitik erhalten hat.

Mätressen, wie es sie zeitgleich schon am Hof Louis XIV. gab, kannte das biedere und orthodoxe Sachsen noch nicht.

Und zu den Verwirrungen der Geschichte gehört, dass ausgerechnet Friedrich August es sein sollte, der das Mätressenwesen am Dresdner Hof einführen würde. Und während „das Volk“ seinen Bruder für die Liebe zu Sibylla scheinbar verachtete, wird August für sein Mätressenwesen bis heute bewundert.

Da geht dann auch fast verloren, dass die knapp drei Regierungsjahre von Johann Georg einen Kurfürsten zeigen, der seine Stellung als Landesherr sehr ernst nahm und dabei eine Realpolitik verfolgte, die eben das nicht bestätigt, was Historienschreiber drei Jahrhunderte lang erzählt haben: dass er als Herrscher schwach und zögerlich war.

Auch davon erzählt Andrea Martin, die in diesem Buch eben nicht nur die Liebe Johann Georgs zu Sibylla rehabilitiert, sondern auch deutlich macht, wie politische Manipulation funktioniert. Denn anders kann man das Vorgehen von Friedrich August nicht beschreiben. Nicht einmal den Leichnam von Sibylla ließ er in Ruhe, sondern ließ ihn aus der Gruft entfernen und an „unbekanntem Ort“ verscharren.

Ein gewaltiger Rufmord

Und von Herzlichkeit und Empathie erzählt auch Friedrich Augusts Umgang mit Sibyllas Mutter nicht, genauso wenig wie sein Umgang mit Johann Georgs Witwe und seiner Tochter. Johann Georg hatte zwar eheähnliche Verträge aufgesetzt, die seine Geliebte und seine Kinder finanziell absichern sollten, wenn er starb. Doch selbst die Schlösser und Landsitze, die Johann Georg seiner Geliebten geschenkt hatte, kassierte Friedrich August ein. Und wenn es ein Testament unter Brüdern gegeben haben sollte, dann hat er es wohl verschwinden lassen.

Was am Ende bleibt, ist jener gewaltige Rufmord, dessen Höhepunkt der Hexenprozess war, mit dem der ganz und gar nicht starke August es tatsächlich schaffte, die Erinnerung an die kurze Regierungszeit seines Bruders auszutilgen und dessen Liebe zu Sibylla zu einer kitschigen Anekdote in der sächsischen Historienmalerei zu degradieren. Es ist aber auch ein Vorgang, der zeigt, wie manipulierbar „Volkes Stimme“ ist, wenn man weiß, wie man eine bigotte Moral dazu benutzen kann.

Eine Moral, die damals eng verquickt war mit einer orthodoxen Priesterschaft, die auch deshalb grimmig wurde, weil Gerüchte über den möglichen Übertritt Sibyllas zum Katholizismus öffentlich wurden. Gerüchte, die augenscheinlich auch wieder auf den cleveren Bruder verweisen, der im Schatten seine Fäden zog. Und der wenig später ohne Skrupel selbst die Religion wechseln sollte, um König in Polen werden zu können.

Und dass Friedrich August für Kritik und die beginnende Aufklärung so überhaupt keinen Sinn hatte, zeigt dann auch die Vertreibung von Thomasius und Wolf aus Leipzig. Der eine ging nach Halle, der andere nach Berlin. Und Andrea Marin stellt mit Berechtigung die Frage, was Sachsen mit dem Weggang seiner frühen Aufklärer eigentlich verlor.

Ein Kurfürst ohne Skrupel

Friedrich August jedenfalls war ein Mann, der ganz offensichtlich keine Skrupel kannte, wenn es um seinen eigenen Glanz und Ruhm ging. So gesehen auch ein sehr moderner Politikertypus. Der mit seiner schillernden Größe bis heute den Blick auf seinen viel nachdenklicheren und sensibleren Bruder verstellt, der mit 25 Jahren starb, unter Umständen, die bis heute Fragen aufwerfen.

Andrea Martin verschafft mit ihrem Buch diesem fast vergessenen sächsischen Kurfürsten wieder Sichtbarkeit und zeigt ihn als einen Menschen, der eben nicht bereit war, seine Liebe dem Standesdünkel zu opfern. Und sich damit angreifbar machte auch für das, was man so gern vox populi nennt, und was meist nur die organisierten Schmähschriften von Männern sind, die ein großes Interesse daran haben, den Ruf anständiger Menschen zu zerstören. Mit Unterstellungen, die man heute nur zu gut aus den social media kennt. Von Leuten, gern in Anspruch nehmen, sie seien das Volk, selbst wenn es nur um ganz persönliche Intrigen und Vorteile geht.

Wie manipulativ Friedrich August die öffentliche Stimmung bis heute beeinflusst, zeigt selbst so ein Abschnitt aus der Wikipedia: „Als Kurfürst von Sachsen folgte ihm sein Bruder Friedrich August I., der angesichts der negativen Stimmung in der Bevölkerung und mit Blick auf seine Finanzen dem Umfeld der Familie Neitschütz (rund 100 Personen) den Prozess machte. Unter Folter wurde Magdalena Sibyllas Mutter vorgeworfen, den Kurprinzen ‚behext‘ und auch das frühe Ende von dessen Vater herbeigeführt zu haben.“

Bei Formeln wie „negative Stimmung in der Bevölkerung“ sollte man sehr hellhörig werden. Erst recht, wenn man nur über wenige Dokumente verfügt, deren Parteilichkeit nicht zu übersehen ist. „Die Bevölkerung“ ist immer eine feine Ausrede, wenn jemand seine politischen Intrigen bemänteln will und gleichzeitig genau weiß, wie leicht sich mit Volkes Stimmung auch die höchsten Würdenträger in Unruhe versetzen lassen.

Vielleicht wurde Johann Georg tatsächlich das Opfer eines neidischen Bruders, der sich schon immer für den besseren Kurfürsten hielt. Beweisen lässt sich das nicht. Aber dass das Bild, welches die sächsische Geschichtsschreibung von Johann Georg gemalt hat, falsch ist, das belegt dieses Buch – sehr genau und sehr einfühlsam. Eine überfällige Rehabilitation.

Andrea Martin„Johann Georg IV.. Der Bruder Augusts des Starken“, Tauchaer Verlag, Leipzig 2023, 15 Euro.

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