Sie war nicht nur jahrzehntelang verkannt, wurde regelrecht verleumdet. Sie verschwand geradezu in einer Goethe-Rezeption, die von Männern dominiert wurde und Frauen nur zu gern zu schmückendem Beiwerk degradierte. Dabei spielte in den letzten Lebensjahren von Johann Wolfgang von Goethe keine Frau eine so zentrale Rolle wie Ottilie von Goethe, die Frau seines Sohnes August. Eine Schwiegertochter, wie sie sich Goethe nicht besser wünschen konnte.

Und zwar nicht, weil sie kochen konnte und den Haushalt machte. Das waren eben nicht ihre Aufgaben, als sie mit der Heirat von Goethes etwas steifem Sohn August 1817 in das Haus am Frauenplan einzog. Glücklich wurde ihre Ehe nicht. Für sie war es eher eine Zweckehe, um den ungeliebten Job als Hofdame am Weimarer Hof zu umschiffen. Die Männer, die sie wirklich liebte im Leben, bekam sie nicht. Die kniffen eher, egal ob der preußische Offizier Ferdinand Heinke oder all die Engländer von Charles Sterling bis Charles Des Voeux und Samuel Naylor.

Sie war eine Frau, die mit ihten Ansprüchen ans Leben 100 bs 150 Jahre zu früh lebte. 1982 schon hatte Ulrich Janetzki versucht, das alte, auch in Romanen und Novellen gepflegte Bild von Goethes Schwiegertochter zu korrigieren. Auf seine Arbeit stieß Francesca Fabbri, als sie für 2022 eine ganz besondere Ausstellung in der Klassik Stiftung in Weimar vorbereitete: „Mut zum Chaos. Ottilie von Goethe“.

Für diese Ausstellung hatte sie auch schon einmal das in der Klassikstiftung aufbewahrte Schriftgut der 1872 gestorbenen Ottilie von Goethe etwas genaue angeschaut – ihre Tagebücher zum Beispiel. Aber selbst die überlieferten Briefwechsel, Augenzeugenberichte und Goethes eigene Äußerungen erzählen eine andere Geschichte als die, die selbst in wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu Ottilie von Goethe lange Zeit behauptet wurde.

Die Angst der Männer vor klugen Frauen

Ein ganz klassischer Fall von Misogynie und patriarchalischen Vorurteilen gegenüber Frauen, insbesondere selbstbewussten Frauen, die ihre untergeordnete Rolle in den alten Familienmustern nicht zu akzeptieren bereit waren. Und das erstaunliche ist: Eigentlich wissen wir das längst. Es gab längst eindrucksvolle – vor allem literarische – Arbeiten zu Frauen wie Rahel Varnhagen und Bettina von Arnim, die schon lange vor Louise Otto Peters und ihren Mitstreiterinnen für das Selbstbestimmungsrecht der Frau stritten. Jede auf ihre Art. Und es überrascht nicht, dass diese beiden auch zum Bekanntenkreis von Ottilie von Goethe gehörten, die in den 15 Jahren, in denen sie praktisch die Hausherrin im Haus am Frauenplan war, auch die Empfänge im Haus organisierte und neben Goethe der Mittelpunkt jener intellektuellen Runden war, für die Goethes Haus im damaligen Weimar bekannt war.

Und ganz ähnlich lebendig muss später auch in Wien ihr dort gegründeter Salon gewesen sein, den Fabbri natürlich erwähnt, die in ihrem Nachwort zu diesem Buch überhaupt erst einmal skizziert, was zu Ottilie von Goethes Leben alles noch nicht erforscht ist. Aber selbst die Dokumente, die Ulrich Janetzki für dieses Buch zusammengestellt und in Lebensabschnitten geordnet hat, zeigen eine Frau, die so gar nichts mit den Zerrbildern etlicher Zeitgenossen, schlecht informierte Zeitungen und späterer Kolporteure zu tun hat. Auf einmal wird eine hochgebildete Frau sichtbar, die wissenschaftlich interessiert war und mehrere Sprachen fließend beherrschte – am liebsten aber das Englische sprach, was auch ihre unübersehbare Zuneigung zu England, Schottland und Irland deutlich macht.

Sie war weltgewandt, lebenslustig. Der biedere August von Goethe, der Zeit seines Lebens unfähig war, wirkliche Gefühle der Nähe zu zeigen, war ihr nie ebenbürtig. Und selbst Äußerungen von Ottilie selbst zeigen, dass die Person, die sie im Hause Goethe tatsächlich verehrte, der Hausherr selber war – ihr Schwiegervater, der mit ihr all die Gespräche führen konnte, die mit August nicht möglich waren. Und so war es auch Ottilie, die am Ende an Goethes Bett saß und ihm in seinen letzten Lebenstagen vorlas.

Alte Männersichten

Und sie las viel. Für eine Frau ihrer Epoche sowieso. Und zwar quer durch die europäische Literatur – die Bücher aus Frankreich oder England im Original. Auch Charles Dickens’ „Hard Times“, die er damals noch unter seinem Pseudonym Boz veröffentlichte. So dass sie immer auf dem Stand der Zeit war, was die europäische Literatur betraf – die deutsche sowieso. Etwas, was Goethe natürlich schätzte. Sie war für ihn die Tochter, die er niemals hatte. Und wahrscheinlich auch der Typus Frau, der ihn intellektuell tatsächlich beeindruckte. Und den er letztlich liebte. So, wie zu Goethes Zeit wohl nur wenige Männer Frauen liebten.

Denn gerade die üblen Nachreden und die Gerüchte, die selbst noch eine Annette von Droste-Hülshoff verbreitete, erzählen von einem gesellschaftlichen Dogma der Rolle der Frau, das bis heute in vielen konservativen Kreisen gepflegt wird – und kluge, gebildete und selbstbewusste Frauen immer wieder der Verleumdung aussetzt. Denn natürlich kratzt das an den uralten Vorstellungen von der Unterordnung der Frau. Und auch an der Erwartung, Frauen hätten sich unterwürfig zu zeigen, anzupassen und unterzuordnen und still dafür zu sorgen, dass der Mann sein behagliches Leben führen kann.

Dass gerade die Rolle als Gastgeberin im Haus am Frauenplan Ottilie Freiheiten gab, die sie in anderen Verhältnissen nie bekommen hätte, erklärt vielleicht auch, warum sie es so lange an der Seite des steifen Walter von Goethe aushielt, der 1830 schon starb, zwei Jahre vor seinem Vater.

Vernetztes Weimar

Und man darf all die sich widersprechenden Einschätzungen zu Ottilies Leben insbesondere nach Goethes Tod 1832 lesen, und man merkt, dass hier eine im Kern nach wie vor (oder wieder) stockkonservative Gesellschaft versuchte, dieses unabhängige Frauenleben zu diskreditieren. Am schlimmsten dabei die Literaturwissenschaftler selbst, die die Wahrnehmung von Ottilies Leben einfach mit dem Jahr 1832 kappten, ganz so, als wäre ihr Auftritt allein durch die Anwesenheit des Herrn von Goethe legitimiert. Und ansonsten hätte sie nichts vollbracht, nichts geschrieben, nichts bedeutet.

Das Grab der Familie von Goethe auf dem Historischen Friedhof in Weimar. Foto: Ralf Julke
Das Grab der Familie von Goethe auf dem Historischen Friedhof in Weimar. Foto: Ralf Julke

Eine wissenschaftliche Sauerei darf man das wohl nennen. Oder akademisches Machotum. Was eben auch die Tatsache betrifft, dass Ottilie zeitlebens auch jede Menge schrieb – angefangen mit der für ihre Zeit üblichen Briefkultur, die sie genauso intensiv pflegte wie Goethe selbst. Hätten sie damals nicht so viele Briefe geschrieben – auch innerhalb des kleinen Städtchens Weimar – wir wüssten viel weniger darüber, was all die Berühmten und nicht ganz so Berühmten tagtäglich trieben, mit wem sie alles vernetzt und befreundet waren, was sie sorgte, was sie träumten.

Weimar funktionierte bis zu Goethes Tod als Knotenpunkt des deutschen Geisteslebens, weil alles bei diesem wohl auch im Umgang liebenswürdigen Mann zusammenlief, alle mit ihm reden wollten, viele empfangen wurden und Teil haben wollten am Glanz und am Geist dieses Weltmenschen. Mit seinem Tod brach das ab. Und dieser fast spürbare Absturz Weimars in die Bedeutungslosigkeit wurde auch von Ottilie thematisiert.

Sollte der Weimarer Hof jetzt nicht wieder die jungen, spannenden Köpfe Deutschlands einladen, in Weimar heimisch zu werden? Die Grimms, Lenau, die Autoren des Jungen Deutschland?

Eine ganz besondere Schwiegertochter

Aber Kanzler von Müller hatte keine Lust. Und eine Anna Amalia, die einst die Klassiker in das kleine Herzogtum Sachsen-Weimar geholt hatte, gab es nicht mehr. Logisch, dass Ottilie sich ausgegrenzt und düpiert fühlte und lieber auf Reisen ging und sich lieber ein zweites Zuhause in Wien aufbaute. Erst kurz vor ihrem Tod kehrte sie wieder zurück und zog in eine Kammer unterm Dach am Frauenplan. Begraben ist sie in der Grabstelle der Familie Goethe auf dem Historischen Friedhof von Weimar. Nicht weit von der berühmten Fürstengruft, wo Goethe in seinem Sarkophag neben den Mitgliedern der herzoglichen Familie ruht.

Aber gerade diese überfällige Gesamtsicht auf Ottilie macht auch etwas deutlich, was selbst im Goethe-Kult selten benannt wird: Dass der so berühmte Dichter ja mit den Vorstellungen seiner Zeit über die standesgemäße Ehe ebenso haderte. Unter den adligen Hofdamen in Weimar fand er keine kongeniale Partnerin. Und die Frauen, die ihn intellektuell fesselten, waren alle schon verheiratet – auch wenn der Herr von Goethe zu Besuch immer gern gesehen war. Und die Frau, zu der er sich stets körperlich hingezogen fühlte, seine Christiane, heiratete er auch erst spät. Der Weimarer Hofklatsch hielt Christiane Vulpius schlicht nicht für standesgemäß.

Und dann kam diese Ottilie in sein Haus und bot ihm nun für die letzten Jahre eine intellektuelle Anregung, die ihn – so weit man den hier versammelten Äußerungen glauben kann – glücklich machte. Und emotional berührte, was spätestens deutlich wurde, als Ottilie einen schweren Reitunfall hatte, nach dem ihr Gesicht lange Zeit von Narben entstellt war. Das konnte der hypersensible Goethe genauso wenig vertragen wie den Tod seines Freundes Schiller oder den seiner Christiiane. Da flüchtete er lieber und wollte die entstellte Ottilie nicht sehen, bis sie wieder hergestellt war.

Frau im Chaos

Wie sehr Goethe sie auch intellektuell schätzte, zeigte seine Begeisterung für die von Ottiliue gegründete Zeitschrift „Chaos“, die auch der Ausstellung in Weimar 2022 den Titel gab. Auch wenn immer mehreres damit gemeint ist – auch das Chaos, das Ottilie selbst immer wieder anrichtete, weil sie sich in die Rollenbilder ihrer Zeit nicht einfügen wollte und wohl auch nicht konnte. Während praktisch alle ihre Liebhaber am Ende kniffen und sich verdünnisierten. Denn es sind zuallererst die Männer, die in Panik geraten, wenn Frauen wirklich einmal Leidenschaft und Radikalität verlangen. Sich also nicht als gut erzogenes Hausfrauchen duckten, sondern dieselbe Selbstverwirklichung im Anspruch nahmen wie die Herren.

Wobei gerade der lebenslange Briefwechsel mit Adele Schopenhauer auch deutlich macht, dass Ottilie mit diesem Anspruch in ihrer Zeit ganz und gar nicht allein war. Nur den öffentlichen Raum, in dem Frauen diese Ansprüche an ein selbstgestaltetes Leben anmelden konnten, gab es nicht. Und die Frauen, die es wagten, mussten mit Klatsch und Tratsch und übler Nachrede von beiden Geschlechtern rechnen. Man ahnt geradezu, wie fest verwurzelt diese alten patriarchalischen Rollenvorstellungen damals in den Köpfen auch der Bessergebildeten waren und welchen Zwang sie ausübten, wenn junge Frauen sich für einen Lebensweg entscheiden mussten. Und die Auswahl war nicht groß. Und fast jedes Mal wartete auf sie nur die – zurückgezogene – Rolle als Hausfrau.

Aber gerade Francesca Fabbris Nachwort macht deutlich, wie viel wir heute über Ottilies Leben und Denken noch gar nicht wissen, wie viel noch in den nicht aufgearbeiteten Tagebüchern und Briefen im Archiv der Klassikstiftung steckt. Und wie sehr ihre Rolle auch im Weimar der Goethe Zeit noch völlig unterbelichtet ist, verzerrt durch falsche Interpretationen und schlichtweg männliche Ignoranz, die über 100 Jahre die Frauen im Weimarer Kosmos pedantisch ignoriert hat. Etwas, was selbst lange Zeit für Anna Amalia galt, ohne die es das klassische Weimar nie gegeben hätte.

Der weibliche Teil des Weimarer Kosmos

Genau das macht diese reiche Auswahl jetzt deutlich, gerade weil sie mit Ottilie von Goethe eine Frau in den Fokus rückt, die scheinbar gar nicht in die klassische Interpretationsgeschichte der Weimarer Klassik passt, meist nur auf ihre unglückliche Ehe mit August von Goethe und ihre „Skandale“ reduziert wurde (die in dem kleinen Nest Weimar natürlich ausufernde Gerüchte blühen ließen). Aber selbst die eminente Rolle, die sie für den gealterten Herrn von Goethe spielte, wurde ausgeblendet. Nach bewährtem Muster. Denn so erging es dem ganzen weiblichen Teil des Weimarer Kosmos, der eigentlich erst noch zu rehabilitieren und zu entdecken ist. Gern mit Goetheschen Blick. Und gern auch mit Goethes lebenslangen Zwiespalt, der kluge und selbstbewusste Frauen liebte und bewunderte.

Den wichtigsten Satz schreibt Francesca Fabbri ganz am Ende ihres Nachworts: „Die Recherche kann eigentlich erst jetzt neu anfangen.“ Mit Betonung auf „neu“. Denn der Unfug, den Ottilies Biografen über 100 Jahre verzapft haben, muss ja erst einmal beiseite geräumt werden, damit eine ganz eigenständige und beeindruckende Frau sichtbar werden kann, die in ihrem Anspruch und ihrem Wirken in dieselbe Phalanx gehört wie Rahel Varnhagen und Bettina von Arnim.

Ulrich Janetzki (Hrsg.) „Ottilie von Goethe. Zeugnisse eines Lebens“, Sol et Chant, Letschin 2023, 32 Euro

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