Es gibt Leute, die immer nur da hinfahren, wohin ohnehin alle fahren. Und es gibt die wirklich Neugierigen, die die Kleinode suchen und besuchen, die es jenseits der üblichen Touristen-Hotspots zu finden gibt. Und es gibt sie. In Mitteldeutschland sogar zuhauf. Und natürlich auch in Thüringen, für das Karin Opitz schon 2008 ein paar reizvolle Empfehlungen gab. Die hat sie für den Tauchaer Verlag jetzt noch einmal aufgefrischt.

Und so ist weder die Erfurter Krämerbrücke drin, noch das klassische Weimar und auch nicht die überlaufene Wartburg. Goethe begegnet man trotzdem. Aber nur als Besucher – aber wo war er nicht zu Besuch? Mal bei Anna Amalia auf Schloss Tiefurth, mal bei Anna Dorothea von Kurland auf Schloss Löbichau, das Karin Opitz im Kapitel „Wo einst im Sommer die Musen zu Hause waren“ empfiehlt.

Nicht das einzige Schloss, das nicht an den üblichen Reiserouten liegt. Auch wenn es Anna Dorothea von Kurland vielleicht ein bisschen übertrieb, nachdem sie nicht mehr als Herzogin in Kurland residierte. „In Löbichau speiste man in großer Runde. An manchen Wochenenden kamen 300 Gäste zusammen …“ Da muss man schon Glück haben, neben den richtigen Tischnachbarn zu landen. Und heute? Heute beherbergt das wiederaufgebaute Schloss ei Seniorenheim. Und Löbichau ist eher weniger wegen des Schlosses bekannt, als wegen der Bundesgartenschau 2007, als man dort auf den Hinterlassenschaften von40 Jahren Uranbergbau ein „grünes Paradies zum Spazierengehen“ erschuf.

Unter Eichen sollst du ruhn …

Nicht der einzige Ort, dem der Bergbau seinen Zauber genommen hat. Dasselbe erlebt man im nächsten Kapitel. Da geht es nach Meuselwitz, gelegen am/im mitteldeutschen Braunkohlerevier. Und auch hier gab es ein Schloss, auf dem sich Könige wohlfühlten. Im Zweiten Weltkrieg wurde es durch alliierte Bombenangriffe stark beschädigt und später abgerissen. Zumindest die Orangerie ist wieder aufgebaut, der Barockgarten wieder erlebbar, der Grundriss des Schlosses sichtbar gemacht. Ein Ort also, an dem man ein verschwundenes Schloss begehen kann – und einen Braunkohlebergbau-Rundweg.

Bevor man sich aufmacht nach Nöbdenitz mit der berühmtesten und möglicherweise ältesten Eiche Mitteldeutschlands, in der sich einst Hans Wilhelm von Thümmel sein Grab einrichten ließ. Geschichte lauert an den kleinsten Orten. In Orlamünde zum Beispiel, wo man nicht nur der Weißen Frau (und einer alten Klostergeschichte) begegnet, sondern auch Prof. Karlstadt, mit bürgerlichem Namen Andreas Bodenstein, und einst Mitstreiter Martin Luthers, bis dieser Karlstadt Luthers Thesen zu radikal zu Ende dachte und sich Luther damit zum Feind machte.

Was ihn nicht nur Predigerstelle und Professur in Wittenberg kostete, sondern auch den Pfarrerposten in Orlamünde, nachdem Luther mit ihm jeden Disput verweigert hatte. Da konnte Luther genauso gnadenlos sein wie der Papst in Rom.

Ode wie wäre es mit einem Ausflug auf die Burg Posterstein, malerisch – wie gewohnt – auf einem Bergsporn gelegen. Obwohl Leipziger Vielleser wegen eines jungen Burschen dorthin pilgern, der hier 1913 bis 1915 die Landwirtschaft erlernte, nachdem er seine Gymnasialzeit in Leipzig abbrechen musste. Rudolf Ditzen hieß er und hatte – nach dem als Duell getarnten Doppelselbstmord 1912 – längst beschlossen, Schriftsteller zu werden. Heute ist er als Hans Fallada weltberühmt.

Von Tieren und Märchen

Und auch der Besuch in Renthendorf im nächsten Kapitel hat mit einem zu tun, der beste Beziehungen nach Leipzig hatte. Weil er hier seine Bücher veröffentlichte: Alfred Brehm. Genau dieser war Pfarrerssohn aus Renthendorf und wurde durch seinen vogelkundlich bewanderten Vater auf die Spur der Tiere gebracht. In Renthendorf ist das alte Pfarrhaus heute zur Erinnerungsstätte an beide geworden.

Da staunt der Wanderer und bewundert die „Ahörner“. Es lohnt sich in Thüringen tatsächlich, von ausgefahrenen Wegen abzukommen und abseits das Besondere zu entdecken. So wie in Ronneburg, wo es natürlich auch ein hübsch saniertes Schloss zu bewundern gibt (nebst den geheilten Wunden des Uranbergbaus, auch hier), wo besonders gern die Heerführer des Dreißigjährigen Krieges nächtigten, die Herren Wallenstein und Piccolomini. Man könnte an Schiller denken. Aber der wird hier gar nicht erwähnt.

In Saalfeld geht es noch tiefer in die Geschichte, in die Zeit, als König Heinrich I. seine Königshöfe und Pfalzen baute bzw. bauen ließ. Worauf dann möglicherweise die stattliche Burgruine „Hoher Schwarm“ bei Saalfeld hinweist. Wobei Karin Opitz durchaus anmerkt, dass es hier mit den Legenden tüchtig durcheinander geht. Einen der großen Legenden- und Märchenerzähler erwähnt sie später im Kapitel zu Kloster Veßra: Ludwig Bechstein. Er war der berühmteste Märchen- und Sagensammler aus Thüringen, geboren in Weimar, gestorben in Meiningen. Student in Leipzig, Zeitgenosse der Brüder Grimm und Autor des 1845 erschienenen „Deutschen Märchenbuchs“.

Dass er überhaupt losfuhr und anfing, Märchen und Sagen aus Thüringen zu sammeln, hatte mit dem frühen Tod seiner Frau zu tun. Eigentlich böte sich Thüringen geradezu an für eine zweite deutsche Märchenstraße: auf den Spuren Ludwig Bechsteins …

Als die Post noch Liedgut war

Und noch einen Burschen kennt jeder, der sich heute mit der unpersönlich gewordenen Post herumärgert. Dazu muss man nur nach Kranichfeld fahren, das nicht nur zwei Burgen auf einem Burgberg besitzt, sondern auch ein liebevoll restauriertes Fachwerkhaus, in dem „1840 in eine Arztfamilie Rudolf Baumbach“ geboren wurde. Noch so ein Leipzig-Student, der als Schriftsteller bekannt wurde. Aber wirklich berühmt ist bis heute sein Lied „Hoch auf dem Gelben Wagen“, geschrieben 1879. Da war die Zeit des Gelben Wagens schon lange vorbei. Aber die Kranichfelder haben das Geburtshaus des Dichters gerettet und zum Museum gemacht.

Einfach dem Namen nach, könnte man meinen. Aber so wird Reisen ja erst aufregend. Anders hat es auch Goethe nicht gemacht, obgleich er wusste, dass er die Namensträger antreffen würde, wenn er losritt. Unsereins muss mit den oft liebevoll sanierten Geburtshäusern, Burgen und Schlössern vorliebnehmen und sich vorstellen, wie es gewesen sein könnte. Manchmal hilft die emsig geflickte Kulisse, so wie in Windischleuba, wo man sogar übernachten kann im Schloss, das heute Jugendherberge ist, aber vor hundert Jahren einem berühmten Namensträger gehörte: Börries Freiherr von Münchhausen, zu seiner Zeit in dem Ruf, der beste deutsche Balladendichter seit Goethe gewesen zu sein, schreibt Karin Opitz.

Kennt einer noch irgendeine Ballade von ihm? So schnell, verfliegt zeitgenössischer Ruhm. Was weniger an den Dichtern liegt, die nur zu gern glauben, was die wohlwollende Kritik über ihren Genius behauptet. Es liegt an der Kritik, die nur zu gern neue Klassiker bekränzt, ohne Gespür dafür, was Literatur tatsächlich haltbar und klassisch macht. Hauptsache, es passt zur eigenen Vorstellung von haltbarer Wurst.

Die Freuden der Abwege

Jetzt wird es kulinarisch, oder? Natürlich nicht. Auch wenn so manche Burg mit einer guten Ritterstube aufwarten kann. Was man am Rande erwähnen darf. Denn nach dem Zwiegespräch mit Musen und Dichtern und den empfohlenen Spaziergängen auch durch die Täler zwischen den Burgen wird jeder hungrig.

„Heute stehen hier Gasthof und Pension“, merkt Karin Opitz zu einem Ort an, an dem 1912 beinah so etwas geglückt wäre, was heute als solidarische Landwirtschaft mit deutlich mehr Anlass ausprobiert wird. Nur war es damals ein hellsichtiger Mann namens Wilhelm Ostwald, Chemiker, Physiker, Nobelpreisträger, Professor in Leipzig, der überzeugt war davon, dass der moderne Mensch die „Verbindung zur Erde“ verloren hat und das wieder repariert werden muss.

Ein missbrauchbarer Gedanke, aber auch ein richtiger. Es ist selten so einfach mit den Dingen. Das musste auch Ostwald erfahren: Sein Experiment scheiterte, weil sich die Teilnehmer des Experiments mit dem Verwalter zerstritten. Oder auch mit Geld nicht umgehen konnten. Oder keinen Sinn für die harte bäuerliche Arbeit hatten.

Aber auch deshalb lohnt sich der Ausflug zur Amtsschreibermühle bei Eisenberg.

So, wie sich eigentlich jeder Abstecher lohnt, den Karin Opitz empfiehlt. Man erkennt sein übliches Thüringen nicht wieder. Dafür entdeckt man eines, das genauso anregend ist. Manchmal auch aufregend. Nicht alles ist fertige und zum Museum gewordene Geschichte. Und man lernt was dabei, kehrt also beschenkt zurück zum Zug. Und mit dem Gefühl, den Tag nicht verschwendet zu haben. Dafür lohnt sich das Neugierigsein.

Karin Opitz „Reizvolles in Thüringen“, 2., überarbeitete Auflage, Tauchaer Verlag, Leipzig 2022, 12 Euro.

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