Pfarrer müssen sich etwas einfallen lassen in diesen Zeiten, wenn sie ihre Gemeinde überhaupt noch erreichen wollen. Wenn sich die Gemeinde überhaupt noch in ihre Kirche verirrt. Dabei reden alle möglichen Leute ständig von „christlichen Werten“. Nur kommen diese Werte dann meist nicht mehr vor. Der Egoismus negiert sie einfach. Jeder ist sich selbst der Nächste. So wird regiert. So wird gewählt. Aber dabei steckt in diesem dicken Buch namens Bibel etwas völlig anderes. Und das hat nicht nur mit Glauben zu tun. Sondern mit Menschlichkeit. Zeit, das mal gereimt vorzutragen.

Vielleicht ein gutes Angebot für Pfarrer, die wieder Spaß mit ihrer Gemeinde haben wollen. Ans Werk gemacht hat sich Eberhard Grüneberg. Bis 2000 war er Pfarrer in Thüringen, danach leitete er die Diakonie in Thüringen und Mitteldeutschland. 2020 veröffentlichte er sein Buch „Zu Fuß zu Franziskus“.

Seine Wanderung Richtung Rom brachte ihn auch auf die Spuren Luthers. Und wahrscheinlich geht es heute wieder um das, was Luther damals vor 500 Jahren umtrieb: Wie muss man die heutige Kirche reformieren, damit sie für die Menschen wieder einen Sinn ergibt? Und welchen Sinn eigentlich? Worum geht es eigentlich die ganze Zeit? Und worum ging es auch vor 2.000 Jahren, als Jesus predigend durch Galiläa zog?

Vielleicht genau um das, was Eberhard Grüneberg durchblicken lässt, wenn er zehn wichtige Stellen aus der Bibel nicht nur zum Stoff seiner gereimten Predigten macht, sondern dabei auch ganz bewusst in den manchmal flapsigen Umgangston unserer Zeit verfällt.

Also auch da ein bisschen wie Luther: dem Volk aufs Maul geschaut. Was heute so abschätzig klingt. Man könnte auch sagen: Reden wie die ganz normalen Leute. Manchmal auch ein bisschen derb und deutlich. Es sind ja wirklich keine Zeiten, in denen noch weiter um den heißen Brei geredet werden kann, wenn die alten, auch vor 2.000 Jahren längst verdammten Todsünden gefeiert und zelebriert werden, als wären sie die edelsten Eigenschaften des Menschen.

Gier, Habsucht, Egoismus, Lüge, Verleumdung … das ganze Arsenal der menschlichen Verrohung, das in Gesetze gegossen wird und die Köpfe beherrscht.

Die Frage nach dem Nächsten

Dabei predigte dieser Jesus genau das Gegenteil. Deswegen sind so viele Gleichnisse aus dem Neuen Testament so verstörend. Sie stellen den selbstverständlichen Egoismus der Menschen, die sich nicht um Andere kümmern, infrage. Sie stellen Fragen nach Gerechtigkeit und Mitgefühl.

Und genau das tut eben auch Grüneberg, wenn er sich gleich zum Auftakt mit dem barmherzigen Samariter beschäftigt, dem Gleichnis, das so deutlich zur heutigen Migrationsdebatte in Deutschland kontrastiert.

Man kann sich Grüneberg dabei tatsächlich auf der Kanzel vorstellen, wie er der bedröppelten Gemeinde ins Gewissen donnert: „Die Frage nach dem Nächsten ist es, / die es zu stellen gilt …“

Und zwar immer wieder, konsequent. Daran misst sich unsere Menschlichkeit. Von Liebe nicht zu reden. Wir haben heute lauter ziemlich herzlose Parteien, die vom Gesetz dröhnen, wenn sie eigentlich meinen: Ausgrenzung, Abwertung, Abschottung, Abschiebung. Man könnte auch drastische Worte bei Luther finden für so ein herzloses Gerede.

Denn von Herz kann da keine Rede sein, von Liebe schon mal gar nicht. Dazu braucht man nämlich das weite Herz des Vaters aus dem Gleichnis um den verlorenen Sohn, dem Grüneberg ebenfalls eine gereimte Predigt widmet, genauso wie den Arbeitern im Weinberg und dem Spruch vom Salz der Erde. Ein Spruch, den Christen gern ganz allein auf sich beziehen. Der aber für alle gilt, die nicht aufhören, in dieser Welt und dieser Zeit Gutes zu tun. Und zwar bedingungslos.

Die Herzlosigkeit der Zeit

Natürlich sieht Grüneberg trotzdem gläubige Christen als wichtigste Zielgruppe seiner poetischen Predigten. Für sie sind Predigten wie die von den törichten Jungfrauen, die „Vom Weinstock und den Reben“ und „Vom Hausbau“ elementar.

Darin geht es eben auch um die Zuversicht im Glauben. Die man auch eine Zuversicht im Vertrauen auf Menschlichkeit nennen könnte. Es ist die Gläserne Wand, die die Kirche von der Wirklichkeit trennt. Denn mit dem Glauben haben viele Menschen heute so ihre Schwierigkeiten. Denn Menschlichkeit hat nun einmal nicht nur in der Kirche ihren Platz.

Ganz zu schweigen davon, dass „Die Kirche“ erstaunlich still geworden ist, obwohl die Menschlichkeit heute in vielerlei Hinsicht unter die Räder kommt. Vielleicht fehlt es wirklich an guten Predigern. Oder an Pfarrern, die begreifen, dass Kirche keine Rolle mehr spielt, wenn sie nicht wahrnehmbare Partei für das Menschlichsein ist.

Sodass ausgerechnet die Predigt „Der reiche Kornbauer“ die Zerwürfnisse der Gegenwart besonders scharf ins Licht rückt: „Denn Liebe kann man nicht durch Geld / und Diamanten finden. / Und niemand lässt sich lange Zeit / nur durch Geschenke binden. / Ein Mensch, der nur nach Äußerem / und der Fassade trachtet, / vergisst, warum der eine Mensch / den andern Menschen achtet.“

Manchmal ergeben sich Worte einfach so als Reim – und verraten doch eine Menge über uns und unsere mit Verachtung und Zwietracht gespickte Gegenwart. Denn: Wofür achten wir Menschen eigentlich? Jedenfalls nicht für ihre Berühmtheit, ihren Reichtum, ihre Cleverness oder ihre Deal-Macherei.

Das glauben diese Narzissten alle nur. Wirklich achten wir Menschen nur, wenn sie uns menschlich, herzlich und einfühlsam begegnen. „Der Mensch braucht einen innern Grund, / um wirklich Mensch zu sein!“

Und da kann man die Jesus-Szenen aus dem Neuen Testament als Gleichnis nehmen. Oder als Bild für eine hart und herzlos gewordene Gegenwart, in der die Schwachen mit Verachtung überschüttet werden und sich Helfende und Sorgende als „Gutmenschen“ beschimpfen lassen müssen.

Wir verehren Lumpen und Selbstgerechte, vergessen aber, dass die Dinge nur gut werden, wenn wir solidarisch sind. Gier und Geiz schaffen keine Solidarität. Aber sie werden in unserer Gesellschaft belohnt, weil sie Macht verschaffen. Das geht natürlich auf Dauer schief, denn es zerrüttet unsere Gesellschaft. Und zwar bis auf den Grund.

Gott gibt ihm seine Würde!

Weshalb Grüneberg in dieser zehnten Predigt auch daran erinnert, worum es beim Menschsein eigentlich geht: „Wer gütig ist und Mitleid hat, / und andre Menschen achtet, / wer seinen Nächsten respektiert / und nachsichtig betrachtet, / in allem, was die andern tun, / nicht nur die Fehler findet, / der legt ein Stück zum Fundament, / auf dem das Leben gründet.“

Das sind dann Strophen, die auch die Gemeinde einladen, sie sich einzuprägen, mitzunehmen aus der Predigt und ins Leben hinauszutragen. Und vor allem danach zu handeln. Auch wenn es einfacher scheint, herzlos an den Bedürftigen vorbeizugehen und das Lied der Verachtung mitzuträllern, weil das heute so selbstverständlich geworden zu sein scheint.

Auch von Leuten, mit dickem C im Parteinamen. Aber vielleicht sind die Kirchen auch deshalb so still. Sie müssten das C nämlich sonst einkassieren wegen Nichterfüllung.

Fast wünschte man sich noch eine Predigt über das Kamel und das Nadelöhr. Aber auch beim Kornbauern wird Grüneberg schon recht deutlich: „Für Gott zählt jeder Mensch für sich; / Gott gibt ihm seine Würde! / Ob er was leistet oder nicht, / ist dabei keine Hürde!“

Bei solchen Worten sieht man dann die Typen im maßgeschneiderten Anzug nicht gerade in der ersten Reihe sitzen. Oder sie säßen da mit versteinerten Gesichtern, weil ihnen dieser poetische Prediger eigentlich ins Gesicht sagt, dass sie versteinerte Herzen haben und niemals ins Himmelreich kommen. Das hat da und dort schöne Luthersche Deutlichkeit. Die fehlt heute viel zu oft, wenn es um den simplen Respekt vor dem geschundenen Menschen geht.

 

Eberhard Grüneberg Poetische Predigten Wartburg Verlag, Leipzig 2025, 12 Euro.

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