Die Frage hat sich Ruben Zimmermann nicht ausgedacht. Die haben drei Klimaaktivisten am 2. Juli 2024 mit einem riesigen Transparent ans Ulmer Münster gehängt. Eine Herausforderung. Nicht nur für eine konsumberauschte Gesellschaft, sondern auch für die Kirche. Für Pfarrer und Dekan sowieso, die sofort Strafanzeige gegen die drei Kletterer erstatteten. Und diese auch nicht zurückzogen. Höchste Zeit also, die Frage einmal gründlich auszudiskutieren.

Und das tut der Theologe und Mainzer Professor für Neues Testament Ruben Zimmermann in diesem Buch auch gründlich. Bibelbasiert, textstellensicher. Denn natürlich geht es nicht ernsthaft um die Frage, ob Jesus Klimaaktivist war. Das war ja nun einmal vor 2.000 Jahren wirklich noch kein Thema. Er hätte sich in seinen wildesten Träumen nicht träumen lassen, dass die Menschheit einmal die fossilen Bodenschätze verheizen würde auf Teufel komm raus. Ohne Rücksicht auf den Planeten und die Schöpfung.

Aber wie würde er heute handeln? Das ist ja die Frage, die dahinter steht. Und auf einmal wird das eine Frage an alle Gläubigen und Ungläubigen – und an das Personal der Kirche selbst, das in der Klimadebatte meistens sehr zurückhaltend agiert.

Oder eben wie der Dekan des Ulmer Münsters, der die Botschaft nicht begreift und die Strafanzeige aufrechterhält, wohl wissend, dass die konservativen Kräfte im Land schon seit Jahren immer stärkere Geschütze auffahren, um den Protest der Klimaaktivisten zu kriminalisieren. Bis zu Staatsanwälten und Unionspolitikern, die Gruppen wie die Letzte Generation gleich mal zu Terroristen erklären und mit der RAF vergleichen.

Umkehr und Buße

Die Botschaft ist wirklich noch nicht angekommen. Aber die Reaktionen in Ulm zeigen eben auch, wie auch Kirchenleute versuchen, diese höchst aktuelle Frage aus der Welt zu schaffen. Dann müssten sie nämlich ihre eigene Haltung zur Schöpfung überdenken. Oder mal wieder in der Bibel lesen – und zwar nicht nur die Stellen, mit denen sie ihre Sonntagspredigten gestalten.

Genau das tut Zimmermann, der die Bibel und insbesondere das Johannesevangelium daraufhin abklopft, welche Haltung Jesus eigentlich einnehmen würde. Und das hat natürlich eine Menge mit der Haltung zu tun, die er damals eingenommen hat. Als Prophet und Apokalyptiker. Das vergessen heutige Sonntagschristen auch nur zu gern, dass auch das Neue Testament von einer Endzeit erzählt und die Botschaft dieses rebellischen Propheten eine Mahnung zu Umkehr und Buße war.

Buße ist so ein richtig schönes altes Wort, das Luther noch gern verwendete, weil er wusste, dass seine Zuhörer damit noch etwas anfangen können. Denn darin geht es – wie meist falsch verstanden wird – nicht um Selbstkasteiung, sondern um Besserung und Umkehr. Auch im Umgang mit der lebenden Kreatur – womit in etlichen biblischen Szenen nicht nur die Tiere und Pflanzen, sondern auch die geschundenen Menschen gemeint sind.

Zimmermann erinnert die Leser an mehrere starke Gleichnisse, in denen die Vorstellungen Jesu von der lebendigen Schöpfung sichtbar werden. Eine Schöpfung, die er – anders, als es mehrheitlich kolportiert wird – nicht als abgeschlossen betrachtete, sondern als fortdauernden Prozess, in dem Gott immer gegenwärtig ist.

Was schon einmal die erste Folgerung sichtbar macht: Wer die lebendige Schöpfung zerstört, zerstört die Gegenwart Gottes. Das klingt ganz theologisch. Aber man merkt schnell, dass Ruben Zimmermann mit der Ignoranz kirchlicher Instanzen gegenüber Klimakrise und Artensterben deutlich ins Gericht geht.

Die erstaunliche Sprachlosigkeit der Kirche

„Die Frage ist deshalb so wirksam und teilweise so beschämend, weil sie nicht aus dem binnenkirchlichen Feld kommt, sondern von kirchlich und religiös nicht sozialisierten Menschen gestellt wurde. – Und gerade in ihrer elementaren Einfachheit trifft sie offensichtlich den Nerv, markiert sie ein Defizit und eine theologische Hilflosigkeit angesichts gegenwärtiger Herausforderungen. Sie macht die erstaunliche Sprachlosigkeit oder gar ‘Sprachunfähigkeit’ von Kirche und Theologie im Horizont der Klimakrise sichtbar.“

Und dabei müssten die Herren im Talar einfach nur die Bibel lesen. Und sich einlassen auf den Mann, der bewusst meist in Gleichnissen sprach und manchmal richtig wütend wurde, wenn er sah, wie mit Gottes Geschöpfen umgegangen wurde. Nicht ganz zufällig haben die Kletterer vom Ulmer Münster die Tempelszene mit auf ihr Transparent gemalt, in der Jesus nicht nur die Wechsler, sondern auch die Verkäufer von Opfertieren aus dem Tempel jagt.

Aber noch etwas entdeckt Zimmermann im Neuen Testament: Einen Jesus, der keine Angst davor hatte, den Leuten die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Und das oft mit derben Worten. Womit er ganz ähnlich deutlich handelt, wie es die jungen Klimaaktivisten heute tun.

Denn auch wenn Unionspolitiker behaupten, sie würden sich wie Terroristen benehmen, ist es etwas völlig anderes, was die lernunwilligen Politiker stört: Die jungen Leute haben recht. Sie sagen die Wahrheit. Sie können auf den jüngsten IPCC-Bericht genauso verweisen wie auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts von 2021 zur Klimapolitik der Bundesregierung.

Die Fakten liegen auf dem Tisch. Die Zahlen liegen auf dem Tisch. Und am menschengemachten Tempo des jetzigen Klimawandels haben die Forscher auch keine Zweifel mehr. Und der letzte IPCC-Bericht von 2023 wurde sehr deutlich bei der Beschreibung der katastrophalen Welt, auf die wir zusteuern, wenn wir nicht endlich etwas tun, um die Klimaerhitzung zu bremsen. Von stoppen gar nicht zu reden.

Nur haben etliche Kirchenleute den Begriff Apokalypse nicht verstanden, genauso wenig wie das Fortdauern der Schöpfung. Sie interpretieren das Wort als Weltuntergang und vermitteln Hilflosigkeit im Angesicht des scheinbar unausweichlichen. Als wäre die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen eine göttliche Fügung. Als könnten wir gar nichts tun.

Der (fehlende) Mut zur Wahrheit

Dabei erzählt das ganze Neue Testament von etwas anderem: von der Aufforderung zur Umkehr und Besserung. Und von der Achtung vor Gottes Kreaturen. Vielleicht verliert die Kirche genau deshalb ihre Mitglieder, weil ihre Vertreter nicht mehr die Wahrheit schonungslos aussprechen und schon gar nicht mehr zur Umkehr mahnen. Obwohl die „nüchterne Wahrheitsrede“ gerade gegenwärtig Thema im Diskurs um den Klimawandel ist. Wer die Wahrheit verdreht oder nicht hören will, handelt ganz bestimmt nicht in Sinne eines Jesus.

Aber Zimmermann bleibt nicht nur beim biblischen Jesus. Er ruft auch einen Zeitzeugen auf, der in finsteren Zeiten die Wahrheit aussprach und sich nicht einschüchtern ließ: Dietrich Bonhoeffer. Ihn zitiert er mit den Worten: „Es gibt Menschen, die es für unernst, Christen, die es für unfromm halten, auf eine bessere irdische Zukunft zu hoffen und sich auf sie vorzubereiten.

Sie glauben an das Chaos, die Unordnung, die Katastrophe (als den Sinn des gegenwärtigen Geschehens) und entziehen sich in Resignation oder frommer Weltflucht der Verantwortung für das Weiterleben, für den neuen Aufbau, für die kommenden Geschlechter.“

Das ist deutlich. Und macht im Grunde sichtbar, wie sich die Zeiten und menschliches Verhalten ähneln. Wie sich Menschen wegducken, wenn es ernst wird. Und den Mut zur Wahrheit nicht haben. Immer deutlicher wird, dass dieser Jesus (besonders der aus dem Johannesevangelium) wohl wirklich eher bei den Klimaprotesten mitgemacht hätte und nicht bei den windelweichen Ausreden der verantwortlichen Politiker.

Es geht um Haltung. Und – wie Zimmermann sehr ausführlich anhand konkreter Bibelstellen analysiert – um den Mut, die Wahrheit auszusprechen. Auch im Angesicht der Gefahr, dafür von den Mächtigen drangsaliert zu werden.

Die knappe Zeit

Aber an diesem Mut mangelt es ganz offensichtlich vielen Kirchenoberen, die sich eben nicht mutig an die Seite der Klimaaktivisten gestellt haben und die Politik zur Wahrheit gemahnt haben. „Mutige Wahrheitsrede“ ist ganz offensichtlich nicht ihr Ding. Stattdessen stimmten sogar diverse Kirchenobere ein in die Diffamierung der Klimaaktivisten – frisch mit den Gebrauchsformeln aus der „Bild“-Zeitung.

Hauptsache draufhauen. Ohne Blick dafür, dass man mal wieder auf Schwächeren herumtrampelte. In diesem Fall jungen Leuten, die berechtigterweise um eine lebenswerte Zukunft fürchten. Zimmermann: „Es hat wenig mit der prophetischen Wahrheitsrede im Stil der parrhesia Jesu zu tun, wenn Vertreter/-innen der Kirche und Theologie dem Mainstream der öffentlichen Meinung nachsprechen.“

Was man halt so Mainstream nennt. Oder eben einfach Wirklichkeitsverweigerung, Opportunismus, Feigheit. Der Jesus der Bibel hätte dafür wohl sehr drastische Worte gefunden. Aber der appellierte eben nicht (nur) an die Mächtigen, sondern an die einfachen Leute, die ihm zuhörten. Und die er zur Buße aufrief.

Zimmermann erklärt genau, was damit gemeint ist. Da geht es nicht nur um das Eingeständnis der eigenen Schuld, sondern vor allem darum zu erkennen, dass man selbst nicht machtlos ist, wie es einem andere Leute nur zu gern einreden wollen. Dass es in unserer eigenen Macht steht, uns zu bessern. Umzukehren auf dem falschen Weg. Und zwar jetzt.

Deshalb ist das Neue Testament so getränkt mit Endzeit-Stimmung, dem Gefühl, dass die Zeit knapp wird. Etwas, was erstaunlich unserer Gegenwart ähnelt, in der die Zeit, in der wir noch zum Guten handeln können, knapp wird. Immer knapper wird, weil die vergangenen 40 Jahre, in denen schon alle Fakten auf dem Tisch lagen, nicht genutzt wurden. Vertrödelt, aufgeschoben. „Der Garten lebt, aber die Zeit wird knapp“, hat Zimmermann dieses abschließende Kapitel überschrieben.

Wer pflegt den Garten Eden?

Zuvor geht er auf den Schöpfungsauftrag ein, den man insbesondere aus dem Johannesevangelium herauslesen kann. Und der eben auch die Menschen betrifft. Sie sind Teil der Schöpfung. Und sie sind von Gott beauftragt, die Schöpfung zu bewahren, den Garten Eden zu bestellen. Das Lebens- und Schöpfungskonzept im Neuen Testament ist komplex. Sicher herausfordernd. Aber mit einfachen Wahrheiten hat Jesus die (Un-)Gläubigen sowieso nicht behelligt. Die Gleichnisse erzählen im Gegenteil von den Herausforderungen einer ganz und gar nicht simplen Welt, in der Menschen sich bewähren müssen. Auf einmal taucht auch das Bild vom „guten Hirten“ auf. Das man wohl nicht nur auf Jesus allein münzen darf.

Denn was ist der Mensch für ein Wesen, wenn er nicht selbst zum guten Hirten wird und die Schöpfung bewahrt?

So merkt man nach und nach, wie christlich eigentlich die Mahnungen und Fragen der Klimaaktivisten sind. Wie sie eigentlich den Kern des christlichen Schöpfungsverständnisses treffen. Und so ist Zimmermanns Bilanz am Ende recht eindeutig: Dieser Jesus hat zu seiner Zeit gehandelt, wie wir heute auch handeln sollten, um die Schöpfung zu bewahren. „Jesus ist und bleibt in diesem Sinne ein Vorbild, das Menschen auch heute im Horizont der Klimakrise anspricht und zur Nachahmung, wenn nicht gar zur Nachfolge ermutigt.“

Ruben Zimmermann „Wäre Jesus Klimaaktivist?“ Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2025, 19,90 Euro.

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Jesus ein Aktivist? Eine absurde Vorstellung, lieber Autor! Und Edward Hawkins’ Streifenmuster hätte Jesus schreiend davonrennen lassen, weil er verstanden hätte, daß es das sinnlose Symbol von Distinktionsgewinnsuchern ist.

Eine interessante Nuance Ihres Textes fällt mir erst beim zweiten Lesen auf: Sie schreiben plötzlich vom “menschengemachten Tempo des jetzigen Klimawandels”, woran “die Forscher auch keine Zweifel mehr” hätten, Sie blicken also nunmehr auf den Gradienten. Kamen Ihnen Zweifel, was das Entstehen des Klimawandels gesamthaft angeht?

Ich möchte Ihnen abermals https://doi.org/10.3390/sci5030035 empfehlen, worin jedenfalls dem vielbesungenen Kohlendioxid keine kausale Wirkung auf die Temperaturerhöhung zugewiesen werden konnte, im Gegenteil aber der Temperaturerhöhung eine kausale Wirkung auf die atmosphärische Kohlendioxidkonzentration.

Von Kirchenoberen, -mittleren und -unteren, die anscheinend oft mit sich selbst befaßt sind, wollen wir zunächst einmal erhoffen, daß sie sich mit den Schwachen befassen und sich nicht nur an deren Seite stellen, sondern zu tatsächlicher Solidarität verhelfen, und das ginge eben nicht nur durch das Aussprechen von Sympathiebekundungen; Solidarisch sein heißt einspringen, etwas wieder solide machen, also eine Lücke auffüllen. Wo bitte füllt die Kirche Lücken?

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