Als Reiner Haseloff dieses Büchlein schrieb, war noch offen, ob er 2026 noch einmal antreten würde zur Wahl als Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt. Seit 2011 ist er das politische Gesicht dieses Bundeslandes. Und 2021 war es auch seine Person, die dafür sorgte, dass die CDU mit 37,1 Prozent wieder als stärkste Fraktion in den Landtag einzog. Eigentlich ein Musterbeispiel dafür, wie sehr sich Wählerinnen und Wähler nach Stabilität und Verlässlichkeit sehnen. Und wie sehr Politik vom Vertrauen lebt.

Doch inzwischen hat Reiner Haseloff seinen 70. Geburtstag hinter sich. Lange hat er trotzdem überlegt, ob er doch noch einmal antritt, weil auch die CDU in Sachsen-Anhalt davon ausgeht, dass ihr Wahlerfolg aufs engste mit der Person Haseloff verbunden ist. Doch am 7. August gab er offiziell bekannt, dass er nicht noch einmal antritt. 15 Jahre im Amt des Ministerpräsidenten sind genug.

Auch wenn er in diesem Buch auch über sein politisches Selbstverständnis spricht, die Politik in der Corona-Zeit, die Grenzen von Kompromissen und über ein Problem, das mittlerweile alle Länder des Westens heimsucht: „Frustriert von der Politik in Berlin, laufen die Menschen den Parteien der Mitte davon.“

Extreme Parteien gewinnen hinzu, gerade im Osten. Haseloff kommt sogar schon auf über 50 Prozent der Wähler, die extreme Parteien wählen. Da gehört dann nicht nur die AfD hinzu, die in den drei Landtagswahlen 2024 in Sachsen, Thüringen und Brandenburg schon regelrecht zur Macht drängte.

Die Kardinaltugenden

Und da schleicht sich das kleine Aber ein. Wer sind dann die anderen extremen Parteien, die er meint? Man merkt schon: Die Mitte ist ein problematisches Gebilde, auch wenn man die Werte, die Haseloff in seinem Büchlein ins Zentrum stellt, teilt und nur zu gut versteht: die Kardinaltugenden. Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und das rechte Maß.

Das sind die Kardinaltugenden, wie sie der christliche Philosoph Josef Pieper verstand, dessen Schriften den katholisch aufgewachsenen Reiner Haseloff auch schon der DDR prägten. Seinen Werdegang und seine christliche Prägung erläutert er im Buch recht ausführlich. Mit einem Fokus auf die Kirchen als Orte der Widerständigkeit.

Aber es gibt auch andere Definitionen von Kardinaltugenden von der Antike bis in die Aufklärung. Aber mit Haseloff taucht man ein in ein menschliches und politisches Selbstverständnis, das tatsächlich rar geworden ist in der Politik. Manche Seite liest sich wie eine Abrechnung auch mit den prägenden Gestalten in der heutigen CDU, die mit Tugenden wie Klugheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit ganz offensichtlich nichts am Hut haben.

Auch nie darüber nachgedacht haben dürften, weil solche Tugenden natürlich bei der Karriere stören. Und auch irgendwie nicht in eine Gesellschaft passen, in der der Ellbogen regiert und jeder nur noch sich selbst der Nächste ist.

Zu einem guten Ziel

So ein wenig schwingt natürlich mit, dass Haseloff von diesem rücksichtslosen Umgang in der Politik auch die Nase voll hat und sich das keine weiteren fünf Jahre antun will. Und wer eine Kostprobe davon haben möchte, wie man auch die politische Welt unter dem Aspekt der Tugend betrachten kann, der lese einfach im Kapitel Klugheit, wo Haseloff schreibt:

„Klugheit meint nicht etwa menschliche Schlauheit, die Probleme umschiffen lässt. Sie meint auch nicht Opportunismus, in dem sich jemand nach Nützlichkeitserwägungen und der Aussicht auf eigenen Vorteil einer schwierigen Lage flexibel anpasst. Klugheit ist vielmehr eine Eigenschaft, die den Menschen in den vielfältigen Situationen des Lebens vernünftig und verantwortungsbewusst steuert, damit er Mittel und Wege finden und beurteilen kann, die zu einem guten Ziel führen. Eine solche Klugheit benötigt der Mensch, um sich selbst zu leiten und um andere führen zu können.“

Solche Sätze gehören in unsere Lesebücher. Haseloff erläutert dann noch recht genau, wie das alles zusammenhängt – Klugheit, Gerechtigkeit und das richtige Maß.

Und wer unter Gerechtigkeit nachliest, merkt bald, wie weit entfernt unsere heutige Politik tatsächlich davon ist, Gerechtigkeit zu ermöglichen. So ganz beiläufig merkt Haseloff hier an, dass es darum geht, dass „der einzelne Mensch in seiner Würde und seinem Wert so anerkannt und unterstützt wird, dass er gut und in Frieden mit sich und den anderen leben kann“. Er hat zumindest so eine Ahnung, warum es in Ostdeutschland brodelt und warum die aggressive AfD hier so viele Wählerstimmen abgreifen kann.

Wann sind wir tapfer?

Seine Zeilen zur Tugend und Tapferkeit werden dann noch deutlicher. Hier geht er auch auf die heftigen Angriffe ein, die auch er als Politiker erlebt hat – bis hin zu den Aufmärschen der Rechtsextremen vor seinem Wohnhaus in Wittenberg.

Denn die Rechten hassen tapfere Politiker, das Gute sowieso. Das Gute verschwindet regelrecht, wenn die menschenfeindlichen Parolen der Rechten die Politik okkupieren. Wer sich ständig um wilde Kämpfe gegen Migranten und Ausländer kümmert, hat keine Zeit und keine Aufmerksamkeit für das Gute, das es eigentlich in der Politik umzusetzen gilt.

Oder mit Haseloffs Worten: „Engagement und insbesondere politisches Engagement wird erst dann tapfer, wenn es sich auf etwas Gutes, ein hohes Gut, das Gute bezieht.“

Dass man sich dann über das konkrete Gute streiten kann und sollte, ist ihm nur zu bewusst. Deshalb gibt es die Tugend Tapferkeit auch nicht ohne die Tugend Klugheit, nicht ohne das rechte Maß und nicht ohne Gerechtigkeit.

Was so entsteht, ist ein Kanon von Eigenschaften, die einem nicht unbedingt in die Wiege gelegt sind. Die man aber lernen und einüben kann. Auch, wenn man dabei Fehler macht. Irren ist menschlich. Aber wir lernen aus unseren Irrtümern – wenn wir wollen. Wenn wir eben nicht nur uns und unseren Vorteil sehen, sondern das Gute für alle. Auch für die armen Schweine ganz unten.

Man darf so manche Passage in Haseloffs Buch auch als zurückhaltende, aber deutliche Kritik auch an der eigenen Partei lesen, die die christlichen Tugenden nur zu gern vergisst, wenn es um die Macht geht. Und die auch die politischen Kontrahenten nur zu gern als Gegner oder sogar Feinde behandelt.

Obwohl man nicht nur in Magdeburg weiß, dass die „politische Mitte“ keine Überlebenschance hat, wenn sich deren Vertreter gegenseitig zerfleischen und letztlich einen politischen Stil pflegen, der mit Klugheit und Tapferkeit nichts zu tun hat.

Auch dazu die deutlichen Worte von Haseloff zum rechten Maß: „Schaut man sich in der politischen Landschaft um, so lassen wohl viele Entscheidungsträger gerade diese Tugend vermissen. Bei ihnen scheint es eher darum zu gehen, wer sich, notfalls mit Gewalt verbaler oder andere Natur, durchsetzen und sich selbst am besten darstellen kann.“

Weshalb für ihn das rechte Maß eben auch mit der Mäßigung zu tun hat, die so vielen Menschen heutzutage abhandengekommen zu sein scheint.

In unsicheren Zeiten

Nicht ganz zufällig spielt die Corona-Zeit eine Rolle auch in diesem Buch, eine Zeit, in der alle Menschen höchste Verunsicherung erlebt haben und Politiker oft Entscheidungen fällen mussten, ohne zu wissen, ob sie wirklich beim Eindämmen der Pandemie helfen oder mehr Schaden anrichten, als Nutzen zu stiften.

Eigentlich eine Zeit, in der Tugenden wie Mäßigung und Klugheit gefragt waren. Aber wir leben in einem Zeitalter entfesselter Medien, die längst schon systematisch missbraucht werden, um Misstrauen, Hass und Verschwörungstheorien zu verbreiten.

Und das nutzten in der Corona-Zeit ganz bewusst und systematisch die rechtsextremen Parteien. Und tun das bis heute. Ohne Mäßigung, ohne jeden Respekt für Sachverstand und wissenschaftliche Erkenntnisse.

Da kommt nämlich auch der Wissenschaftler Haseloff ins Spiel, studierter Physiker, der sich zu Recht fragt, wie Politiker ernsthaft und öffentlich wissenschaftlich gesicherte Argumente einfach wegdrücken, „um irrationale und ideologisch gesteuerte Leitlinien durchzusetzen“.

Man merkt an dieser Stelle, wie wissenschaftliches Denken direkt mit Klugheit und dem richtigen Maß einhergeht. Erst daraus können politisch verantwortungsvolle Entscheidungen abgeleitet werden. Im Grunde entwickelt Haseloff hier ein christlich geprägtes menschliches Maß, das in unserer heutigen Politik oft schmerzlich vermisst wird.

Der freie Blick in die Zukunft

Man kann das Buch auch als Appell an die Jüngeren lesen, sich wieder mit den christlichen Kardinaltugenden zu beschäftigen und wie sie das eigene politische Agieren leiten können.

Dass Haseloff die Kirchen heute als hörbare moralische Instanz vermisst, ist nachvollziehbar. Denn das wäre eigentlich ihre Rolle in einer Gesellschaft, in der die Aggressionen immer mehr die öffentliche Debatte bestimmen. Aber irgendwie sind beide großen Kirchen eher mit sich selbst und ihren Strukturdiskussionen beschäftigt.

Haben also irgendwie nicht die Zeit, christliche Tugenden in den politischen Debatten anzumahnen. Debatten, die sich oft nur noch darum drehen, wie schlecht und unfähig die jeweils anderen sind.

Statt das zu tun, wofür Politik eigentlich da ist, wie Haseloff schreibt: „Politik muss Verhältnisse und sogenannte Rahmenbedingungen schaffen und fördern, die den Menschen den freien Blick nach vorn, in die Zukunft ermöglichen. Die Menschen sollen die begründete Hoffnung haben, dass die Politik alles dafür tut, um ihnen Bedingungen zu schaffen, unter denen sie ihr Leben selbstbestimmt und nachhaltig gestalten können.“

Eigentlich ganz einfach.

Aber man ahnt die Verwerfungen, die entstehen, wenn diese Hoffnungen immer wieder aufs neue enttäuscht werden.

Reiner Haseloff Christliche Werte leben, Politik gestalten St. Benno Verlag, Leipzig 2025, 14,95 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar