„Habe beschlossen, in sechs Monaten ist Schluss. Die Details muss ich noch klären, aber das Ende eines Jahres hat mich eh nie interessiert, und man soll aufhören, wenn es am schönsten ist, und am schönsten ist es im Sommer.“ So beginnt die anonyme Erzählerin ihr Tagebuch. Es fängt also gar nicht gut an. Es hört auch nicht gut auf. Vielleicht einfach, weil sie den entscheidenden Brief nie bekommt. Manche Briefe werden zu spät geschrieben. Manche auch nie abgeschickt. Auch deswegen, weil Eltern nicht ahnen, was sie im Gemüt ihrer Kinder anrichten.
Ums Wetter geht es in Carolin Würfels Roman jedenfalls nicht. Bestenfalls beiläufig. Denn ihre Erzählerin hat sich ans Meer zurückgezogen, irgendwo im Süden, wo es schön warm ist. Weit weg „von den Verpflichtungen und Erwartungen, die sie viel zu lange bestimmt haben“. Erwartungen, die wir alle in uns tragen, weil wir sie mitbekommen haben von unseren Eltern. Oft genug unausgesprochen, mit Schweigen zugedeckt wie ihre eigenen Lebensgeschichten. Die Vergangenheit hat uns im Griff, ob wir es wollen oder nicht.
Nur: Was fangen wir damit an? Wie kommen wir da heraus? Oder laufen wir – wie die Erzählerin – einfach davon und hoffen, dass in den Wochen am Meer alles anders wird, sich der Knoten löst, der uns die Luft zum Atmen nimmt?
Drei Generationen
Die Erzählerin erlebt zwar ein wenig von dem, was sie sich gewünscht hat: eine große Liebe, neue, lebendige Bekanntschaften. Aber aus ihrer eigenen Geschichte gelingt es ihr nicht auszusteigen. Dazu ist die selbstgewählte Einsamkeit wohl doch nicht der richtige Weg. Ein Ausweg schon gar nicht. Weshalb nicht nur ihre Tagebuchnotizen durch die vierzig Wochen führen.
Denn um ihre Geschichte zu verstehen, muss man auch die Geschichte ihrer Mutter Romy kennen. Und die ihrer Großmutter Viola. Und die der versagenden und abwesenden Väter. Was sich anfangs nicht andeutet, wird im Lauf der Geschichte immer deutlicher: Es ist auch eine ostdeutsche Geschichte. Und eine vom Schweigen der Generationen. Von der Unfähigkeit, aus alten, unbewussten Mustern auszubrechen. Die alten Rollen funktionieren nicht mehr.
Und die Enkelinnen stehe vor dem Rätsel ihres Lebens und finden keinen Halt mehr, wie die Erzählerin selbst feststellt in einem ihrer Tagebucheinträge: „Am Strand sprachen Lara, Mavie und ich darüber, wie anders unsere Generation im Vergleich zu unseren Eltern lebt.
Wir sind in den Dreißigern; wir teilen unsere Wohnungen, reisen in verschiedene Länder, um unsere Freunde zu besuchen, wir beschäftigen uns mit Visa und Aufenthaltsgenehmigungen und erledigen unsere Arbeit mit Laptops und Smartphones – mal in Cafés, mal im Bett, mal im Büro. Wir haben kaum bis gar keine Ersparnisse; vielleicht werden wir nie ein Haus besitzen, und wir wissen nicht, ob wir Kinder wollen. Wir hinterfragen ständig die Liebe und können stundenlang darüber diskutieren, was eine gute, gesunde Beziehung ausmacht.“
Verhärtete Männer
Dass die Erzählerin da ein gewaltiges Problem hat, merkt man schon bei all den eingeklinkten Anmerkungen zu berühmten Schriftstellerinnen, die sich selbst getötet haben. Wer sammelt so etwas? Warum sammelt eine so etwas? Liegt es am zu vielen Grübeln? Oder einfach daran, dass die alten Rollenbilder nicht mehr funktionieren, mit der Frau, die sich stillschweigend um Mann, Kinder und Haushalt kümmert, nicht klagt, nicht widerspricht. Und dafür auf eine eigene, selbstständige Existenz verzichtet?
Was auch in der DDR passierte. Reichlich und systematisch. Gleichberechtigung auf dem Papier bedeutet nun einmal nicht, dass dadurch tatsächlich schon gleichberechtigte Partnerschaften entstehen. Schon gar nicht, wenn die Männer überhaupt nicht merken, dass sie sich endlich auch einmal bemühen müssten. Was ja bekanntlich die bekanntesten Autorinnen der DDR immer wieder kritisch, sensibel und genau thematisierten. Darüber schrieb Carolin Würfel ja in ihrem Buch „Drei Frauen träumten vom Sozialismus“.
Bei den Träumen blieb es bekanntlich. Inwendig blieb auch die DDR bis zuletzt ein patriarchalischer Staat. Mit überforderten Funktionären, die nie gelernt hatten, über Gefühle zu sprechen.
Und der Blick in die Familienerinnerungen zeigt, dass das auch im Osten zu Generationen schweigender oder vollkommen abwesender Väter führte, wie Carolin Würfel auch ihre Erzählerin feststellen lässt: „Ich lasse mich aus über Mütter und Großmütter und all ihre Unzulänglichkeiten, aber wo sind die Männer, die Väter, die Großväter? Ihre Stimmen, ihre Gedanken, ihre Wahrheiten? Ihr Teil des Spielfeldes bleibt gespenstisch still und leer. Sie haften für nichts. Wir haben sie entlassen, freigesprochen.“
Eine Stelle, an der eine Menge Kinder und Enkel schlucken dürften. Weil es bei genauem Erinnern genau so war. Und das hat Folgen. Generation um Generation. Wobei für die Erzählerin hinzukommt: Ihr Erzeuger Paul hat sich tatsächlich sofort verkrümelt, hat jeden Kontakt abgebrochen und ist geradezu im Nirwana verschwunden. Da bleibt nicht nur die Partnerin allein zurück, mit Fragen, die niemand beantwortet.
Abwesende Väter
„Wenn ich an meinen unbekannten, abwesenden Vater denke, dann denke ich an ihn in gewisser Weise wie an einen verlorenen Liebhaber. Verrückt, oder? Ich betrachte ihn nicht als jemanden, der sich der Verantwortung entzogen hat, der schwach, feige und egoistisch war. Ich hinterfrage sein Handeln nicht. Bei meiner Mutter tue ich das ständig.“
Da wundert man sich gar nicht mehr, dass sie sich von einem wunderbaren Liebhaber zu einer Zeit schönster Liebe verführen lässt, geliebt, wie sich frau das nur wünscht. Bis zu dem Moment, da der ganze schöne Schein (mal wieder) zerplatzt, weil der Liebhaber mit seinen eigenen Problemen nicht zurande kommt.
Männer, möchte man stöhnen. Wenn man denn nicht aus eigener Erfahrung wüsste, wie sich das vererbt. Und wie einen die schweigenden Väter ratlos zurücklassen, weil sie über das Eigentliche im Leben nie geredet haben. Vielleicht – so deutet es auch Carolin Würfel an – hat es mit den Traumata der Vergangenheit zu tun. Den beiden brutalen Weltkriegen, aus denen die Männer – hier also die Großväter – stumm und verschlossen zurückkehrten, weil sie über das erlebte Grauen und die eigene Enthemmung nie reden konnten. Stattdessen verpissten sie sich in die Männerrunden in der Kneipe, suchten im Alkohol was auch immer.
Und als es der Erzählerin mit ihrem eben noch so feurigen Liebhaber ebenfalls passiert, ist sie mehr als ernüchtert: „Seine Machtspiele langweilen mich. Sich nicht melden. Saufen. Schauen, wie weit man es treiben kann. Ich habe das gefühlt tausendmal gesehen, mitgemacht und miterlebt, gehört und mir vor langer Zeit geschworen: Mit mir nicht! Vielen Dank. Ich lasse mich nicht ausschließen und will auch nicht weiter zerren. Wir spielen dieses giftige Spiel nicht.“
Der ganze Schlamassel
Durch die Einblendungen aus dem Leben von Romy und Viola weiß man, wie alt diese Muster sind, dass sie in dieser Familie immer schon da waren. Manchmal gehorchten die Frauen – so wie Viola, die sich von dem am Ende nur von seiner eigenen Karriere besessenen Günther zur Hausfrau in seiner hässlichen Villa machen lässt. Fassade ist alles. Und spät erst begreift, dass sie damit auch das Vertrauen ihrer Tochter zerstört hat. Mit einem Brief versucht sie das spät, fast zu spät, irgendwie wieder zu kitten.
Und einen solchen Brief schreibt auch Romy an ihre Tochter. Möglicherweise wirklich zu spät, um das tragische Ende noch zu verhindern. Obwohl auch sie nun klarer sieht und Worte findet, die vorher nicht möglich waren, weil das in ihrer anerzogenen Selbstwahrnehmung gar nicht vorgesehen war. Ihr Vater interessierte sich nicht die Bohne für sie und ihre Träume, wollte nur das funktionierende Kind.
„Ich glaube, er hatte keinen Schimmer, wer ich bin. Den Gesprächen mit meiner Mutter bin ich immer ausgewichen und tue es bis heute. Ich weiß, sie bemüht sich, aber ich schaffe es nicht aus meiner Haut. Ich glaube, ich muss noch einmal neu lernen, was zuhören meint. Ich kann das gar nicht, fiel mir neulich auf. Nur hören, was die andere Person sagt, nicht den eigenen Kram mit reinholen, alles einordnen und bewerten wollen, alles gleich in eine Schublade stecken.“
Der Brief ist ein einziger Appell an die Tochter, sich nicht zu entziehen, sie nicht „in dem ganzen Schlamassel im Stich“ zu lassen. Denn darum geht es ja eigentlich im Leben: Dass wir uns in dem Schlamassel nicht im Stich lassen. Aber dazu müssen wir zuhören lernen, vielleicht überhaupt: da sein. Und deshalb ist das eben nicht nur ein Buch über drei Generationen von Frauen und eben die Enkelin, die sich in dem allen heillos verloren fühlt. Sondern eben auch über die abwesenden Männer.
Männer, die sich verschließen, schweigen, in Rollen verstecken. Und so gern versagen, wenn der Rausch der ersten Liebe verflogen ist und es wirklich darum geht, Vertrauen aufzubauen für eine Partnerschaft, die diese Bezeichnung verdient.
Die ratlosen Enkel
Carolin Würfel zeigt hier im Grunde, wie ratlos diese Abwesenheit der Männer eben auch die scheinbar so lebenslustigen und starken Töchter macht. Und eben auch ihren Teil daran hat, wenn die heute Jungen so verbissen danach fragen, was eigentlich Liebe ist. Und wie man sie bekommt. Und warum Partnerschaften nicht das sind, was sie sich erhofft haben. Oder erwartet.
Denn die Erwartungen bringen wir alle aus unseren Kindheiten mit. Sie bilden sogar oft genug die Muster, mit denen die Kinder selbst scheitern. Weil sie sich die falschen Partner suchen und in alte Muster geraten. Nur um dann – wie die Erzählerin – nur allzu bald festzustellen: Ich will das alles nicht mehr.
Womit wir in der Gegenwart sind, mit ihren vielen, längst zur Werbung geratenen falschen männlichen Rollenmustern. Und bei lauter selbstbewussten jungen Frauen, die sich bei alledem natürlich fragen, warum sie noch Kinder bekommen sollen. Wofür eigentlich?
Eine berechtigte Frage an eine von sich selbst besoffene Männerwelt, die sich auch nach über 100 Jahren Emanzipation nicht fragt, welchen Anteil ihre eigenen falschen Helden- und Liebhaberbilder an dem ganzen Schlamassel haben.
Carolin Würfel „Zuhause ist das Wetter unzuverlässig“ Hanser Berlin, Berlin 2025, 23 Euro.
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