Es war das 27. Delitzscher Gespräch, das am 3. Mai 2024 im „Weißen Ross“ in Delitzsch stattfand und zu dem die Hermann-Schulze-Delitzsch-Gesellschaft eingeladen hatte. Irgendwie ging es um Start-ups. Und irgendwie auch wieder nicht, auch wenn sich die Rechtswissenschaftlerin Waltraud Schneider in ihrem Vortrag ganz besonders mit Start-ups beschäftigt hat. Und mit der Frage, ob sich die Genossenschaftsform nicht besonders für Start-ups eignen würde. Es steht so nicht da, aber die Antwort lautet wohl eher: Nein.

Tut sie nicht. Was nichts an den Vorteilen einer Genossenschaft für Gründungen ändert. Doch Start-ups sind nun einmal per definitionem keine Unternehmensgründungen, für die sich das Genossenschaftsmodell wirklich eignet. Denn sie sind auf Risikokapital hin angelegt, gehen mit einer völlig neuen Idee an den Markt, in der möglicherweise jede Menge Potenzial steckt.

Aber diese Idee zielt in der Regel nicht auf den regionalen Markt, sondern auf internationale Anleger, die in der Idee ein Riesenpotenzial sehen, ihr Geld in das frisch gegründete Unternehmen stecken und binnen sehr kurzer Zeit erwarten, dass die Idee sich durchsetzt und der Wert des investierten Kapitals sich vervielfacht.

Das schaffen nur die allerwenigsten Start-ups – 10 bis 20 Prozent. Der Rest geht binnen dreier Jahre wieder ein, das Risikokapital wir abgezogen oder ist in einem Strohfeuer verbrannt. Und ganze Reihen von Politikern haben sich blamiert, weil sie meinten, mit strahlendem Antlitz auf der Start-up-Welle mitreiten zu können.

Und dazu kommt eben auch noch, dass die meisten Start-ups, die den Sprung schaffen und binnen kürzester Zeit zu Millionenunternehmen werden, abwandern. Dorthin nämlich, woher das Risikokapital kam. Nichts an ihnen ist nachhaltig. Sie widersprechen geradezu der Idee eine Genossenschaft, wie sie Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen vor über 150 Jahren entwickelt haben.

Und damals eben auch nicht für clevere Unternehmensgründer, sondern zur Linderung von Armut und Arbeitslosigkeit. Denn genau das ist die Idee hinter einer Genossenschaft: Ihre Mitglieder zu befähigen, wieder auf die Beine zu kommen und all die Dinge, die zur Gestaltung eines vollwertigen Lebens gebraucht werden, gemeinsam zu erschaffen – und zu bewahren.

Neugründungen müssen kein Start-up sein

Genossenschaften zielen also nicht auf Risiko-Kapitalanleger, sondern auf die Leute aus der Nachbarschaft, auf all jene, die einen dringenden Bedarf sehen und bereit sind, ihr Geld zu investieren, um den Bedarf direkt in ihrer Stadt, ihrem Dorf, ihrer Region zu erfüllen. Weshalb die frühesten Genossenschaften sich eben um bezahlbaren Wohnraum und eine bezahlbare Nahversorgung mit Lebensmitteln kümmerten.

Es überrascht also auch nicht, dass sich der Großteil der Vorträge, die am 3. Mai 2024 in Delitzsch gehalten wurden, tatsächlich um die Frage drehten, wann die Form einer Genossenschaft wirklich sinnvoll ist bei Neugründungen.

Denn nicht alle Neugründungen sind Start-ups, auch wenn Politiker immer wieder davon reden und die Start-up-Szene hochjubeln, als würde das Land nur dadurch prosperieren. Tut es aber nicht. Nicht nur. Denn genauso wichtig – und für eine stabile Grundversorgung in jeder Region – sind Unternehmen, sie sich um die ganz alltäglichen Bedürfnisse der Menschen kümmern. Und zwar nicht vom Profit getrieben, oder von kurzfristigen Anlegerinteressen. Denn genau die Dinge, die Menschen für ihren Alltag brauchen, gehören nicht in die Hände von Spekulanten. Das darf man zwischen den Zeilen lesen.

Das wird aber auch deutlicher, wenn Marcus Lasch über die Genossenschaftsgründungen der letzten Jahre redet. Dann steht zwar Start-up im Titel seines Vortrags, aber keine der neu gegründeten Genossenschaften hat irgendetwas mit Risikokapital zu tun. Kann es auch gar nicht, weil das Konstrukt von Genossenschaften so etwas gerade verhindern will. Ganz bewusst.

Denn Schulze-Delitzsch und Raiffeisen erlebten ja selbst genau so eine Zeit des völlig entfesselten Kapitals mit, wie wir es heute tun. Mit ganz ähnlichen Effekten. Denn wenn es beim Geldanlegen nur noch um Profitraten geht, dann bleiben die Menschen und ihre Existenzgrundlagen auf der Strecke. Dann wuchern Arbeitslosigkeit, Armut, Wohnungslosigkeit. Na hoppla: Alles Themen, die jetzt wieder aktuell werden, nachdem eine Politikergeneration nach der anderen den entfesselten Markt gefeiert hat.

Es geht ums Gemeinwohl, nicht den Profit

Lasch sprach für den Genoverband, der sich in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen um die Gründungen von Genossenschaften kümmert und diese auch begleitet. Denn Genossenschaften sind auf das Gemeinwohl hin angelegt, sollten deshalb dauerhaft stabil sein, keine Risiken eingehen und tief in ihrer Region verankert sein. Weshalb schon der Start so einer Genossenschaft eine breite Basis braucht, Menschen, die bereit sind, sich einzubringen, in Vorstand und Geschäftsführung aktiv zu werden und der Sache langfristig zum Erfolg zu verhelfen. Was wiederum die Verankerung in der Region braucht, das Mitmachen aller Bürger, die einerseits die Ergebnisse der Genossenschaftsarbeit brauchen, andererseits mit ihren Anteilseignerbeiträgen dafür sorgen, dass die Sache sich trägt.

Und so überrascht es auch nicht, dass alle Genossenschafts-Neugründungen in Mitteldeutschland etwas mit der Versorgung mit dem Notwendigen zu tun haben, das der Mensch wirklich braucht. Allen voran natürlich die Energiegenossenschaften, die in ihrer Region die Energiewende vorantreiben und ihre Mitglieder daran teilhaben lassen. Gefolgt von Genossenschaften, die sich um Dienstleistungen, Mobilität und Pflege kümmern, und solche, die sich um Versorgung und Infrastruktur kümmern.

Man merkt schon bei der Aufzählung, dass es jedes Mal Gemeinschaften sind, die sich in ihrem Umfeld darum kümmern, dass für alle wichtige Dinge funktionieren. Oft füllen sie mit ihrem Engagement genau die Lücken, die der gelobte Markt schon lange nicht mehr füllt – vom gemeinschaftlich betriebenen Dorfladen bis zum Vertrieb landwirtschaftlicher Produkte.

Man merkt ebenfalls: Das alles hat mit der Start-up-Idee nichts zu tun. Sondern mit dem Lebensnotwendigsten. Weshalb das deutsche Genossenschaftsrecht auch klare Vorgaben macht, wie das Statut einer Genossenschaft auszusehen hat. Wie man eine gründet, das schildert in seinem Vortrag Stefan Hoffmann. Das ist am Anfang natürlich sehr aufwendig.

Aber wenn man den ganzen amtlichen Prozess bis zur ersten Mitgliederversammlung, der Wahl des Vorstands, der notariellen Eintragung usw. durchlaufen hat, dann hat man das Schwierigste geschafft. Und vor allem hat man dann auch schon die wirklich Interessierten versammelt, die das Ganze am Ende tragen werden und selbst zu Werbeträgern werden. D

enn anders als Start-ups leben Genossenschaften von ihrer tiefen Verankerung in der Gesellschaft. Und davon, dass niemand darin auf schnelles Wachstum drängt und hektische Anleger befriedigen muss.

Wenn es wirklich um Nachhaltigkeit geht

Und so geriet das Delitzscher Gespräch eigentlich zu einer ziemlich deutlichen Absage an die Idee der Start-ups. Und zu einer recht klaren Befürwortung von neu zu gründenden Genossenschaften. Zu der es nun einmal keine disruptive Idee braucht, die den Markt neu aufmischt. Sondern letztlich nur das Wissen um klare Versorgungslücken, für die sich profitgetriebene Unternehmen einfach nicht (mehr) interessieren.

Fast hätte man auch noch den Beitrag eines profunden Politikwissenschaftlers erwartet, der die Flausen und Narreteien der hohen Politik einmal auf ihre Sinnhaftigkeit für die nachhaltige Versorgung des Gemeinwesens hin untersucht. Das Wort Nachhaltigkeit ist nämlich zwar in aller Munde. Aber eine echte Vorstellung, was damit eigentlich gemeint ist, scheinen die diversen Politiker des entfesselten Marktes nicht zu haben

. Sonst würden sie sich ganz anders um jene wirklich nachhaltigen Wirtschaftsstrukturen kümmern, in denen vor allem Genossenschaften unterwegs sind. Strukturen, die nicht auf Quartalsberichte hin angelegt sind, sondern auf ein dauerhaftes Engagement in der Dimension von Generationen.

Genossenschaften sind auf den langen Atem hin angelegt. In den Vorträgen wurden noch weitere Charakteristika geschildert. Aber das hier sind die wesentlichen. Und da einige Redner/-innen auch selbst Genossenschaften auf den Weg gebracht haben, können sie auch davon erzählen, wie sich ein völlig anderes Binnenklima entwickelt, wenn die Mitglieder einer Genossenschaft alle selbst am Erfolg des gemeinsamen Projekts interessiert sind.

Wenn es ohne die Bürger nicht mehr geht

Zur Tagung entstand auch eine Ausstellung, die im Genossenschaftsmuseum in Delitzsch gezeigt wird. Im Buch findet man die Tafeln im Anhang. Das Ganze findet man auch als PDF auf der Seite des Genossenschaftsmuseums. Anregendes Material für alle, die in ihrer Umgebung merken, dass wichtige Versorgungsstrukturen einfach nicht (mehr) funktionieren und jetzt das Engagement der Bürger gefragt ist, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

Was dann auch den Aspekt der Unabhängigkeit mit sich bringt: Man muss nicht mehr darauf warten, das irgendein Konzern so gnädig ist, das Loch wieder zu stopfen. Man übernimmt die Sache selbst, lernt dabei, wie man ein Unternehmen gründet und schafft ein neues Netzwerk, in dem die Bürger mitmachen können und auch wieder das Gefühl bekommen, dass sie selbst etwas tun und sich einbringen können.

Ein Gefühl, das auch in vielen sächsischen Regionen längst verloren ist – verbunden mit einem wachsenden Frust, der aus schierer Hilflosigkeit kommt.

Die Idee, das Verlorene dann mit einer Genossenschaftsgründung selbst wieder zurückzuholen, liegt eigentlich auf der Hand. Genauso wie die Idee, neu aufklaffende Bedürfnisse mit einem Gemeinschaftsprojekt abzudecken. Und damit das lähmende Gefühl zu verlieren, dass „die da oben“ sich nicht (mehr) um einen kümmern. So gesehen ist der kleine Tagungsband auch eine Ermutigung für alle, die das Gefühl haben, es müsste etwas getan werden, nur dass sie nicht wissen, wie.

Aber um eins kommen alle nicht herum: Die eigene kleine Blase zu verlassen und sich Mitstreiter zu suchen in der nächsten Umgebung, an Türen zu klingeln und dabei vielleicht sogar auf Leute zu treffen, die sich freuen, weil sie die ganze Zeit auf so eine Idee gewartet haben.

Dass Genossenschaften auch noch robuster gegen Krisen sind und ihre wirtschaftliche Basis in einer überschaubaren Region haben, kommt noch hinzu. Denn eins war Schulze-Delitzsch und Raiffeisen von Anfang an besonders wichtig: die Stabilität der gegründeten Genossenschaft. Auch als gutes Gegenbeispiel für eine von Krisen geschüttelte Wirtschaftswelt, in der hektische Anleger den Takt vorgeben. Und regelmäßig durch ihre hektische Betriebsamkeit Krisen auslösen, die ganze Staaten erschüttern.

Thomas Keiderling (Hrsg.) „Mehr Start-ups! Was spricht für die Neugründung einer Genossenschaft?“, Deutsche Hermann-Schulze-Delitzsch-Gesellschaft, Delitzsch 2025.

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