Die Wälder. Das klingt groß. Das klingt nach Romanen von Ursula K. LeGuin. Das klingt, als wären wir mit ihnen noch reich beschenkt. Doch unsere Wälder leiden. Oft sind sie nur noch der Schatten ihrer selbst. Kein Vergleich mehr mit Zeiten, als Europa tatsächlich noch mit stattlichen, dichten Wäldern bedeckt war. Auch daran erinnert dieses tatsächlich gewichtige Buch, das schon in seiner Einbandgestaltung an die Faszination des Holzes erinnert. Aber es hat auch nicht grundlos diese Größe.

Denn tatsächlich lebt es von den Fotografien, die Kilian Schönberger auf jahrelangen Streifzügen durch die Wälder Europas angefertigt hat. Er hat sich regelrecht auf das Genre Waldfotografie spezialisiert, hat ein Gespür dafür entwickelt, wann sich die Wälder in welchem Licht besonders eindrucksvoll in Szene setzen.

Märchenhaft, möchte man sagen. Weil es sehr schnell eben auch an alte Vorstellungen von richtigen Märchenwäldern erinnert. Die es aber nur noch in wenigen, besonders geschützten Waldregionen gibt. Dort, wo der Mensch nicht immerfort aufräumt und Forste bewirtschaftet, sondern die Natur sich ungestört entwickeln lässt. So entstehen Wälder mit wirklich alten, vielfältigen Strukturen.

Anfangs wünscht man sich, das ganze Buch wäre nur mit Schönbergers faszinierenden Waldaufnahmen gefüllt. Aber das Anliegen ist ein klein wenig anders. Und es ist nicht nur berechtigt, es ist dringend und heutig. Denn der jahrhundertelange Raubbau an unseren Wäldern und ihre flächenmäßige Verwandlung in labile Forstkulturen hat unser Bild vom Wald nicht nur verschoben – es macht uns auch blind für den Reichtum des Lebens in den Wäldern, ihre komplexen Zusammenhänge und ihre unersetzlichen Funktionen für unser Überleben.

Wenn Wälder verschwinden

Ohne Wälder können wir einpacken. Dann war es das. Und dabei geht es nicht nur um die große Rolle der Wälder als Sauerstoffproduzenten und CO₂-Speicher. Die natürlich auch in diesem Buch erwähnt werden. In großen, informativen Kapiteln erzählen Pia Franziska Kraus und Doris Iding das Wesentliche, was man zu Wäldern wissen sollte. Fast alles. Von der Entstehungsgeschichte der europäischen Wälder bis zur beginnenden Nutzungsgeschichte durch den Menschen.

Was sich in den vergangenen 11.000 Jahren sowieso nicht voneinander trennen lässt. Im Wald fanden Generationen von Menschen ihre Nahrung, aber auch fast alle Werkstoffe, mit denen sie sich nach und nach eine Kultur erschufen, die sich im Lauf der Geschichte immer mehr vom Wald entfernte. Und die den Wald irgendwann nur noch zur Rohstoffquelle degradierte.

Mit fatalen Folgen, die Landschaften und Klima schon in der Frühzeit veränderten. Noch nicht global, weil vor der Kolonisation der südlichen Kontinente durch die Europäer stabile, riesige Regenwälder dafür sorgten, dass auch das Klima über Jahrtausende stabil blieb. Aber Mythen, Sagen und Legenden gerade aus dem Zweistromland, aus Griechenland und dem alten Rom erzählen nun einmal auch davon, dass auch das einmal waldreiche Regionen waren. Die alten Götter waren in Wäldern und Bergen beheimatet, waren sogar oft genug typische Waldgötter.

Nur bekommt man das nicht mehr auf eine Ebene mit dem heutigen Anblick dieser Regionen. Denn schon in der Antike betrieb der Mensch massiven Raubbau an den Wäldern, holzte sie ab, um daraus Schiffe zu bauen oder sie in der Metallverhüttung zu verfeuern. Mit dramatischen Folgen: Die einst waldreichen Landschaften verkarsteten oder verwandelten sich – wie an Euphrat und Tigris – gar in Wüsten.

Und nicht viel besser gingen die Mitteleuropäer mit ihren Wäldern um. Verheizten sie geradezu, sodass schon im Spätmittelalter ganze Bergzüge kahlgeschlagen waren. Ein Phänomen, das gerade in der frühen Neuzeit prekär wurde, als die Metallverhüttung Berge von Holz(kohle) verschlang.

Forste sind keine Wälder

Ein Zustand, der dann durch Leute wie Hans Carl von Carlowitz, Berghauptmann in Sachsen, zwar ein Ende fand, der mit dem Begriff Nachhaltigkeit einen anderen Umgang mit den Wäldern definierte: Es solle nur noch so viel Holz eingeschlagen werden, wie im Wald nachwachsen könne. Eine rein ökonomische Definition, die nicht darüber hinwegtäuscht, dass dieser Begriff der Nachhaltigkeit heute nicht mehr genügt. Denn letztlich ist und bleibt es ein forstwirtschaftlicher Begriff.

Und es bleibt eine Herangehensweise, die dazu führte, dass die deutschen Mittelgebirge mit schnell wachsenden Monokulturen vor allem aus Nadelbäumen bepflanzt wurden – artenarm und leicht anfällig für Dürre und Käferbefall. Genau das, was wir heute erleben. Es sind „nachhaltige“ Forstkulturen, die da binnen weniger Jahre zu kahlen Hängen wurden, keine lebendigen Wälder.

Man sollte also nicht unbedingt die falschen Heiligen anbeten. Auch das thematisiert dieses Buch, das nach einem ausführlichen geschichtlichen Exkurs und nach dem notwendigen Kapitel zum Waldsterben auf die Kreisläufe des Lebens im Wald eingeht, die in den letzten Jahrzehnten sehr eingehend untersucht wurden. Der landbekannte Förster Peter Wohlleben hat es in seinem 2015 erschienenen Buch „Das geheime Leben der Bäume: Was sie fühlen, wie sie kommunizieren“ vielleicht ein bisschen zu sehr zugespitzt.

Aber dass „der Wald“ über die gewaltigen Pilzgeflechte im Untergrund auch kommuniziert, das ist inzwischen wissenschaftlich bestens untersucht. Wer in einen richtigen Wald kommt, betritt im Grunde ein gewaltiges organisches Gebilde, in dem alle Teilnehmer aufeinander angewiesen sind, eingesponnen in Nahrungskreisläufe, angewiesen aufeinander, oft so spezialisiert, dass das Verschwinden einer einzelnen Pflanzenart oft eine Kette weiterer Verluste nach sich zieht.

Die Texte führen die Leser ein in das moderne Wissen vom lebendigen Organismus Wald – und auch die gesundheitlichen Wirkungen des Waldes für den Menschen lassen die Autorinnen nicht aus. Und da geht es nicht nur um den aus Japan stammenden Trend des Waldbadens. Da geht es um die belebende, sauerstoffreiche Luft des Waldes, die Abwesenheit von Staub und Lärm.

Was im Grunde jeder weiß, der sich einfach mal auf die Socken macht und in den nächstgelegenen Wald wandert. Auch wenn das vielleicht keiner der selten gewordenen Urwälder ist, in denen man ganz selbstverständlich viele dieser bizarren Baumgruppen sieht, wie sie Schönberger mit der Kamera abgelichtet hat.

Den Wald sehen lernen

Mit dem Wissen im Hinterkopf schaut man sich Schönbergers Bilder natürlich anders an, beginnt auf Pilze, Farne, Baumhöhlen und Schößlinge zu achten, all die Zeichen eines lebendigen Waldes, in dem die künftigen Generationen am Fuß der alten Starkbäume, zwischen Felsen und auf abgestorbenen Baumriesen ihren Aufwuchs beginnen. Im Wald gibt es keine Stunde Null. Jedes Sterben ist Teil eines neuen Beginnens.

Und besonders intensiv wird das Erlebnis natürlich, wenn man die Jahreszeiten in den Wäldern mit allen Sinnen wahrnimmt. Auch dazu gibt es ein eigenes, großes Kapitel, das uns müden Erdenwanderern auch wieder sichtbar macht, dass auch unser eigenes Leben so eng mit dem Wechsel der Jahre und Jahreszeiten verbunden ist. Wir sind Teil dieser Kreisläufe, auch wenn wir uns in unseren steinernen Städten glauben davon völlig gelöst zu haben.

Aber in der Begegnung mit dem Wald erfahren wir unsere alte Verbundenheit mit allem Lebenden, fahren gleichzeitig auch noch aus unserem täglichen Dauerstress herunter. Sodass das Buch im Grunde auch ein dicker Appell an seine Leserinnen und Leser ist, die Wälder wieder in ihr Leben zu lassen, sie zu besuchen, vielleicht auch – wo es möglich ist – zu unterstützen und ihnen wieder Raum und Zeit zu geben.

Denn mehr brauchen sie ja oft nicht, um wieder eine ursprüngliche Vielfalt an Leben auszubilden. Zum Graus vieler Forstwirte, die lieber ihren Hektarerträgen nachjammern, als den Wert eines wirklichen Waldes begreifen zu wollen.

Beim Umblättern auf einmal im Wald

Womit man bei einem Aspekt ist, der sogar tröstlich sein kann: dem Alter der Bäume, die sie in einem gesunden Wald erreichen können. Und das beeindruckte ja schon unsere Vorfahren, die diese besonders alten Bäume im Wald oft als heilig verehrten. Schon deshalb, weil ihnen bewusst war, wie dieser oft hunderte Jahre alte Baum schon die Leben ihrer Vorfahren gesehen hatte und sie selbst ebenfalls überleben würde.

Im Wald gelten andere Zeitmaßstäbe. Auch das wird erzählt. Und noch einmal wird hier der Mensch als Zerstörer und Bewahrer thematisiert. Denn es liegt jetzt in den Händen der Menschen, die Wälder wieder zu schützen und wachsen zu lassen, ihnen wieder Raum zu geben in einer scheinbar durchdeklinierten und übernutzten Landschaft, in der alles nur Rohstoff zu sein scheint.

Dass wir uns dabei unsere eigenen Lebensgrundlagen abholzen, das begreifen nach und nach immer mehr Menschen. Aber um es zu erfassen, braucht es Wissen über das Leben und Gedeihen von Wäldern und aller darin wesenden Organismen. Das fast dieses Buch recht umfassend zusammen, führt die Leser Stück für Stück hinein in die komplexe Welt der Wälder.

Und nach jedem einzelnen Kapitel landet man beim Umblättern mitten in den Waldlandschaften Kilian Schönbergers, mal in nebligen Morgenstunden, in denen alles Geheimnis zu sein scheint, mal in winterlichen Birkenwäldern, mal in urigen alten Hutewäldern, mal auf baumbestandenen Klippen, auf denen der Herbst noch einmal in Goldtönen leuchtet.

Man kann also einfach so beim Umblättern in den Wald gehen und sich auf die großformatigen Szenerien einlassen, die man so ähnlich vielleicht selbst bei Waldwanderungen gesehen hat. Und sofort fühlt man sich hineinversetzt, möchte Wanderschuhe und Rucksack schnappen. Und nichts wie weg. Hinein in die Wälder. Und wieder Kraft tanken für ein unersetzliches – und so dringend notwendiges – Bemühen um den Erhalt unserer lebendigen Welt.

„The Woods“ mit Fotografien von Kilian Schönberger, We Mind Publishing, Köln 2018, 80 Euro.

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