Der Verlag bringt es selbst auf den Punkt, wenn er den Debüt-Roman von Antonia Löffler mit dem Satz ankündigt: „Das Porträt einer Familie, die in sicherer Distanz zu existenziellen Problemen ihre privaten Dramen inszeniert.“ Willkommen in der Welt des gut versorgten Bürgertums, das sich in Österreich nicht allzu sehr von dem in Deutschland unterscheiden wird. Damit mal ein bisschen Drama in das Leben der Protagonisten kommt, muss schon ein Flugzeug abstürzen. Das Anne und Jakob gerade verpasst haben.
Eigentlich ein schöner Auftakt für eine große Geschichte vom Beinah. Wie geht man damit um, wenn das Ende auf einmal so unübersehbar ins eigene Leben hineinkracht? Was richtet das mit einem an? Oder mit den Beziehungen, die zwei Menschen miteinander haben? Oder drei, denn ein gewisser Leo schiebt sich an der Bar noch hinein in die nicht ganz einfache Beziehung von Anna und Jakob, die nach diesem Ausflug nach New York scheinbar in die Binsen geht.
Oder wie es Mädchen wie Anna so gern ausdrücken: „Ich brauche mal ein bisschen Abstand.“ Da zieht sie lieber wieder zu ihren Eltern zurück, die ihrerseits ganz offensichtlich in einer mehr als schwierigen Beziehungskiste stecken. Die Mutter ist Regieassistentin und praktisch den ganzen Tag außer Haus, der Vater Schauspieler. Aber der hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen und versucht irgendwie die Ereignisse zu rekonstruieren, die vor 30 Jahren auf der griechischen Insel Hydra passiert sind. Da waren Matthias und Eva schon ein Paar, lebten aber irgendwie das, was manche Leute „eine offene Beziehung“ nennen.
Jeder in seiner Rolle
Antonia Löffler macht es ihren Lesern wirklich nicht leicht, irgendeine Person aus diesem kleinen Kosmos der unausgesprochenen Dinge gern zu haben. Da wird zwar viel geredet, auch über Gefühle und Befindlichkeiten. Aber tatsächlich vermeiden sie es alle, wirklich zum Kern zu kommen.
Oder verklausulieren das Geschehene im eigenen Kopf, so wie es auch Matthias macht, der zwar den wild entschlossenen Autor spielt, der nun endlich in seiner abgeschlossenen Kemenate versucht, das Geschehene vor 30 Jahren wirklich zu entschlüsseln. Seine Textfragmente hat Antonia Löffler mit eingestreut. Aber er geht so an die Sache, als wäre er selbst nicht wirklich dabei gewesen, sich selber fremd.
So wie sich ganz offensichtlich eine Menge Leute selbst fremd sind. Statisten ihres eigenen Lebens. Bemüht, die Dinge nicht wirklich beim Namen zu nennen. Nur nicht dran rühren. Aber Eva ist Journalistin und hält dieses Beschweigen eigentlich nicht aus und macht sich selbst auf die Suche, treibt den alten Regisseur auf, der damals mit der jungen Schauspielertruppe auf Hydra Henrik Ibsens „Die Wildente“ inszenieren wollte. Als Liebhaberstück für einen schwerreichen Gastgeber.
Schon auf der Fahrt nach Süden in einem alten, klapprigen Auto hat Eva den etwas spröden Freund von Matthias, Thomas, kennengelernt, der schon bald auf Hydra mit seiner abweisenden Art dafür sorgen würde, die Stimmung in dieser auf der Insel gelandeten Truppe knistern zu lassen. Eva hatte seine abweisende Art ja schon im Auto erlebt. Auf Hydra kulminiert es zwar nicht, denn Thomas verschwindet einfach, nachdem er seinen Kumpel Matthias noch zum Wettschwimmen im Meer eingeladen hat. Sein Sprung ins Wasser ist das Letzte, was Mathias noch sah.
Was ist passiert?
Das ist auch 30 Jahre später noch nicht klar. Und viel klarer wird es auch nicht, nachdem Anna ihre Mutter und selbst ihre Großmutter versucht hat, zur Rede zu stellen. Im Grunde ändert sich seit der Konstellation auf dem New Yorker Flughafen nichts. Eher bekommt Anna so erst richtig mit, wie sehr das ganze Familienkonstrukt auf Schweigen aufgebaut ist.
Lieber schließt man die Türen oder versucht Begegnungen zu vermeiden, als sich wirklich auf Gespräche einzulassen. Gewusst hatte Anna das zwar auch schon vorher und wäre lieber ins Haus ihrer schwerreichen Großmutter gezogen, die sie im Lauf ihrer Suche auch mehrmals besucht. Aber die alte Dame beweist ihr, wie leicht es ist, mit Stil und Strenge gar nichts zu erzählen.
Hauptsache Drama
Arme Kinder, die in solchen Familien aufwachsen. Aber es kommt einem eben dennoch bekannt vor. Weil es die ganze gehobene Gesellschaft durchzieht. Man verbirgt die Unfähigkeit zu wirklicher Nähe hinter großem Drama. Obwohl die Großmutter selbst etwas zu verbergen hat, das wieder mit der alten Geschichte auf Hydra zu tun hat.
Anna will am Ende selbst nach Hydra fahren, als wenn sie dort der alten Geschichte näher kommen könnte. Aber vor der Überfahrt mit der Fähre geht ihr die Lust aus auf diese alte Geschichte, bei der auch die Leser mit diversen Rätseln allein gelassen werden. Will man denn alles wissen, was einst geschah?
Die Antwort lautet natürlich: Ja.
Aber Anna hat ja nun genug herumgefragt und wurde von ihren Eltern und der Großmutter behandelt wie ein kleines Kind, das zu viele Fragen stellt. Fragen, die an die ganzen kleinen Selbstinszenierungen rühren, in denen sich die Älteren eingerichtet haben. Das Leben: ein Schauspiel, in dem man seine Rolle spielt.
Und Kinder eigentlich nichts Besseres tun können, als auf Distanz zu gehen – so wie es Annas Geschwister-Zwillinge schon lange getan haben. Wer zurückkehrt in so ein Elternhaus, gerät nur in die alten Inszenierungen einer Beziehung, von der man nicht recht weiß, auf welcher Basis sie eigentlich noch funktioniert. Oder jemals funktioniert hat.
Was trägt einen?
Am Ende weiß man zwar, warum aus der Ibsen-Inszenierung auf Hydra nichts geworden ist. Aber die Geschichte rekonstruiert nicht Anna selbst, denn ihre „Interview“-Partner zeigen sich ja regelrecht geübt, den Fragen auszuweichen. Die Rückblenden auf die Ereignisse auf Hydra erzählt allein die Autorin. Sie blendet zwischen den Zeitebenen hin und her.
Und man sucht vergeblich nach jenem Kitt, der die Eltern von Anna tatsächlich zusammengehalten hat. Worauf bauen tatsächlich Beziehungen auf? Oder verstecken sich Menschen tatsächlich in ihren Rollen, die sie dann auch vor den Kindern ein Leben lang spielen, ohne dass sichtbar wird, ob sie es tatsächlich sind?
Für Kinder wie Anna natürlich ein verstörendes Erleben. Als hätte sie es mit völlig wildfremden Menschen zu tun. Gut möglich, dass das vielen Kindern so geht, wenn sie das Leben ihrer Eltern einmal mit etwas Distanz betrachten. Einer Distanz, zu der es die Fahrt nach Hydra gar nicht braucht.
Denn letztlich geht es Anna um ihr eigenes Problem – ihr Verhältnis zu Jacob und die letztlich elementare Frage, worauf Liebe und Partnerschaft eigentlich aufbauen. Was trägt einen gemeinsam durchs Leben? Was schafft diese Quäntchen Vertrauen, das einem Halt gibt, wenn es mal brenzlig wird?
Oder spielen wir einfach unser eingeübtes Drama weiter, immer schön in der Rolle, die wir uns ausgesucht haben? Haben wir uns die ausgesucht? Da läuft Anna die ganze Zeit der seltsamen Geschichte, die auf Hydra passiert ist, hinterher. Aber wie will man Antworten bekommen, wenn sich die Alten in ihren Selbsterzählungen gefallen?
Eher ist es erstaunlich, wie lange Anna sich das gefallen lässt. Aber manchmal braucht es wohl diese toten Punkte, an denen man unverhofft aus dem Gleis gerät, an der Mole sitzt und der letzten Fähre nach Hydra hinterher sieht und das starke Gefühl hat, dass es jetzt reicht mit den alten Geschichten.
Und man vielleicht mal jemand Anderen wieder anrufen sollte.
Antonia Löffler„Hydra“ Milena Verlag, Wien 2025, 26 Euro.
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