Wer verhindert eigentlich, dass unser Land von Kriminellen in Nadelstreifen ausgeplündert wird, als wäre das nur ein Kavaliersdelikt? Als wäre es ganz normal, dass sich ausgebuffte Herren mit windigen Abzocken an unser aller Steuern bedienen, als stünde ihnen das zu? Weil sie so clever sind oder einfach, weil sie es können? Oder um einen Satz aus diesem Buch zu zitieren: „Leben wir in einem Land, in dem, wer reich ist, das Gesetz nicht fürchten muss?“ Bundesweit bekannt wurde die Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker, weil sie genau das so nicht akzeptieren wollte.

Und sie sich 2013 nach Feierabend in die Unterlagen zu einem Fall einarbeitete, der scheinbar keiner war. In Zeitungen und Fachzeitschriften erzählten ja die „Experten“ der Finanzlobby immer wieder, dass es sich bei Cum/Ex einfach nur um nette Marktgewinne handelte, erzeugt durch clevere Aktienschaltungen. Nichts besonderes also in einem deregulierten Finanzmarkt, in dem Trader durch Aktienwetten Milliardensummen abgreifen. Quasi aus dem Nichts. Aber das war schon immer eine Lüge.

Und im Fall von Cum/Ex war es von Anfang an blanker Steuerbetrug. Nur standen die Steuerbehörden, die den Verdacht hatten, dass es so war, immer vor einem Problem: Wie kann man das hieb- und stichfest belegen? Und wie kommt man den international agierenden Tätern bei, die ja nicht nur in Deutschland auf Raubzug gehen und sich Steuern rückerstatten lassen, die nie gezahlt wurden?

Aufklärung unerwünscht?

Als Anne Brorhilker den Fall 2013 auf den Tisch bekam, war noch nicht abzusehen, welche Dimension er einmal annehmen würde und dass am Ende dutzende Trader und Bankmanager, die die Sache systematisch betrieben haben, vor Gericht stehen würden. Und dass die Gerichte ihr jedes Mal recht geben würden: Cum/Ex war von Anfang an kriminell. Es gab weder eine Gesetzeslücke noch ein Schlupfloch im Steuerrecht. Nur zu wenig Fahndungsdruck aus Steuerbehörden und Staatsanwaltschaften. Und das hat System.

In diesem Buch schildert Anne Brorhilker – in Zusammenarbeit mit der Journalistin Traudl Bünger – nicht nur, wie sie in Köln eine schlagkräftige Truppe in Kooperation mit LKA und Steuerbehörde aufbaute, um das Netzwerk der Cum/Ex-Akteure systematisch aufzuklären, in dutzenden Agenturen und Banken Durchsuchungen einzuleiten und dann nach und nach die Prozesse in Gang zu setzen, in denen die Täter dann vor Gericht landeten. Sie tut nicht nur das. Denn ihre Arbeit machte ihr auch sichtbar, wie Finanzbehörden in ganz Deutschland mauerten, nicht alle so extrem wie die in Hamburg. Auch weil ihnen oft schlicht das Personal fehlt, um den cleveren Finanz-Kriminellen ihre Taten gerichtsfest nachzuweisen. Das hat tatsächlich System. Nicht nur haben deutsche Regierungen seit über 30 Jahren systematisch die Steuern für die Reichen und Vermögenden gesenkt. Sie nehmen geradezu milliardenschwere  Steuerhinterziehung in Kauf, weil sie auch die Finanzbehörden systematisch heruntergespart haben. Wo niemand ermitteln kann, wird auch der Steuerschaden nicht bekannt.

„Ob es bei diesen Fällen politische Einflussnahme gegeben hat oder nicht, dazu kann ich nichts sagen“, schreibt Brohilker in Bezug auf die Landesbanken, die in den Cum/Ex-Geschäften munter mitgemischt haben. „Was mir aber in den letzten Jahren auffiel, ist der Mangel an politischem Willen zur Unterstützung der Behörden, beispielsweise durch ausreichend Personal und technische Ausstattung.“

Cum/Ex war schon immer kriminell

Man kann es auch so formulieren: Die mangelnde Personalausstattung der Finanzbehörden kann durchaus Absicht sein. Denn so fehlt ihnen die Kapazität, genau jene Schwerreichen genauer unter die Lupe zu nehmen, die in Deutschland jedes Jahr einen Milliarden-Steuerschaden anrichten.

Inzwischen steht allein für Deutschland ein potenzieller Steuerschaden von 40 Milliarden Euro durch Cum/Ex-Geschäfte im Raum. Dazu kommen jährlich geschätzte 100 Milliarden Euro durch systematische Steuerhinterziehung.

2024 ließ Anne Brorhilker ihren Beamtenstatus aufheben und schied aus dem Dienst der Kölner Staatsanwaltschaft aus. Sonst hätte sie auch dieses Buch nicht schreiben können, auch wenn sie mehrfach betonen muss, dass sie in viele Fälle trotzdem lebenslang an ihre Schweigepflicht als ehemalige Beamtin gebunden ist. Aber mittlerweile sind mehrere der von ihr bearbeiteten Fälle vor Gericht gelandet und damit öffentlich geworden. Sie kann also eine erste Bilanz ziehen, welchen Erfolg ihre Ermittlungen hatten. Und an den Gerichten liegt es nicht, dass Cum/Ex- und Cum/Cum-Täter nicht verurteilt werden und die Steuerhinterziehung der Reichen kaum sanktioniert wird.

Denn Geld verschafft Macht und Einfluss. Mt Geld kann man sich Anwälte kaufen, die selbst dann zu Hauf anrücken, wenn Banken sich nicht in ihre dunklen Geschäfte schauen lassen wollen. Geld aber verschafft auch politischen Einfluss. Denn mit millionenschwer finanziertem Lobbyismus verschafft sich die deutsche Finanzwirtschaft nicht nur Einfluss auf Gesetze und Politiker. Sie sorgt auch dafür, dass die gewählte Politik kuscht und das miese Spiel mitspielt. Von den Medien, die lieber die ganze verpeilte Bürgergeld-Diskussion aufblasen, ganz zu schweigen. Da, wo unser Staat tatsächlich um Milliarden betrogen wird, die allerenden fehlen, schweigen sie lieber.

Tatenlose Finanz- und Justizminister

„Dass Deutschland als Paradies für Geldwäsche gilt und jedes Jahr aus Straftaten stammende Gelder in Höhe von geschätzt 100 Milliarden Euro in Deutschland ‘gewaschen’ werden, war bisher in der öffentlichen Wahrnehmung kein Problem für den Justizminister“, schreibt Brorhilker. „Dass dem öffentlichen Haushalt geschätzt 100 Milliarden Euro pro Jahr durch Steuerhinterziehung fehlen, musste sich der Finanzminister bisher selten anhören. Finanz- und Justizminister werden selten dafür verantwortlich gemacht, wie effektiv die ihnen nachgeordneten Behörden ihren Aufgaben nachkommen.“

Der Steuerprüfung zum Beispiel und dem Verfolgen von Steuerhinterziehung gerade dort, wo diese mit großer krimineller Energie in Größenordnungen betrieben wird. Dazu braucht man ausreichend Personal in Finanzbehörden und Staatsanwaltschaften. Doch gerade dort wird gespart. Das kann man als fahrlässig betrachten oder als Absicht.

Denn dass es in den trüben Gewässern der Finanzwirtschaft nicht allzu nett zugeht, das weiß man in den zuständigen Ministerien eigentlich. Denn die Herren in ihren schicken Anzügen stehen dort fortwährend auf der Matte. Keine Branche gibt mehr Geld für Lobbyismus aus als die Finanzbranche. Und da stand für Anne Brorhilker 2024 die Frage: Was tun? Wie kann man die Politik aufrütteln, die Finanz-Kriminalität im Land endlich ernst zu nehmen und mit entsprechender Mannschaftsstärke auch zu verfolgen? Sie suchte und fand dann tatsächlich den Job, wo sie tatsächlich auf diesem Feld wirksam werden konnte. Denn innerhalb des Beamtenapparates ist das unmöglich. Der ist deutschlandweit streng hierarchisch organisiert. Kooperationen zwischen Behörden verschiedener Länder oder gar über Hierarchiestufen hinweg sind praktisch unmöglich. Sie sind geradezu ein Verstoß gegen das verbeamtete Hierarchiedenken.

Und das setzt auch Staatsanwältinnen Grenzen. Den Behördenapparat können sie nicht von innen her verändern. Sie haben nur die Freiheiten, die ihnen ihre Vorgesetzten geben. Und dass es da auch in Brorhilkers Zeit als Staatsanwältin mehrfach krachte, machen die bewusst geschwärzten Stellen im Buch deutlich. Sie deuten in der Regel Interna an, über die sie nicht sprechen darf.

Kriminelle profitieren vom schwachen Staat

Aber indem sie bei Finanzwende e.V. als Leiterin  im Bereich Finanzkriminalität anheuerte, fand sie genau die Position, aus der heraus sie die falsch justierte deutsche Finanzpolitik kritisieren kann, Missstände öffentlich machen kann und überhaupt das Thema Steuerhinterziehung in all seinen Formen in den öffentlichen Diskurs bringen kann. Und auch die falschen Phrasen entlarven kann, mit denen einschlägige Politiker dem Raubzug an unseren Steuern auch noch Tür und Tor öffnen. Etwa wenn die bekannte Formel vom „Bürokratieabbau“ immer wieder hervorgezaubert wird, mit der bürgerliche Politiker den Leuten einreden, das Land würde besser funktionieren, wenn man nur weniger Regularien hätte. Doch egal auf welchem Feld – es geht fast immer um das Abschaffen von Kontrollmechanismen, mit denen Behörden wenigstens einigermaßen dafür sorgen können, dass Kriminelle das Land nicht vollends ausplündern.

Es geht also eher um mehr Effizienz in den Behörden, mehr Freiheiten gerade für die ermittelnden Akteure. Und um mehr Personal. Denn selbst der Personalabbau wird den Bürgern ja als Instrument zur besseren Effizienz des Staates verkauft. Was schlicht nicht stimmt. Die Abteilungen der Steuerfahnder sind unterbesetzt. Staatsanwaltschaften und Gerichte schieben Berge von unerledigten Fällen vor sich her. Und wie diese Fälle dann oft zur Freude der Kriminellen abgearbeitet werden, auch das schildert Brorhilker.

Mit ihr haben die Leser eine ungewohnt detaillierten Blick in die Dysfunktionalität des deutschen Staates. Und in das Lügengewebe, mit dem die Nicht-Verfolgung von Wirtschaftsverbrechen in Deutschland klein geredet wird. „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“, zitiert Brorhilker einen nur zu gut bekannten Spruch. Und mit ihr erfährt man, dass genau das den deutschen Umgang mit Wirtschaftsverbrechen nur zu gut beschreibt. Und man erfährt eben auch, warum das so ist und welchen mächtigen Einfluss die Finanzlobby auf deutsche Ministerien haben – bis hin zum Verfassen ganzer Gesetze, weil die gewählten Minister ihren eigenen Fachleuten nicht zutrauen, handfeste Gesetze zu schreiben.

Unter Dauerfeuer der Finanzlobby

Man darf erschrocken sein beim Lesen dieses Buches, auch wenn man so etwas schon wusste oder ahnte. Und sich die ganze Zeit fragt, warum keine deutsche Regierung seit 30 Jahren die Steuergesetzgebung in Ordnung gebracht hat. Ganz zu schweigen vom Aufbau einer schlagkräftigen Steuerfahndung, die gerade jenen das Handwerk legt, die den Staat durch clevere „Geschäfte“ jährlich um Milliarden bringen. Milliarden, die überall, fehlen.

Brorhilker listet letztlich auch auf, was alles passieren müsste und auch kann, um diesem wilden Treiben ein Ende zu setzen. Dass Politiker die nötigen Veränderungen oft gar nicht sehen, hat auch damit zu tun, dass die allerwenigsten sich tatsächlich mit Finanz- und Wirtschaftskriminalität je beschäftigt haben. Von den konkreten Verbrechenstatbeständen Cum/Ex und Cum/Cum ganz zu schweigen. Es ist ihnen fremd und viel zu kompliziert, selbst wenn sie im Finanzausschuss des Bundestages sitzen. Denn sie stehen durch die stets präsente Finanzlobby-Arbeit auch permanent unter Druck.

„Hier braucht es ein Gegengewicht, eine Stimme, die die Interessen der Zivilgesellschaft vertritt und ihnen Gehör verschafft“, schreibt Anne Brorhilker. „Das ist die Bürgerinitiative Finanzwende: ein Gegengewicht zur Finanzlobby, also zu Banken, Fonds, Versicherungen und ihren Interessenverbänden.“

Denn auch das wird ja deutlich: Es sind nicht nur die Politiker/-innen, für die Finanzen geradezu ein Buch mit sieben Siegeln sind. Auch die Bürger selbst lassen sich nur zu gern erklären, dass Steuerrecht viel zu kompliziert sei und man dazu die „Experten“ aus den Finanzhäusern fragen müsse. Die aber mit ihrem Gerede eine solche Kompliziertheit nur vorgaukeln. Denn in diesem Nebel der falschen Behauptungen können sie ihre Tricks und Deals durchziehen und „kleine“ Staatsanwälte und Steuerprüfer einschüchtern. Frei nach dem Motto: Diese komplizierten Geschäfte versteht ihr sowieso nicht.

Aber Brorhilkers Buch erzählt eben etwas anderes: Dass diese dubiosen Machenschaften sehr wohl gerichtsfest aufzuklären sind. Es braucht nur ambitionierte Ermittler. Und Vorgesetzte, die den Ermittlern nicht auch noch Steine in den Weg legen.

Anne Brorhilker „Cum/Ex, Milliarden und Moral“, Heyne Verlag, München 2025, 24 Euro

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