Am 4. und 5. Oktober gibt es in der Galerie KUB eine kleine Konferenz, die das Thema Ostdeutschland einmal ohne die übliche Rechthaberei anzugehen versucht. Ein neu gegründeter Zusammenschluss junger Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen veranstaltet an den beiden Tagen in der Leipziger Galerie KUB eine Konferenz mit dem Titel „(L)Ost in Transformation“.

Dazu erklärt Dominik Intelmann, einer der Organisatoren der Konferenz: „Im Zuge der Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg sind die Debatten darum, was die vergangenen 30 Jahre der Transformation mit den heutigen Verhältnissen zu tun haben neu entfacht. Wir wollen diesen Verhältnissen und Veränderungen in der ostdeutschen Gesellschaft auf den Grund gehen.“

Dass die Debatte so entflammte, hat nicht nur mit den deftigen Wahlergebnissen der AfD zu tun, die ja überdeutlich zeigen, dass da irgendetwas knirscht im Getriebe. Und zu diesem Knirschen gehört auch etwas, was der (ostdeutsche) „Spiegel“-Kommentator Jochen-Martin Gutsch am 24. September thematisiert in seinem Beitrag „Fehler bei der Wiedervereinigung. Warum es im Osten brodelt und gärt“.

„Die DDR ist seit Ewigkeiten tot. Was weiterlebt, sind die Verwüstungen, Verluste und Kränkungen der Nachwendezeit“, konnte man da lesen. Und: „Der Tag des Mauerfalls hat mein Leben komplett verändert. Zum Guten. Ich empfinde Dankbarkeit und gleichzeitig eine wachsende Fremdheit. Der 9. November 1989 erscheint mir heute wie ein westdeutscher Gedenktag mit ostdeutscher Beteiligung. Die Ostler stellen die Kulisse und das Drama, verdiente Bürgerrechtler dürfen in Talkshows und auf Gedenkfeiern noch mal ihre Geschichten erzählen. Die historische Einordnung aber, die Bewertung, die Deutungshoheit der ostdeutschen Revolution liegt fest in westlicher Hand.“

Und das ist tatsächlich ein Problem. Eines, das erstmals die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) versuchte zu benennen, als sie forderte, die Nachwendezeit endlich aufzuarbeiten.

Ein Thema, das noch deutlicher wird, wenn der „Spiegel“ z. B. am 2. Oktober meldet: „CSU blockiert Beschluss zu Klimaprogramm. Die Umsetzung des Klimaprogramms gerät ins Stocken. Das Kabinett wird laut Regierungskreisen geplante Beratungen kurzfristig aussetzen. Besonders die CSU sieht noch Gesprächsbedarf.“

Undenkbar, dass dasselbe in den vergangenen 29 Jahren für eine beliebige ostdeutsche Regionalpartei überhaupt nur denkbar gewesen wäre. In keiner einzigen Bundesregierung waren ostdeutsche Vertreter das Zünglein an der Waage, hätten Beschlüsse ausbremsen oder forcieren können. Bundesdeutsche Politik passierte einfach als große westdeutsche Interpretation – nach westdeutschen Mustern.

Natürlich springt Petra Köpping viel zu kurz, wenn sie nur die Aufarbeitung der Treuhandgeschichte thematisiert. Das ist zwar das emotionalste Stück dieser Geschichte, aber trotzdem nur ein Symptom, Symptom für etwas, was die westdeutsche Interpretation des Ostens, der bitteschön für die vielen Billionen D-Mark Hilfe dankbar zu sein habe, eher stützt, als sie endlich infrage zu stellen.

Denn der Titel der Konferenz benennt im Grunde den riesigen rosa Elefanten, der die ganze Zeit im Raum steht, den zu erwähnen man sich aber nicht mal bemühen muss. Denn augenscheinlich sehen ihn viele auch deshalb nicht, weil die Ostdeutschen in den Jahren stets auch gut als Ersatztdummy funktionierten – etwa wenn man den Rechtsradikalismus im Land bedenkt. Aus westlicher Sicht klemmten die Ostdeutschen irgendwie noch in ihrer alten Diktatur-Erziehung fest und der Rechtsextremismus war ein unverdautes DDR-Erbe.

Dass aber 1990 im Osten das radikalste wirtschaftliche Experiment seit 1945 gestartet wurde, kommt in den westdeutsch dominierten Binnenerzählungen praktisch nicht vor. Wobei man durchaus auch erwähnen darf, dass es schon das zweite in so kurzer Zeit war, während Westdeutschland kein einziges erlebt hat.

Und dass es nicht gesehen wird, hat auch mit der systematischen Blindheit (westdeutsch dominierter) Wirtschaftslehrstühle zu tun: Sie beschäftigen sich mit hochtheoretischer Wirtschaftsmathematik und versuchen, die ökonomischen Entwicklungen aus winzigen Veränderungen im BIP zu deuten, aber sie haben kein Handwerkszeug, um die sozialen, demografischen und politischen Folgen solcher Wirtschaftsftransformationen zu erfassen. Die meisten der tonangebenden Professoren haben nicht einmal eine Beziehung zu den Themenfeldern Soziologie, Demografie, Psychologie. Ihre Ökonomie ist reine Marktökonomie auf einem von allen Störgeräuschen leergeräumten idealen Markt.

Dass aber so eine Radikal-Transformation, wie sie Ostdeutschland ab 1990 erlebte, zwangsläufig Folgen hat für das Leben, Planen, Denken und Hoffen der davon betroffenen Menschen, kommt in der deutsch-deutschen Betrachtung nicht vor. Die Ostdeutschen sind zwar die ganze Zeit Teil dieses Experiments und gäbe es einen wirklich fundierten Transformations-Lehrstuhl an irgendeiner deutschen Universität, hätte man dort über all die Jahren faktenbasiert studieren können, wie die Teilnehmer des Experiments auf die verordneten Arzneien und Stromstöße reagiert haben. Man stünde heute nicht ratlos vor seltsamen AfD-Ergebnissen, sondern hätte längst kompetente Transformationsministerien eingerichtet.

Auch aus purer Vorsorge, denn auch das hätte der Osten längst lehren können: Dass man neue politische Lösungen braucht, wenn ökonomische Experimente solchen Ausmaßes aus dem Ruder laufen.

So in die Tiefe geht die Konferenz am 4. und 5. Oktober freilich noch nicht.

Sie tippt eher einige der Symptome dieses etwas aus dem Ruder gelaufenen Experiments an.

Die Konferenz besteht aus mehreren Vorträgen und Diskussionsrunden sowie einer Lesung zu verschiedenen Aspekten der Veränderung in Ostdeutschland. Unter anderem werden feministische Standpunkte zur Wiedervereinigung, die spezifische Perspektive von Vertragsarbeitern, Vertragsarbeiterinnen und ihrer Kinder sowie Fragen zur politischen Ökonomie und Stadtentwicklung in Ostdeutschland diskutiert. Aber auch die ideologischen Hinterlassenschaften der DDR-Gesellschaft und die Ursachen aktueller autoritärer Tendenzen haben ihren Platz.

„Uns ist es wichtig, einen möglichst breiten Blick auf die Verhältnisse in Ostdeutschland zu werfen. Wir wollen zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung beitragen, da unserer Wahrnehmung nach in der Öffentlichkeit oftmals oberflächliche Erklärungen und Analysen kursieren“, erklärt Intelmann zur Intention der Konferenz.

Konferenz „[L]Ost in Transformation“ , 4. und 5. Oktober in der Galerie KUB (Kantstraße 18, 04275 Leipzig)

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