Behaglich war es im Zug von Berlin nach Leipzig: Neben mir saß eine strickende Frau, deren Stricknadeln im Takt mit den Schwellengeräuschen der Schienen klapperten. Aus dem angrenzenden Bordbistro wehte leises Gläserklirren herüber, einige Herren nahmen ein erstes Bier ein. Das Kind hatte ein anderes mitreisendes Kind gefunden. Eines, das Unterhaltungselektronik durfte. Die Reise war rund, ich hätte ewig so weiterfahren können.

Fasziniert betrachtete ich die künstlichen Fingernägel der Frau, mit denen es mir unmöglich schien, auch nur annähernd selbständig eine Hose an- oder auszuziehen, die hier aber sogar Kunstgewerbe zu produzieren im Stande waren. Derart philanthropisch war mir ums Herz, dass ich zum Augenblicke sogar gewillt war, meine diffuse Abwehrhaltung gegenüber diesem Trend über Bord zu werfen und ihm stattdessen Gutes abzugewinnen suchte. Künstliche Fingernägel waren im Grunde wirklich eine prima Sache.

Schließlich war damit Menschen, bei deren Geburt die Grazien vielleicht nicht im Dutzend Pate gestanden zu haben schienen, ein wichtiger Gestaltungsspielraum eröffnet worden: Der Fingernagel als letzter verbliebener Tummelplatz modischer Avancen sozusagen: nach Herzenslust färben, lackieren, mit Kettchen behängen oder mit Strass verzieren, ohne dass im näheren Umkreis gleich ein Doppelkinn oder sonstige Überhangmandate die Partie zu verderben drohen, ist zweifellos eine feine Errungenschaft nachwendischer Jahre.

Ich fing gerade an, mich für meine neue Stufe des Tolerantseins selber gut zu finden, als die Frau ihr Strickzeug unvermittelt zur Seite legte und aus ihrer Handtasche Lektüre herauszukramen begann. Grausam abrupt wurde deutlich, dass nun auch hier im Großraumwagen der Deutschen Bahn das momentan Unvermeidliche zugeschlagen hatte: „Fifty Shades of Grey.“

Warum hier? Warum jetzt? War man denn nirgendwo mehr sicher? In Buchhandlungen, auf Werbeplakaten, in Zeitschriften, in Zügen, im Kino – überall diese utensiliengesteuerten, finanziell nicht ganz unsmart kalkulierten, feuchten Träume einer properen Schottin. Wenn Angela Merkel nun nicht „Der Islam gehört zu Deutschland“, sondern „SM gehört zu Deutschland“ postuliert hätte, niemand würde mehr widersprechen. Deutschlands Frauen jedenfalls schienen bereit für die harte Tour, wenn auch erst einmal vorsichtshalber mit einem traumatisierten Multimillionär U30.

Ich wusste zwar, dass auch das vorbeigehen würde – ein ähnliches buchhandelssegnendes Phänomen hatte sich ja vor einigen Jahren mit der „Weißen Massai“ bereits ergeben – der Geschichte jener ungewöhnlich risikobereiten Schweizerin, die sich voraussehbarerweise in einer mit Ziegen umweideten kenianischen Hütte der größten sexuellen Enttäuschung ihres Lebens entgegengearbeitet hatte, aber ich wollte eben ein bisschen intellektuelle Ärgernisse spazieren fahren.

„Du gehörst mir“, musste ich jetzt im Zug mitlesen. „Dir“, hauche ich (…) „Mir.“ „Ah.“ „Still.“ Ich tue, was er mir sagt, und er kniet vor mir nieder, um mir vorsichtig die weißen Brautschuhe von Jimmy Choo auszuziehen. „Ist wie Geschenke an Weihnachten auszupacken.“ Er lächelt mich unter seinen langen Wimpern hervor an. „Ein Geschenk, das du schon kennst …“ „Nein, Baby. Erst jetzt gehört es mir endgültig.“ „Christian, ich gehöre dir seit dem Jawort.“

„An (!) Weihnachten!“ Meine innere Heiterkeitsgöttin war plötzlich ganz wach, ich war versöhnt mit der Wellt, mit dem Werk, mit der Verfasserin.

Mal ehrlich, es ist aber auch verdammt schwer, heute noch etwas Vernünftiges über die Liebe zu schreiben. Goethe konnte das ja ganz prima, schien auch irgendwie geübt in der Praxis, auch Heine, Tucholsky – alles Könner. Von Morgenstern kann man nicht nur göttliche Albernheiten lesen, sondern auch großartige Liebeslyrik. Zweifellos: Die Liste virtuoser Schreiber lastet auf zeitgenössischen Literaten schwer.

Allein, was ist das schon, die Liebe? Wie schreibt man über etwas, dessen Inspirationsspielraum dehnbarer als der Bund einer Jogginghose eines US-Adipösen wirkt, so dass es die innere Göttin anderer erreicht? Die Krux ist: Jeder erlebt die uralte, immer gleiche Geschichte mit dem Verliebtsein immer wieder neu, manchmal klappt bekanntlich alles ganz easy (First he drives her home, then he drives her crazy), manchmal tun sich Schwierigkeiten bei den Liebenden on their way zum Happyend auf. Hie und da gibt es bedauerlicherweise auch keines.

Aber mach da mal eine Geschichte daraus!

Setzt man realistischerweise mal voraus, dass ein Mann und eine Frau sich lieben, dann kann man die Dialoge aus literarischer Sicht gewöhnlich in der Pfeife rauchen:

Sie: Sag mal liebst du mich?
Er: Ich liebe dich sehr.
Sie: Wie sehr liebst du mich?
Er: Sehr, Liebling. Ich liebe dich sehr.
Sie: Vermisst du mich manchmal?
Er: Wäre ich sonst hier, Liebling?
Sie: Du bist mein Liebling, Liebling.

Man sieht schon, das hat keinen Zweck. Es ist dürftig. Es ist arm. Aber so redet man zuweilen in Phasen der innigsten Verliebtheit. Selbst einen Wortschatz vom Ausmaß des Elbsandsteingebirges schmilzt die Liebe weg wie die Märzsonne den Schnee. Man stammelt. Man sagt Grenzdebiles. Man möchte es nicht gedruckt sehen.

Eine Liebesgeschichte geht natürlich auch nicht ohne Erotik. Meine Phantasie jedenfalls sagt NEIN zu Liebesgeschichten ohne Erotik. Von da an wird es für einen Schreibenden nahezu aussichtslos.

Die Protagonisten müssen ja dann nicht nur reden, sondern auch was tun. Ein bisschen Bewegung gehört dazu. Das muss man beschreiben können. Ein guter Freund pflegt den Sexualakt stets mit der Formel „Reinstecken, rumzappeln, rausnehmen!“ zu umreißen, aber ich fürchte, dies gibt für eine Geschichte nicht genügend Stoff.

Man könnte erotische Erlebnisse eventuell mit Naturereignissen gekoppelt darbieten, um die Geschichte ein bisschen zu beleben: Er und sie reiten zum Beispiel in den Sonnenuntergang, natürlich alles ganz platonisch. Ein Unwetter überrascht sie. Es überrascht sie, weil Ben Wettervogel gestorben ist. Sie sind traurig und gleich darauf auch nass. Alles wirkt ein bisschen bedrohlich, weil urgewaltig. Sie flüchten in eine abgelegene Scheune. Irgendwie ganz von den Socken. Die Evolution lässt sich nicht lumpen: Schutzbedürftig sinkt sie in seine Arme, er ist nicht genügend Widerstandskämpfer, um dann nicht zu tun, was getan werden muss.

Würden einem Leser und Kritiker heutzutage so etwas noch verzeihen? Wohl kaum. Man darf so was erleben, aber schreiben darf man es nicht mehr.

Ich glaube, dass vor allem eines für eine Liebesgeschichte wichtig ist: Die Liebenden müssen leiden. Sie müssen leiden, bis sie zueinander finden, sie müssen leiden vorm ersten Kuss, beim ersten Kuss, sie müssen leiden zwischen den Laken. Und wenn sie im Leiden so richtig trainiert sind, lässt man sie am Ende entweder sterben oder heiraten. Im letzteren Fall ergibt dann perspektivisch sogar ein bisschen Equipment Sinn. Wie wäre es zum Beispiel mit dem „Fifty Shades-of-Grey-Klebeband: Still, Baby, Still“, drei Rollen für nur 14,97 Euro?

Als der Zug mit quietschendem Geräusch in Leipzig einfuhr, hatte ich meinen Frieden gefunden. Sag einer noch mal, Equipment sei überbewertet. Ohne Stricknadeln wäre das nämlich nie passiert.

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