Auch Petra Zais, bildungspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis90/Die Grünen im Sächsischen Landtag, kommt zum selben Ergebnis wie die L-IZ: Die Bildungskarrieren der sächsischen Schüler hängen extrem davon ab, wo sie wohnen. „Die Bildungschancen sind in Sachsen höchst ungleich verteilt. Es macht einen enormen Unterschied, in welchem Landkreis oder Stadtteil man zur Schule geht und welches Geschlecht man hat“, stellt sie fest.

Was im Klartext ja heißt: Der Freistaat Sachsen hat kein Schulnetz, das allen Kindern im Land gleiche Bildungschancen ermöglicht. Etwas diplomatischer von Petra Zais ausgedrückt: „Es gelingt bisher nur unzureichend, unterschiedliche Startchancen bis zum Erwerb eines schulischen Abschlusses weitgehend auszugleichen.“

Sie hat die Zahlen, die sie auf ihre Anfrage von Brunhild Kurth bekommen hat, sehr genau gelesen. Da fanden sich dann auch drei falsche Tabellen, die sie sich dann noch extra nachliefern ließ.

Die simplen Grundfakten:

Für das Schuljahr 2016/17 erhielten 47,2 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Klasse 4 der Grundschulen eine Bildungsempfehlung (BE) für das Gymnasium und 52,8 Prozent eine Empfehlung für die Oberschule. Doch während in der Regionalstelle der Sächsischen Bildungsagentur (SBA) Dresden in 52,1 Prozent der Fälle eine Empfehlung fürs Gymnasium erteilt wurde, war dies in der SBA-Regionalstelle Bautzen nur in 42,8 Prozent der Fall. Zwischen den Landkreisen bzw. Kreisfreien Städten entstehen mitunter Schwankungen von über 15 Prozentpunkten. So erhielten in der Stadt Chemnitz 40,9 Prozent der Viertklässler eine Bildungsempfehlung fürs Gymnasium, in Dresden waren es hingegen 56,8 Prozent.

Diese Zahlen werden dann durch das tatsächliche Anmeldeverhalten und die zweite Bildungsempfehlung in Klasse 6 nur teilweise ausgeglichen, mitunter aber auch in ihrer Tendenz verstärkt. So erhielten für das Schuljahr 2016/17 sachsenweit 9,9 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Klasse 6 an Oberschulen eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium. In einigen Landkreisen mit einer geringen Quote an Bildungsempfehlungen für das Gymnasium in Klasse 4 war der Anteil in Klasse 6 entsprechend höher. Im Landkreis Görlitz etwa wurde in Klasse 4 nur 41,3 Prozent der Schülerinnen und Schüler der Besuch eines Gymnasiums empfohlen, in Klasse 6 der Oberschulen waren es 12,7 Prozent. Anders etwa im Landkreis Nordsachsen. In Klasse 4 wurde 42,7 Prozent der Schülerinnen und Schüler empfohlen, den Bildungsweg am Gymnasium fortzusetzen. Auch in den 6. Klassen der Oberschulen blieb die Quote mit 8,8 Prozent unter dem Durchschnitt.

Aber eine Bildungsempfehlung bedeutet noch nicht, dass der Schüler/die Schülerin die Chance dann auch tatsächlich ergreift. Tatsächlich an einem Gymnasium angemeldet wurden für das Schuljahr 2016/17 39,6 Prozent der Viertklässler, 60,4 Prozent würden – mit Stand 4. März – gern eine Oberschule besuchen. Dabei gibt es große Abweichungen zwischen der Vergabe der Bildungsempfehlung und den tatsächlichen Anmeldungen.

Nur in den Kreisfreien Städten Leipzig und Chemnitz sowie in Nordsachsen werden annähernd so viele Kinder tatsächlich an einem Gymnasium angemeldet, wie sie eine entsprechende Bildungsempfehlung bekommen haben. In allen anderen Landkreisen bleibt die Zahl der Anmeldungen mitunter deutlich hinter der Zahl der Bildungsempfehlung zurück. So gibt es im Erzgebirgskreis nur in 28,7 Prozent der Fälle eine Anmeldung fürs Gymnasium (BE: 44,6 Prozent), im Landkreis Leipzig sind es 32,5 Prozent (BE: 50,1 Prozent).

Das hat Gründe. In der Regel ganz einfach solche des vorhandenen Angebots. „Das Schulsystem mag in ganz Sachsen dasselbe sein. Aber während insbesondere in den Kreisfreien Städten alle Bildungswege offenstehen, sind sie andernorts verbaut oder einfach zu lang. Wenn der Wechsel auf ein Gymnasium mit sehr langen Schulwegzeiten verbunden ist, fällt die Wahl wahrscheinlich eher auf die Oberschule im Nachbarort – sofern diese noch nicht geschlossen worden ist. Schließlich geht es hier um zehn- oder elfjährige Kinder, die täglich auf die Schülerbeförderung angewiesen sind“, benennt die Grünen-Abgeordnete die Folgen einer über Jahre anhaltenden Schulschließungspolitik, die in ländlichen Räumen zuweilen überlange Distanzen zwischen einzelnen Schulangeboten haben entstehen lassen.

„Neben dem Schulangebot vor Ort und damit verbundenen Wegezeiten spielt auch eine unterschiedliche Bewertung der Schularten eine Rolle. Anders ist kaum zu erklären, weshalb beispielsweise in Chemnitz als Kreisfreier Stadt mit einem breiten Schulangebot erheblich weniger Schülerinnen und Schüler für das Gymnasium angemeldet werden als etwa in Dresden und Leipzig. Dies gleicht sich auch durch die zweite Bildungsempfehlung und spätere Schulartwechsel nicht aus“, stellt Zais fest.

Besorgniserregend sei auch diesmal wieder das unausgeglichene Verhältnis zwischen den Geschlechtern, das durch regionale Unterschiede noch verstärkt wird. Während ein Mädchen in Klasse 4 einer Dresdner Grundschule zu 59,1 Prozent eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium bekommen hat, trifft dies nur auf 36,7 Prozent der männlichen Viertklässler im Landkreis Nordsachsen zu. Wurde im Landkreis Görlitz 60,8 Prozent der Schüler der Besuch der Oberschule empfohlen, lag dieser Wert für Schülerinnen in der Stadt Dresden mit 40,9 Prozent zwanzig Prozentpunkte niedriger. In Klasse 6 erhielten durchschnittlich doppelt so viele Mädchen wie Jungen die Empfehlung für den Besuch des Gymnasiums (z.B. Vogtlandkreis: 11,1 Prozent der Kinder in Klasse 6 der Oberschulen erhielten eine BE für das Gymnasium – bei den Mädchen waren es 14,8 Prozent, bei den Jungen 7,5).

Das kann den wirklichen Fähigkeiten der Kinder nicht tatsächlich entsprechen. Diese Streuungen sind zu groß.

„Für mich steht fest: Wir brauchen in Sachsen eine Schullaufbahnberatung, die die Interessen und Fähigkeiten des Kindes in den Mittelpunkt rückt. Dabei gibt es im Freistaat offenkundig unterschiedlichen Unterstützungsbedarf, um Benachteiligungen ausgleichen zu können, sowohl regional als auch geschlechterspezifisch. Mehr individuelle Förderung ist notwendig, dafür müssen die Schulen aber auch entsprechend ausgestattet werden, vor allem mit ausreichend Personal“, benennt Zais eines der Grundprobleme im sächsischen Bildungssystem. „Die Zahlen liefern weitere Argumente für längeres gemeinsames Lernen und Schulen, die mehrere Abschlüsse unter einem Dach anbieten. Ich fordere die Staatsregierung und die CDU-Fraktion auf, ihre Ablehnung gegen diese Schulform aufzugeben. Die Schulgesetz-Novelle bietet dafür Gelegenheit – im Interesse der Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer und für mehr Bildungsgerechtigkeit in Sachsen.“

Die Antwort auf die Anfrage von Petra Zais – mit ganz vielen Zahlen. Drs. 4412

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“Die Bildungskarrieren der sächsischen Schüler hängen extrem davon ab, wo sie wohnen.” – das kann nicht unwidersprochen bleiben.

Einerseits scheint es tatsächlich so zu sein, die Zahlen einer Statistik lügen nicht. Andererseits ist der Wohnort nicht der Grund, sondern nur ein Symptom. Warum ziehen denn Eltern mit Kinder in die Nähe der August-Bebel-Schule, anstatt die Lessing-Schule vorzuziehen?

So stellt sich schnell heraus, dass die soziale Herkunft mitentscheidend ist für die Schulkarriere, aber die soziale Herkunft (Eltern arm oder reich) entscheidet auch über eine Wohnung in diesem oder jenem Stadtteil.

Bildungsferne ist vererbbar, nicht über die Qualität der Schule oder gar der Lehrer und schon gar nicht über den Wohnort. Das scheint nur so.

Weil das so ist, könnte die Politik sogar helfen, indem an Schulen in Gegenden mit bekanntermaßen vielen Eltern aus bildungsfernen Schichten oder einem höheren Anteil von etablierten Ausländern besondere Förderangebote konzentriert werden.

Aber wer will das schon.

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