Leipzigs Bildungsreport ist ein gutes Argument. Nicht wegen seiner 226 Seiten und dem entsprechenden Papiergewicht. Sondern weil er allein mit Zahlen deutlich macht, was in der sächsischen Bildungspolitik falsch läuft und wie staatliche Ignoranz gerade da versagt, wo sie handeln müsste. Denn die Stadt Leipzig selbst kann wenig tun.

Es wird zwar viel darüber geredet in Deutschland, dass Bildung der Schlüssel zu besseren Chancen, Teilhabe, beruflichem Erfolg ist. Aber mehr als Gerede ist es nicht. Es folgt nichts draus. Denn man weiß genau, welche Bevölkerungsgruppe betroffen ist. Wo sie wohnt. Und man weiß, dass man hier nicht nur mit Sozialarbeitern gegensteuern muss, sondern mit etwas, was in den Sonntagsreden konservativer Politiker noch nicht einmal vorkommt: besseren Schulen. Wirklich besseren Schulen.

Denn es betrifft immer wieder die Kinder aus denselben Milieus, die vor allem eines sind: bildungsfern. Und das nicht aus Ignoranz, sondern schlicht, weil das Geld fehlt. Sogar eine Bertelsmann-Studie, die der Bildungsreport zitiert, belegt es: Bildung fängt mit der Möglichkeit zur Teilhabe an. Wenn Eltern die kulturellen, sozialen und kreativen Aktivitäten ihrer Kinder finanziell nicht unterstützen können (und die kosten in unserer Geizgesellschaft nun einmal alle Geld), dann bleiben die Kinder ausgeschlossen, bekommen weniger soziale und sprachliche Anregungen, bleiben oft genug auf die heimischen Unterhaltungsmedien angewiesen und weisen schon vor der Einschulung Entwicklungsrückstände von ein bis zwei Jahren auf, die auch durch eine Rückstellung von der Einschulung nicht wieder aufgeholt werden können.

Befundhäufigkeit bei Schulaufnahmeuntersuchungen in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig, Bildungsreport 2016
Befundhäufigkeit bei Schulaufnahmeuntersuchungen in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig, Bildungsreport 2016

Diese Kinder brauchen also auch noch bessere Kindergärten. Und zwar durchmischt, wie die Bertelsmann-Studie feststellt. Wenn wieder nur Kinder aus demselben Milieu unter sich sind, fehlt die Anregung zum Lernen und Sichentwickeln.

Das liegt nur scheinbar auf dem Tisch der Kommunen, die für’s Kita-Bauen zuständig sind. Doch sie kommen da schnell an ihre Grenzen, wenn die Gelder für zusätzliche Aufwendungen fehlen. Man ist ganz schnell beim desolaten sächsischen Betreuungsschlüssel, für den einzig und allein das Land zuständig ist. Gerade in Kindertagesstätten mit hohem Integrationsaufwand braucht es mehr qualifiziertes Personal, das sich um die Kinder kümmern kann, und deutlich kleinere Gruppen.

Genau an dieser Stelle versagt die sächsische Staatsregierung seit Jahren.

Auch weil sie so tun kann, als sei das einzig ein Problem der Großstädte, wo der Anteil der Kinder aus sozial schwachen Milieus höher ist und die Segregation der Bevölkerungsgruppen stärker ausgeprägt. Wer wüsste das besser als der Leipziger Sozialbürgermeister? Er kann die oben abgebildete Karte nehmen und weiß, dass alle seine großen Probleme genau da konzentriert sind, wo die sozialen Brennpunkte sind.

Da leben die Familien, die weit überdurchschnittlich auf Hartz IV angewiesen sind. Da leben aber auch überdurchschnittlich viele Migranten.

Und das Problem, das gerade jetzt bei sinkenden Arbeitslosenzahlen sichtbar wird: Von allein kommen diese Menschen aus ihrer Malaise nicht heraus. Dazu reichen ihre paar Kröten nicht. Und statt wirkliche Unterstützung von behördlicher Seite zu bekommen, werden sie besonders gern sanktioniert, weil die Oberbürokraten die Überforderung dieser Menschen immer wieder als Renitenz auslegen.

Dummheit kann in Deutschland auch hohe Ämter bekleiden und sehr viel Verwüstung anrichten.

Kinder in SGB-II-Familien. Grafik: Stadt Leipzig, Bildungsreport 2016
Kinder in SGB-II-Familien. Grafik: Stadt Leipzig, Bildungsreport 2016

„Parallel zur Arbeitsmarktentwicklung sank auch die SGB-II-Quote deutlich und befand sich 2015 auf einem Tiefstand seit der Einführung dieser Leistungen“, stellt der Bildungsreport fest. „Bei den Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren war immer noch mehr als jede/-r Fünfte auf Leistungen gemäß SGB II angewiesen. Zwar ging die SGB-II-Quote fast flächendeckend zurück, sie hatte aber immer noch eine Spannweite von 35 Prozentpunkten (insgesamt) und mehr als 50 Prozentpunkten bei Leipziger/-innen unter 15 Jahren.“

Von Chancengerechtigkeit kann da keine Rede sein.

Die Kinder kommen nicht nur aus Familien, die nun seit Jahren schon versuchen, irgendwie in prekären Verhältnissen zurande zu kommen, wo das Geld für Anregungen und Bildung fehlt und auch die Eltern den Kindern keinen Ansporn geben können.

Und dann kommen sie in Schulen, die auf ihre mitgebrachten Handicaps nicht einmal reagieren, indem sie etwa einen Ausgleich schaffen für das, was diesen Kindern zu Hause fehlt. Sozialarbeiter sind kein Ausgleich, sondern ein Notbehelf. Mehr nicht.

Ein Ausgleich wären Schulen mit kleineren Klassen, besonders qualifizierten Lehrern und Extraangeboten, die den Kindern helfen, ihre Entwicklungshandicaps zu mindern und gleichzeitig Selbstvertrauen in ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Denn genau da fehlt es ihnen massiv.

Vor dem „Hintergrund gesellschaftlicher Teilhabe ist diese Situation als problematisch einzuschätzen“, heißt es im Bildungsreport. Und das ist noch harmlos ausgedrückt.

Wobei der Sozialbürgermeister weiß, dass das Problem früh beginnt, in den wenigen so wertvollen Jahren vor der Schule.

Aber viele Kinder aus sozial schwachen Familien gehen auch nicht in die Kita.

„Einzelne Nutzergruppen sind dennoch nach wie vor unterrepräsentiert, wie zum Beispiel Kinder mit Migrationshintergrund, die stark unterdurchschnittliche Beteiligungsquoten aufweisen. Etwa 40 % von ihnen werden eingeschult, ohne zuvor die Chance auf institutionelle Förderung genutzt haben zu können“, heißt es im Report. Aber bei Schuleintritt ist es schon zu spät. Da sind die wichtigsten Entwicklungsfenster schon zugeschlagen.

Nachgewiesener Förderbedarf bei den Schülern. Grafik: Stadt Leipzig, Bildungsreport 2016
Nachgewiesener Förderbedarf bei den Schülern. Grafik: Stadt Leipzig, Bildungsreport 2016

Die Probleme, die bei der Schulaufnahmeuntersuchung festgestellt werden, erzählen davon, dass viele Kinder eine falsche Kindheit erleben – ohne die nötigen Anregungen zu körperlicher und geistiger Bewegung, ohne sprachliche Herausforderungen. Viele verbringen ihre Tage mit den technischen Verdummungsgeräten unserer Zeit. Ergebnis: Bei 31,7 Prozent der Kinder werden Sprachprobleme festgestellt, bei 22,2 Prozent gibt es schon Probleme mit der Sehschärfe, 18,7 Prozent haben Probleme mit der Körperkoordination usw. Selbst diese Zahlen zeigen, dass es fast immer um ein Fünftel der Kinder geht, die in ihren frühen Jahren ausgegrenzt waren, nicht mitgetobt haben, weil sie vorm Bildschirm ruhiggestellt wurden. Und genau da lernt es eben nicht richtig sprechen noch denken noch neugierig sein. Sozial interagieren schon gar nicht.

Und das, was hier schon nicht passiert ist, das zieht sich dann durch die komplette Bildungskarriere und durchs Leben.

„Bedenklich ist, dass ein erheblicher Anteil der nach Rückstellung eingeschulten Kinder anschließend an einer Förderschule eingeschult wurde“, stellt der Bildungsreport fest. „2015/16 begannen von den 180 Einschüler/-innen der Förderschulen 69 nach einer vorherigen Rückstellung (38,3 %). Auf der anderen Seite wurden, wie in den letzten Berichtsjahren auch, 20 % der im letzten Jahr zurückgestellten Kinder an einer Förderschule eingeschult. Der Aufschub um ein Jahr reicht anscheinend vielfach nicht aus, um individuelle Entwicklungsverzögerungen aufzuholen. Eine geschlechtsspezifische Analyse des Einschulungsjahrgangs 2015/16 untermauert die Erkenntnisse der letzten Jahre. Jungen sind ungleich härter von der Selektion zur Schuleingangsphase betroffen. Sie werden mehr als doppelt so häufig wie Mädchen von der Einschulung zurückgestellt oder an einer Förderschule eingeschult.“

Das also auch noch. Das kommt dann oben drauf. Und da wollen wir noch gar nicht von den idiotischen Rollenbildern sprechen, die das Fernsehen für Jungen bereithält.

Und die Lage in Leipzig entspannt sich überhaupt nicht. Denn gerade für die Bevölkerungsgruppe, für die qualitativ wirklich gute Angebote geschaffen werden müssten, gibt es nicht mehr als 08/15.

„In Leipzig sank der Anteil der unter 15-Jährigen, die auf Leistungen gem. SGB II angewiesen waren in den letzten Jahren kontinuierlich, ihre absolute Zahl stieg allerdings seit 2010 an. Insgesamt war 2015 noch mehr als jede/-r fünfte Leipziger/-in unter 15 Jahren auf diese Transferleistungen angewiesen. Stadtweit betraf das insgesamt 16.394 Kinder und Jugendliche“, so der Bildungsreport.

Die sozialen Disparitäten zwischen den besser situierten und den sozial schwachen Ortsteilen in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig, Bildungsreport 2016
Die sozialen Disparitäten zwischen den besser situierten und den sozial schwachen Ortsteilen in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig, Bildungsreport 2016

Es ist schon erstaunlich, dass eine Gesellschaft wie die unsere glaubt, dass man ein Fünftel aller jungen Menschen einfach irgendwo abstellen und abservieren kann und dass das keine Probleme schafft, die unsere Gesellschaft dann unterminieren.

Denn lebenslange Chancenlosigkeit, die frisst sich auch mit sozialen Verwerfungen in unsere Gesellschaft.

Die Bilanz, die der Bildungsreport zieht, ist letztlich ernüchternd: „Neben dem gesondert gelagerten Fall der Förderschulen konzentriert sich das Thema auf Abgänger/-innen von Mittel-/Oberschulen in kommunaler Trägerschaft. Hier verließ mehr als jede/-r zehnte Schüler/-in die Schule ohne mindestens einen Hauptschulabschluss. Die entsprechende Quote lag konstant mindestens doppelt so hoch wie der Wert auf Landesebene. Diese Abgänger/-innen ohne Abschlusszeugnis wiesen zudem eine hohe räumliche Konzentration auf.“

Eigentlich wollte Leipzigs Stadtpolitik die sozialräumliche Segregation verhindern. Hat sie aber eindeutig nicht. Kann sie auch kaum, wenn sie keine Hoheit über Mieten, Kita-Qualität und Schul-Qualität hat, alles Themen, bei denen sich die sächsische Regierung verweigert. Das interessiert sie nicht. Oder die zuständigen Ministerinnen und Minister sind geistig überfordert, die Folgerungen aus diesen Problemlagen zu ziehen. Was wahrscheinlich der Fall ist. Sie kümmern sich lieber darum, die Hürden fürs Gymnasium zu erhöhen. Als wenn sie Menschen wie Möhrengemüse sortieren könnten und nicht in der Pflicht stünden, ein Schulsystem zu schaffen, das allen Kindern wirklich die gleichen Chancen bietet.

Jetzt wissen wir: Ein Fünftel aller Kinder hat praktisch keine Chancen und wird durch rigide Auslese immer weiter behindert.

Und die anderen Kinder versuchen – oft mit starkem Druck ihrer Eltern – sich wenigstens auf die Normalschule Gymnasium zu retten, weil die Oberschulen in Sachsen sich längst zu Null-Bock-Schulen entwickelt haben, Schulen, an denen Kinder lernen, dass es eigentlich egal ist, ob sie etwas aus sich machen oder nicht.

So frisst sich die Null-Bock-Stimmung in unsere ganze Gesellschaft hinein.

Noch mal aus dem Bildungsreport zitiert: „Das Bildungssystem in Leipzig neigt auch bei anderen Indikatoren zu einer hohen, sozialräumlichen Selektivität. Diese beginnt bereits bei den Einschulungen und lässt sich u. a. über die Bildungsempfehlungen der Klassenstufe 4, der Bildungsbeteiligung im Hauptschulbildungsgang und ausbleibenden Schulerfolg nachweisen.“

Und an jeder Schaltstelle sind die Möglichkeiten der Kommune, helfend einzugreifen, noch geringer.

Eigentlich erwartet man so langsam eine richtige Wutrede des sonst so beherrschten Sozialbürgermeisters – wahlweise im Stadtrat oder im Landtag. Denn das, was die bräsigen sächsischen Bildungspolitiker hier mit den Kindern der wirklich Armen anrichten, das ist brandgefährlich, dumm und verantwortungslos.

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