LeserclubGestern hab ich gestaunt. Zumindest, bis ich mir mit sechs Flaschen klatschianischem Wein einen angedudelt habe. So viele Nachrufe auf Terry hätte ich nie erwartet. Nicht in dieser Welt. Aber sie haben es doch noch registriert, meine sonst so ernsthaft unironischen Kollegen. Dass mit Terry Pratchett ein ganz Großer gestorben ist. Der kleine Bruder von Mark Twain und Charles Dickens.

Denn in dieser Welt sind wir alle Brüder. Brüder im Geiste. Da müssen wir nicht mal anrufen, um zu wissen: Das hat er jetzt wirklich für dich gesagt. Der alte Schlawiner. Gäb’s nicht ab und zu eine schöne Lady Sibyll an unserer Seite, wir kämen aus dem Lesesessel nicht mehr heraus, Gläschen in der Linken, Buch in der rechten. Im Hinterkopf immer die rumorende Depression. Da muss uns kein Doktor Freud kommen, um uns zu erklären, dass es da sehr unerfreuliche Dinge in den Kerkerdimensionen gibt. Von denen das Unerfreulichste ist, wenn sie die Kerkerdimensionen verlassen.

Was in der hiesigen Welt ja bekanntlich der Normalfall ist. Wer hätte das besser gewusst als Terry? Oder Kurt? Oder Douglas? Und ihre Leser. Das müssen doch erstaunlich viele gewesen sein. Auch wenn er nie den Nobelpreis bekommen hat. Wahrscheinlich gibt es zwei Kriterien, die man nie verletzen darf, wenn man überhaupt mal auf die Kandidatenliste für diesen und all die anderen aufpolierten Preise kommen möchte: Man darf keinen Humor haben. Und keinen Witz. Witz im ganz ursprünglichen Sinn: von gewitzt sein. Wissen, wie’s funktioniert.

Auch dieser doppelbödige Witz, der entsteht, wenn man als Schreiberling unterwegs ist in den niederen Gefilden der Menschheit. Ja, Schreiberling, so, wie man von Leuten genannt wird, denen man ein bisschen zu sehr auf die Füße getreten ist. Die sich gestört fühlen in ihrem Mustopf aus Ignoranz: Nicht stören! Wir weigern uns, hier Licht reinzulassen! Raus hier!

Und wenn man dann doch mal schreibt über diese finsteren Gestalten, die sich gern Die Leute nennen. Oder “Das Volk”, dann bekommt man die Drohungen gleich im Massenversand.

Da unterscheiden sich die Leute in der englischen Provinz kein bisschen von denen in der amerikanischen Pampa und in der sächsischen Einöde. Habe ich Mark und Roger schon erwähnt, die in den gut bestückten Buchhandlungen gern in der Spaßabteilung versteckt werden? Genauso wie Terry in der Fantasy landet. Obwohl wir alle miteinander eine eigene Abteilung verdient hätten: Wütende große Jungs.

Wir wissen, wo wir herkommen. Wir kennen diese ganze Lumpenbande, die einem schon von klein auf klarzumachen versucht, “wo man hingehört”. Und wo man stört. Wo man lästig ist, weil man zu viel wissen will. Aber das ist unsere Natur. Wir wollten schon immer wissen, wie das alles funktioniert. Auch wenn uns oft genug war wie Rincewind, wenn er merkt, dass es brenzlig riecht: Nur weg hier. Aber in jedem von uns steckt auch ein gutes Stück von diesem Kommandeur Mumm. Wir sind in dünn gelaufenen Stiefeln durch die verrufensten Viertel in unserer Stadt gelaufen. Wir erkennen jeden Pflasterstein und jedes Flickenmuster, wenn wir drauf treten. Und wir kennen diese Wut auf die feinen Herrschaften in den Hinterzimmern, die glauben, ihnen gehöre die Welt.

Eigentlich war es immer nur eine Frage der Zeit, bis Terry auch mal über das Zeitungmachen schreibt. Da kam er ja her. Wie die anderen aus unserer Runde auch alle. Von ganz da unten, aus der lokalen Provinz, wo man es mit Kanarienzüchtern, Fußballfans und Bürgermeistern zu tun bekommt, die “auf unsere anständige Gemeinde” nichts kommen lassen: Raus hier! Verschwinden Sie. – 2000 hat er sich das Thema mal vorgenommen: “The Truth” (deutscher Titel “Die volle Wahrheit”).

Wer sich so weit durchgelesen hat, durch Terrys Welt, der weiß, wovon wir hier reden. Und warum wir überhaupt darüber reden. Denn die Wahrheit ist: Das Meiste, was Leute so erzählen von dem, was – wie sie mit strenger Miene behaupten – so ist, wie es ist, ist nicht so. Nicht mal die Presse.

Oder mal Lord Vetinari zitiert, wenn er dem emsigen William de Worde am Ende von “The Truth” ein wenig aufs Zahnfleisch fühlt:

“Meinst du die Geschichten über Menschen fressende Goldfische und irgendwelche Ehemänner, die von großen silbernen Scheiben entführt werden?”

“Nein, Herr. Das sind die Dinge, an denen die Öffentlichkeit interessiert ist. Wir kümmern uns um den anderen Kram, Herr.”

Wer uns kennt, weiß, dass wir uns auf gewiss manchmal nervtötende Art “um den anderen Kram” kümmern. Und durchaus unwirsch reagieren, wenn uns Leute wieder mal diverse komische Gemüse andrehen wollen. Oder Events. Stars. Tolle Aktionen. Dinge, die die Leute doch interessieren.

Nur uns nicht. Überhaupt nicht. Oder um mal den eigenwilligen Lord Vetinari weiter zu zitieren:

“Nun, wir haben also Dinge, an denen die Leute interessiert sind, und Geschichten, die das menschliche Interesse treffen. Hinzu kommt das öffentliche Interesse, an dem niemand Interesse zeigt.”

“Abgesehen von der Öffentlichkeit, Herr”, warf William ein und versuchte, nicht den Überblick zu verlieren.

“Was nicht das Gleiche bedeutet wie Leute und Menschen?”

“Ich glaube, es ist ein wenig komplizierter, Herr.”

“Offenbar. Glaubst du, die Öffentlichkeit unterscheidet sich von den Leuten, die du draußen siehst? Die Öffentlichkeit denkt große, vernünftige Gedanken, während die Leute herumlaufen und Dummes anstellen?”

“Ich glaube ja. Vielleicht sollte ich noch etwas gründlicher über diese Vorstellungen nachdenken, Herr.”

“Hmm. Interessant. Mir ist aufgefallen, dass Gruppen intelligenter und vernünftiger Leute auf sehr dumme Ideen kommen können …”

Und so weiter. Terry kannte seine Pappenheimer und sein Metier. Und er war wütend. Richtig wütend. Es kommen eine Menge Leute in seinen Büchern vor. Eigentlich in jedem. Jedes Mal ein Haufen “intelligenter und vernünftiger Leute”, die eine Kette von Ereignissen in Gang setzen, an deren Ende eigentlich nur eine Katastrophe stehen kann. Wenn nicht Typen wie Mumm, Karotte oder auch dieser vom Stamm der de Wordes gefallene William jedesmal so einen Drang verspürten, sich für die Dinge und die Leute verantwortlich zu fühlen.

Und – naja – einzugreifen. Auf ihre Art. Zum Beispiel, die Dinge so zu erzählen, dass sie Sinn ergeben. Was beim täglichen Unsinn nicht immer ganz einfach ist. Oder um noch einmal Vetinari, der in den Folgebänden dann einer der aufmerksamsten Leser der “Ankh Morpork Times” wurde (und besonders ihres täglichen Kreuzworträtsels), zu zitieren: “Dinge, die verkehrt herum sind, kann man manchmal besser begreifen, wenn sie auch auf dem Kopf stehen. Im Leben ebenso wie in der Politik.”

Das weiß man irgendwann, auch wenn man nur – wie William – jeden Tag versucht, die Dinge zu begreifen.

Wenn Sie also demnächst irgendwelche Burschen mit Kamera und Notizblock sehen, die in aller Öffentlichkeit einen Kopfstand machen, dann könnten das ein paar Burschen von uns sein. Und wenn ihnen so ein zerlesenes Bändchen von “The Truth” aus der Manteltasche fällt, dann erst recht. Das haben unsere Jungs alle schon als simple Meditationshilfe für jeden Tag in der Tasche, wenn uns wieder mal Leute was von komischem Gemüse erzählen wollen. Oder diverse Besorgte Bürger glauben, sie müssten jetzt Die Zügel in die Hand nehmen oder Die Welt in Ordnung bringen. Es passiert nicht nur in der englischen Provinz. Oder montags, um mal so ein Beispiel zu nennen von neulich.

Es passiert jeden Tag. Irgendwo. Und die meisten Leute sehen dabei aus, als hätten sie tatsächlich einen Schulabschluss und einen Doktortitel. Und sind so freundlich, dass man sogar dankbar ist, wenn sie einem nur das Geld aus dem Portemonnaie stibitzen. Und nicht auch noch den Kassenbon vom Flaschenpfand.

Natürlich werde ich jetzt darben. Denn mir geht es wie den anderen Freunden von Terry auch: Eigentlich hatten wir uns alle gewünscht, dass er uns alle überlebt und immer so weiter macht. Alle halben Jahre ein neues Buch. So ein Buch, das wie ein dicker, liebevoller Brief war, jedesmal. So eine Ermunterung in Großbuchstaben oder in kursiv: Verzagt nicht. Macht euren Kram. Ihr seid nicht allein.

Heute aber fühl ich mich so. Morgen vielleicht auch noch. Aber in der Dunkelheit lauert die Druckerpresse. Na gut. Bei uns ist es ein Programm auf dem Computer. Aber das ist noch viel hungriger, als so eine gute alte gut geölte Druckerpresse.

“In finsterer Nacht wollte sie zum Leben erweckt werden, für das Licht des Morgens. Sie zerhackte die Komplexitäten der Welt in kleine Geschichten, und sie war immer hungrig.”

Mach’s gut, Terry, und Danke für alles. Wir kümmern uns um den Kram.

Alle Zitate aus aus der deutschsprachigen Übersetzung von “The Truth”: “Die volle Wahrheit”, übersetzt von Andreas Brandhorst.

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