LeserclubManchmal fühlte er sich dann doch wie Stülpner Karl, mit schlechtem Gewissen im Wald unterwegs, auf Schwarzkitteljagd. Nur der Oberförster durfte ihn nicht erwischen. Nur dass für Stülpner die Lage überschaubar war. Die Obrigkeit näselte und setzte Kopfprämien auf ihn aus. Nur mit seinen erlegten Schweinen durfte er sich nicht erwischen lassen.

Das Gefühl, dass er auf verbotenem Grund jagte, wurde Herr L. auch an diesem Tag nicht mehr los. Obwohl er es nur zu gut kannte. Denn immer, wenn Geschichten tatsächlich brisant waren, begann in dieser Stadt das große Schweigen, riefen Pressestellen nicht zurück, ließen sich Amtsinhaber verleugnen, kamen nur noch Floskeln aus den Vorzimmerbüros, waren Verantwortliche auf einmal nicht mehr verantwortlich, Akten nicht mehr auffindbar oder zur Verschlusssache erklärt worden.

Jetzt noch einmal im Archiv des Rathauses anrufen?

Vergebene Liebesmüh.

Die Akten lagen bei der Staatsanwaltschaft. Doch die versuchte heute alles zu dementieren. Also rief er den unwirschen Kommissar an. Der ihn unwirsch anschnaufte. „Glauben Sie wirklich, dass ich zaubern kann, Herr L.?“

„Das nicht“, sagte L. und überhörte das Schnaufen lieber. „Aber ich glaube schon, dass Sie ein ausgesprochen seltenes Relikt sind.“

Das hätte schiefgehen können. Das wusste er selbst. Die Zeiten, dass man Menschen die Wahrheit ins Telefon sagen konnte, waren tatsächlich vorbei. Vielleicht hatte es sie auch nie gegeben und es war damals genauso weitergegangen wie vorher. Die Leute wechselten nur die Masken, ihre Heiligenbilder und die Phrasen, mit denen sie einen Nebel falscher Botschaften um sich verbreiteten. Aus Wölfen, Schakalen und bissigen Schäferhunden wurden Dalmatiner, Zwergpinscher und frisch gefönte Pudel. Sie taten so, als würden sie niemandem mehr Angst einjagen.

Aber warum hatte L. dann diese Träume?

Und warum rutschte ihm so ein Spruch ausgerechnet bei diesem humorlosen Ex-Polizisten heraus, dessen Stimme spürbar schärfer wurde, als er fragte: „Wie meinen Sie das?“

Zögern? Entschuldigen? Lieb-Kind-Machen?

„Genau so, wie ich es gesagt habe“, sagte L.. Augen zu und durch. Wenn der Mann nicht mitspielte, würde keiner mitspielen. „Sie haben ihren verdammten Job immer ernst genommen. Das meine ich.“

„Tun andere auch“, grunzte der Ex-Kommissar.

„Verarschen kann ich mich allein“, sagte L. „Von den Typen, die heute da sitzen …“

„Nichts über die Kollegen, Herr L.“

Also war auch das abgehandelt. Da brauchten zwei wirklich kein langes Techtelmechtel, um zu klären, dass sie die Dinge erstaunlich ähnlich sahen. Vielleicht würde L. sogar irgendwann noch einen Namen bekommen, den Namen des Staatsanwalts, der damals den Stecker gezogen hatte. Denn das war ihm ja so langsam klar: Da hatten ein paar Freunde dafür gesorgt, dass auch dieser grimmige, bissfeste Kommissar nicht mehr weiterkam. Oder weiterdurfte. Und auch im Ruhestand noch vor sich hinkochte vor Wut.

„Ich hab also noch nichts für Sie.“

„Aber ich“, sagte L.

„Noch einen Namen, von dem ich noch nie etwas gehört habe?“

Und so trafen sie sich wieder am bekannten Platz, auch wenn beiden diesmal nicht nach dem beharrlichen Ticken der Uhren drinnen im halbdunklen Schankraum der „Allerletzen Instanz“ war. Eine Bank im angrenzenden Friedhof tat es auch. Der Friedhof war eh fast verlassen um die Zeit. Nur der Waschbär wühlte ungerührt im Kompost und die Friedhofsgärtner unterhielten sich, auf ihre Rechen gestützt, friedlich über das Wetter.

Doch L. gab dem Alten nicht gleich das Foto von Arthur Miller. Das hatte Zeit. Er reichte ihm erst einmal das Foto von jenem Unfall, über den sich Kollege Stacheltier gerade erst so aufgeregt hatte. Und wenn er erwartet hätte, dass der Alte irgendeine Regung zeigte, dann hätte er sich geirrt. Hatte er aber nicht. Da wartete er lieber, bis der nach einem Minütchen aufmerksamen Betrachtens so weit war und sagte: „Und was …“

Und dann legte er ihm das Foto dieser längst vergangenen Betriebsfeier vor.

„Sie wissen es ganz genau, Herr Kommissar. Und Sie waren auch nicht zufällig am Unfallort, als mein Kollege das Foto gemacht hat, stimmt’s?“

„Ich hab ihm einfach gesagt, er soll sich verpissen.“

„Und dann hat Ihnen ein anderer gesagt, dass Sie sich verpissen sollen, stimmt’s?“

„Wer sollte das gewesen sein?“

„Der da“, sagte L. und zeigte auf den Fuchs, der die Prinzessin so besitzergreifend umarmt hielt.

„Das hatte damit nichts zu tun.“

„Er hat Sie trotzdem abgewimmelt, stimmt’s?“

„Ich lass mich nicht abwimmeln.“

Kleine Schweigepause. Ein paar beleidigte Spatzen, die nun schon 5 Minuten darauf warten, dass einer von beiden eine Brotkrümeltüte aus der Tasche zog. Aber sie hatten beide keine Brotkrümel mitgebracht

„Welche Strafen sind eigentlich so üblich fürs Nicht-Abwimmeln-Lassen?“

Auch die Frage blieb kurz in der Luft hängen. Herr L. wusste, dass der Alte wirklich darüber nachdachte, ob er ihm das noch erklären musste. Also erklärte er es lieber nicht. Grunzte nur kurz und versuchte L. das Foto wieder zurückzugeben. Doch L. legte lieber noch die Vergrößerung des Mannes obendrauf, der da am Rand stand, als gehörte er nicht dazu.

„Was ist mit dem?“

„Haben Sie damals ein Phantombild angefertigt?“

„Von dem Fahrer? Den hat keiner …“

„Nein. Von dem Toten im Zoo.“

Und jetzt blinzelte der Alte tatsächlich, als hätte L. ihm nach 20 Jahren überraschenderweise eine Geburtstagstorte auf den Tisch gestellt. Eine mit Wunderkerze obendrauf. Und weißem Kaninchen drin.

„Wir haben das Bild nie veröffentlicht. Wollte Dr. …“

Fast wäre ihm der Name herausgerutscht. Diesmal schien es ihm wirklich peinlich zu sein.

„Sorry. Werde wohl doch ein bisschen tatterig. Bin nachher im Präsidium.“

„Kann ich …“

„Vergessen Sie’s. Dann pfeifen’s die Spatzen …“

„Kann Ihnen doch nicht …“

„Sie haben ja keine Ahnung“, sagte der Alte, der viel flotter aufgestanden war, als L. ihm zugetraut hätte. Die Fotos hatte er in seiner Manteltasche verschwinden lassen. Und ob er sich überhaupt verabschiedet hatte oder nur kurz genickt hatte, bevor er davoneilte, das wusste L. hinterher gar nicht, als er sich allein auf der Bank sitzen sah und die Spatzen wieder landeten, die kurz aufgestoben waren.

Deswegen wusste er auch nicht, ob der Alte tatsächlich noch gesagt hatte. „Sie sollten die Finger davon …“

Oder ob er nur so eine Geste gemacht hatte. Oder nur der Windstoß so ein Gefühl erzeugte, den der Alte hinterließ.

Sollte er vielleicht doch lieber über Schönheitsköniginnen, Riesenkohlrabi und Feuerwehrfeste schreiben? Autohauseröffnungen, Kinderpartys und stolze Benefizveranstaltungen … ? Die Spatzen jedenfalls guckten ziemlich beleidigt, als er dann auch einfach aufstand und ging. Sie pfiffen zwar nicht, aber sie zwitscherten empört. Erst recht, als L. die Tüte mit dem belegten Brötchen aus der Manteltasche fischte, die ihm seine Mascha wieder heimlich hineinpraktiziert hatte, bevor er heute Morgen in den Tag stürmte. Die Spatzen bekamen nichts ab. Und Oleg auch nicht. Der saß mit Oleg zusammen im Tschaika und schaute L. vorwurfsvoll an. „Du spielst mit deine Leben, du Chundesohn.“

„Mach ich schon mein Leben lang“, sagte L.

„Ach, chast du etwa Schutzengel große?“

„Hab ich“, sagte L. Wollte heute aber lieber nicht Tschaika fahren.

„Steig ein“, sagte Oleg.

„Fahre auch ganz langsam“, fügte der andere Oleg hinzu. Die beiden nickten. L. stieg ein. Und die Reifen quietschten als der Tschaika ganz langsam losfuhr.

Alle Teile der Serie zum Nachlesen.

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