LeserclubMan kann aufpassen wie ein Schießhund und dann macht man doch den einen Fehler, der alle Mühe zunichte macht. Herr L. wusste es ja eigentlich, aber es dann von Kollege Stachelschwein so unter die Nase gerieben zu bekommen, das verwirrte zumindest. Das zerpustete auch noch das letzte bisschen Euphorie. Und dabei hatte er sich ja nur verplappert. Die Teetasse hatte ihn verraten.

„Ich denke, ihr habt euch schön konspirativ getroffen? So wie zwei echte Spürhunde, die wissen, dass der Große Bruder immer mithorcht?“

„Haben wir doch. Auf dem Friedhof …“

„Aber woher weißt du das mit der Teetasse im Flur …“

„Hat er mir …“

„Halt!“ Wenn er wollte, konnte auch Kollege S. sehr autoritär wirken. So wie ein alter Fußballtrainer, dem zwar der Bauch über den Gürtel hing, der aber seinen besten Stürmer noch allemal ausdribbelte und dabei auch noch so gekonnt foulte, dass der nicht mal ahnte, wie ihm geschah. Wobei: Herr L. würde sich nie als besten Stürmer in der Mannschaft bezeichnen. Eher als guten Dribbler und Passspieler. Auch wenn ihn Kollege S. jetzt beinah umrempelte, als er ihn anbrummte: „Hör auf, mich auf den Arm zu nehmen.“

Das „Bürschchen!“ ließ er lieber weg. Denn eigentlich waren sie ja doch Kollegen und arbeiteten meist ganz gut zusammen. Flanke rechts, kurzes Dribbling, Rückspiel, Toooooor! Manchmal zumindest.

Aber diesmal …

„Er hat es mir erklärt, als ich bei ihm war.“

„Wann?“

„Ein, zwei Tage vorher …“

„Ein, zwei Tage? Datum! Uhrzeit? Hast du es nicht ….“

„Nein, hab ich nicht.“ Wurde L. laut? Nicht wirklich. Er wusste ja selbst, dass es wohl der entscheidende Fehler gewesen war. Wen immer sie aufgeschreckt hatten, der war in dieser seltsamen Woche putzmunter gewesen. Und das betraf nicht einmal die so wirkungsvoll eingesetzten Muskelträger des schrecklichen Iwan, die möglicherweise ein bisschen Eindruck schinden sollten. Vielleicht aber auch nur ablenken sollten.

Denn am Ende – das musste L. zugeben – hatte er die nötige Aufmerksamkeit vermissen lassen. Nur weil er endlich wissen wollte, wer denn nun die Spinne im Zentrum war. Wenn es denn eine Spinne gab. Und nicht viele Spinnen, die sich gegenseitig belauerten. Und die sich gegenseitig die Beute nicht gönnten. Darum ging es wohl letztlich, als L. die seltsamen Dokumente über die dubiosen Konten der Raubtiere zugespielt wurden.

Wann fiel dieser Groschen?

Jedenfalls nicht in dem Moment, als Herr L. unverhofft vor der Wohnungstür des alten Kommissars stand und auf den Klingelknopf drückte. Auch wenn er im Nacken das krabbelnde Gefühl hatte, das er immer hatte, wenn er mit seiner eigenen Entscheidung nicht im Reinen war. Auch so etwas bildet sich heraus über die Jahre. So ein die ganze Haut erfassendes Gefühl, das einem signalisierte, dass etwas nicht stimmte.

Aber er hatte den Alten längst im Verdacht, dass der ihm nicht alles erzählte. Auch nicht, was er wirklich über August Miller wusste, die ganze Zeit gewusst hatte, aber augenscheinlich lieber für sich behielt.

An die Szene erinnerte er sich nur zu gut, wie die Tür sich einen Spalt weit öffnete. Der alte Kommissar was wohl zu Recht misstrauisch. Und dann wurde die Tür aufgerissen, Herr L. ins Innere gezerrt, die Tür wieder zuschlagen. Drinnen war es stockdunkel. Der Alte zischte: „Wie können Sie nur …!“

Und L. wollte den Gelassenen spielen. „Machen Sie mir doch nichts vor. Ihnen ging es nie um diesen blöden Russen ….“

Und dann wollte er wohl mit einem stolzen Schritt in die angrenzende Küche schreiten, den Mantel kühn schwenkend in halber Drehung. Na ja – und dabei fegte er die im Dunkeln bereitgestellte Teetasse um. Dass es schepperte und klirrte.

„Das war ein Erbstück, junger Mann!“

***

„Erzähle mir jetzt nichts von Erbstücken“, unterbrach ihn Kollege S. „Irgendwer ist dir die ganze Zeit gefolgt …“

„Ja.“

„Was heißt hier: Ja? – Du hast die ganze Geschichte versaut …“

„Nein.“

„Was heißt hier nein?“

„Ich konnte sie nicht versauen. Nicht mehr an dieser Stelle.“

„Aber jetzt wussten sie, dass der Alte eine Rolle spielt …“

„Das wussten sie schon vorher.“

„Ach …“

Da war auch Kollege S. einmal sprachlos. War er doch bis jetzt davon ausgegangen, dass Herr L. in seiner eiligen Naivität erst die Raubtiere auf die Spur des alten Kommissars gebracht hatte, die ihm dann ein, zwei Tage später die Bude heimsuchten und dabei den Tee im Flur verschütteten.

„Das heißt …“

„Ja.“

Da waren sie also beinah wieder quitt. Obwohl die Geschichte damit eine ganz neue Wendung nimmt. Eine – so erinnerte sich L. – die auch der Alte schon andeutete, auch wenn ihn der Hausbesuch dann dennoch schockte. Da war selbst dieser hartgesottene Polizeier augenscheinlich ein braver, blauäugiger Bürger, der selbst nach Jahrzehnten im Polizeidienst annahm, der Freund und Helfer sei ein netter, gesetzestreuer und bürgerliebender Zeitgenosse. Einer, der nur das Böse bekämpfen möchte.

Das Böse.

„Wissen Sie, was das Böse ist, junger Mann?“

Genau das hatte er ihn gefragt, als er ihm noch mehrmals versichert hatte, über keins der großen Raubtiere irgendwo eine Akte versteckt zu haben. Oder was auch immer so ein alter Kommissar aufbewahrt in der Hoffnung, einen nicht gefundenen Mörder am Ende doch noch dingfest zu machen.

„Das Raubtier in uns“, versuchte es L. mit Dostojewski oder wo immer er das herhatte. Aus „Schuld und Sühne“ vielleicht, dem Buch, das ihm seinerzeit eine Woche schulfrei verschaffte, weil er danach rasende Kopfschmerzen hatte, die einfach nicht weggehen wollten. Der Hausarzt spottete sogar: „Jetzt haben Sie einen Knoten im Kopf, junger Mann. So ein Buch darf man mit zwölf Jahren noch nicht lesen. Das überfordert ihr armes kleines Köpfchen.“

Erst später erfuhr L., dass es die miserabelste Übersetzung gewesen war, die je von „Verbrechen und Strafe“ angefertigt worden war. Hingeschludert.

Aber mit Dostojewski konnte auch der Alte nichts anfangen. „Das ist Blödsinn. Was für Esoteriker, glauben Sie mir.“

„Und was ist nun das Böse?“

„Unsere Feigheit.“

Was für eine Erkenntnis. Vielleicht hatte Herr L. diesen überstürzten Besuch deshalb so schnell verdrängt und den Alten abgehakt. Weil er das nun nicht gerade für das Böse in der Welt hielt. Eher den Grund dafür, dass das Böse immer Macht bekam. „Sie müssen dich nicht einmal einschüchtern. Sie müssen dir nur Honig ums Maul schmieren, ein bisschen stupsen, bist doch ein kluger Bursche, lass die Finger davon, sei ein guter Genosse, mach’s dir doch nicht so schwer, lass die nur machen …“

War da was?

Der Alte war ihm ausgewichen. Auch wenn es einen Moment so klang, als hätten sie ihm mit solchen Worten damals den Fall aus den Händen genommen.

Nur keinen Staub aufwirbeln, bist doch ein kluger Junge, willst doch noch Karriere machen, lass die mal machen …

Nur dass er es nicht abhaken wollte. Oder konnte.

***

„Und dann hat er sich von so einem popligen Wohnungseinbruch einschüchtern lassen? Glaub ich nicht.“

Ja, wie wirkte der alte Mann wirklich, als er bei L. und seiner Mascha auftauchte und regelrecht durch den Wind war? Eingeschüchtert? Verängstigt? Eigentlich doch nicht. Eher wie einer, der eben noch einmal ein bisschen Lust zum Leben gefunden hatte, weil er in diesem seltsamen L. vielleicht sich selber entdeckte, wie er mal war vor vielen Jahren, neugierig, unermüdlich, naiv wie eine Mohrrübe?

Auch dann nicht zu entmutigen, wenn die Verdächtigen sich wegduckten, alles abstritten, sogar öffentlich. Da hätten doch ein paar handfeste Grundstücksakten und Verkaufsurkunden geholfen, einige vielleicht mit dem Namen August Miller drauf, die in dubiose Hände geraten, seit der Mann zerfleischt im Löwenkäfig lag …

Hätte, könnte …

Eher wirkte er wie einer, der mit der neuen Enttäuschung nicht zurechtkam und eigentlich schon wusste, dass die Feigheit längst alles durchdrungen hatte in diesem Städtchen. Seine Kollegen, wenn er sie denn so nennen mochte, hatten sich nicht wirklich Mühe gegeben, ihre Spuren zu beseitigen. Auch wenn das mit der leeren Teetasse nur dilettantisch aussah. Vielleicht wollten Sie ihm wirklich nur klarmachen: „Lass die Finger davon. Wir stehen nicht auf deiner Seite.“

Aber entziffert hatte er das wohl für sich etwas anders.

„Aber wie?“

„Es kam ihm wohl irgendwie sehr vertraut vor.“

„Jetzt sag nicht, dass sich die Zeiten wiederholen …“

„Sag ich ja gar nicht. Ich sag nur, dass sich die Menschen nicht ändern.“

„Sie lernen dazu …“

„Sie lernen nichts dazu. Wollen sie gar nicht. Sie wollen nur ihr kleines, geschenktes Leben leben.“

„Ach Gottchen, da hat er euch den ganzen Abend die Taschentücher vollgeheult?“

„Hat er nicht. Er wollte nur, dass ich das weiß …“

„ … was du für einen Bock geschossen hast …“

„Vielleicht. Aber du weißt es ja selbst.“

„Was weiß ich?“ War da ein Knurren in der Stimme von Kollege Stachelschwein?

„Es ist egal“, sagte L. „Völlig egal …“

„Wie kannst du …“

Ja, wie kann einer wie L. gerade das Edelste in einem Beruf wie diesem infrage stellen? Fragte sich L. natürlich auch. Und er wusste auch genau, seit wann er sich das so fragte. Und warum ihn das nicht mehr kränkte. Womit der Tag näherrückt, von dem Don Leone heute noch immer schwärmt.

Gab es vorher noch ein paar Telefonate? Kollege S. hatte da so etwas gehört.

Die ganze Serie „Und was passiert jetzt?“

 

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