LeserclubSelbst am Montag würde Herr L. nur mühsam rekonstruieren können, was am Sonntagabend tatsächlich geschehen war. Dass es Margarita darauf angelegt hatte, die ganze schön frisierte 1. Reihe in Aufregung zu versetzen, zu piesacken und zu ärgern, war nicht zu übersehen. Man merkte, dass gerade der Ausflug über die Dächer der Stadt in ihr die alte, nie vergessene Wut wieder entflammt hatte.

Nur dass die sich in ihren Liedern in eine grimmige und grollende Beschwörung verwandelte, in das böse Lied von den Räubern im Wald, sogar die Melodie von „Money, Money“ hatte sie in ihr letztes Lied verwoben. Und wer die letzten Jahre in L. gelebt hatte, musste wissen, wer gemeint war. Und wie sehr das in der Stadt die Enttäuschung hatte wachsen lassen. Die Diva war ganz bestimmt nicht die einzige, die das Gefühl hatte, dass ihr die Stadt regelrecht unter den Füßen weggezogen wurde, sich in etwas wattiges verwandelte, ein Billigangebot mit fettem Preisschild, das irgendjemandem gehörte, irgendeiner seltsamen Firma, irgendwelchen Leuten, die immer schon da waren.

Selbst dann, wenn der Bürgermeister endlich genug Geld beisammen hatte, um einen lang gehegten Traum zu erfüllen – aber dann verwandelten sich die Träume in ein jahrelanges Gezerre um Grundstücke, die mitten in der Stadt lagen, abgesperrt mit rostigen Zäunen, leergefegt und so karg, dass man sich eigentlich nur noch Bagger und Maurer und gewaltige Kräne wünschte.

Die nie kamen, weil der Preis nicht stimmte.

Und es passierte nichts. Nur der Wind wehte Papierfetzen darüber. Stadträte stritten sich. Und manchmal brach eins der leer geräumten Häuser einfach unverhofft zusammen. Der Beleuchter schien endgültig dem Wahnsinn verfallen, ließ vor allem die roten und gelben Lichter über die Bühne spritzen, als lodere die Sängerin, sei selbst nur ein Funke in einem riesigen Funkenregen, hielt kurz inne, während ein weißgeschminkter Clown auf die Bühne kletterte – jedenfalls wirkte er so auf Herrn L. – die Musik setzte aus, ließ den ganzen Saal unverhofft abbremsen, ganz so als wäre man eben noch in furioser Fahrt mit der Entfesselten über die geduckten Dächer der Stadt gerast.

Und auf einmal diese Stille, in der der Clown mit schnarrender Stimme freudig zum Mikro griff und verkündete: „Seid mir willkommen, liebe Leute. Willkommen zur Wiedererweckung dieses wunderrrrrrschönen Kinos, die morgen beginnen wird. Die Bauarbeiter sind bestellt, die Pläne sind genehmigt. Unser geliebterrrrrrr Bürgerrrrmeisterrr selbst hat zugestimmt. ES KANN LOSGEHEN …“

Leise Klatscher hinten im Saal. Man war ja noch mitten in der Aufregung, völlig überdreht, der Puls raste, die Augen glühten – und jetzt diese seltsame Rede. Wer war der Clown?

Ein Bauschild hatte auch Herr L. nicht gesehen. Selbst die Container vom Vortag waren verschwunden. Er hatte so eine Ahnung. Denn wer organisiert schon so ein Konzert und setzt die heiligen Retter der Stadt alle in Reihe 1 als wolle er sie – ja – ein bisschen beschämen? Das musste es wohl sein.

Schon vorher war in dieser Reihe die Unruhe am größten gewesen. Und tatsächlich standen dort die Ersten auf. Der Abgeordnete mit dem Fuchsgesicht als erster, der seine Frau nach sich zog und irgendetwas zur Bühne rief.

Aber der Clown zuckte nur mit den Schultern.

„Laufen Sie nicht weg. Wir laden Sie ein! Wir haben für alle ein schönes Buffet zubereitet und Sie werrrrrrrden staunen: Ab heute sind die Gäste in diesem Haus wieder KÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖNIG! Bleiben Sie also da, freuen Sie sich, feiern sie mit uns …“

Und der Bursche hatte sichtlich Talent, warf sich in die Brust, verneigte sich – mitten hinein in den Trommelwirbel, der aber keinen Vorhang ankündigte, sondern das letzte Lied Margaritas, in dem sie noch einmal den Saal zum Raunen brachte, am Ende tatsächlich zum Mitklatschen, auch wenn sich sichtlich die meisten sträubten, im Takt mitzuklatschen. Das war ja doch keine Fernsehshow. Das war etwas anderes. Seltenes. Lange nicht mehr Erhofftes.

Und nur die 1. Reihe leerte sich, einer nach dem anderen verschwanden die Prominenten der kleinen Stadt. Oder auch der kleinen Zeitung, hätte Herr L. hinzufügen können, genau jene Leute, die man ins Bild hob, wenn man das dumme Gefühl hatte, dass alles, was wirklich zählte, in kleinen Zirkeln und hinter mattglänzenden Türen entschieden wurde. In jenen Dickichten, in denen das Gezänk aus dem Stadtrat keine Rolle spielte und die Wünsche und Sehnsüchte all dieser Leute aus ihren kleinen, schattigen Wohnungen erst recht nicht.

Da zählte etwas anderes, der Glanz großer Summen zuallererst, die Beharrlichkeit von Leuten, die genau wussten, dass alle Paragraphen für die geschrieben waren, die sich die teuersten Anwälte leisten konnten. Und die vor allem warten konnten. Wer hat, dem wird gegeben. Das war schon immer so.

Aber es war Margarita, die von Räubern sang, den Räubern im Wald, dem dunklen, finsteren.

Und mit dem Bild des nachtschwarzen Waldes ließ sie ihr Konzert ausklingen, erloschen die Bühnenscheinwerfer, brach ein Beifall los, wie ihn sich die Sängerin so oft gewünscht hatte. War denn das Herz dieser Stadt so schwer zu erobern?

Und die Aufgeweckten klatschten auch noch, als das goldgelbe Saallicht anging und die eifrigen jungen Männer mit den Serviertüchern auftauchten und die langen, beladenen Tische an der Saalseite sichtbar wurden, zu denen sie alle strömten. Fast alle. Einige schien es wirklich unwiderstehlich zur Bühne zu ziehen, um mit dieser so lange nicht gehörten Sängerin wenigstens ein paar Worte zu wechseln.

Sich tief bewegt zu bedanken. Da waren die Herrschaften aus Reihe 1 schon längst abgefahren, strömten die Ersten hinaus auf die Straße, voller Sehnsucht, die Luft dieser Stadt zu atmen und das gerettete Kleinod noch einmal von außen zu betrachten. Denn recht hatten sie ja: Diese Stadt gehörte ihnen. Das war ihre Heimat, Ihr Ort, an dem sie Mensch gewesen waren und jung und – voller Leidenschaft.

Nur wenige wunderten sich, dass draußen mehrere Polizeiwagen standen. Nur wenige wunderten sich auch, als die jungen Männer auf einmal begannen, die Leute zu bitten „Schnell, schnell!“ hinauszugehen. Herr L. sah Don Leone, erstaunlich aufgeregt und mit feuchtem Haar, als wäre er eben erst aus der Garderobe gekommen. Er kam direkt auf sie zugeschossen: „Es brennt! Alle müssen raus!“

Und Herr L. schaute kurz nur zur Bühne, wo Margaritas Musiker versuchten, sich eilig ihre Instrumente zu greifen und dann selbst mit hinauszudrängen. Auch die Seitentüren waren geöffnet worden. Den leichten Brandgeruch merkte man schon. Was die Hektik noch verstärkte, mit der alle zu den Türen drängten. Herr L. natürlich zutiefst besorgt, dass seine Mascha dabei nicht unter die Füße geriet.

Da zog er sie draußen lieber noch weiter weg, lieber nicht stehen bleiben so dicht am Kino. An der Ecke tauchten auch schon die blauen Lichter der Feuerwehr auf. Kurz sah er Don Leone noch wütend auf einen der wartenden Polizisten einreden. Dann war der Himmel nur noch rot, von Funken durchlodert. Denn natürlich hatten sie all den Krempel, der das Kino über Jahre angefüllt hatte, hinter der Bühne gelagert, wollten das wohl erst später rausschaffen. Und genau dort war der Brandherd entstanden.

„Brandstiftung“, sagte der übliche Kontrolletti in L.s nimmermüdem Kopf. Und der müde L. antwortete fast automatisch: „Erst beweisen!“

Da war der eine beleidigt und der andere merkte, wie ihm die Kälte den Rücken heraufstieg, eine kleine, wütende Kälte.

„Hast du auch das Gefühl …?“, fragte Mascha.

„Ja“, sagte Herr L. Und sah auch wenig weiter Kollegen S. stehen, auf das Funkeninferno starrend, als wolle er nicht glauben, was er da sah.

Und die Polizisten hatten wirklich Mühe, die Erschrockenen und Entsetzten abzudrängen, der Feuerwehr Platz zu schaffen, die den Brand so routiniert anging, wie es Herr L. erst jüngst nach einer wirklich gemütlichen Trockenübung beschrieben hatte. Der Hydrant funktionierte, die Schläuche füllten sich, die Drehleiter wurde ausgefahren. Aber er wusste schon da, dass sie nichts, wirklich nichts würden retten können. Der alte Kasten brannte wie Zunder. Am nächsten Morgen würde man nur noch ein paar verkohlte Balken und Stuhlreihen sehen.

Und wenn irgendjemand in Herrn L.s wirbelndem Kopf bis dahin zumindest noch zugestanden hätte, es hätte eine alte elektrische Leitung oder irgendein anderer Zufall eine Rolle gespielt haben können bei diesem Brand, dann änderte auch der seine Meinung, als L. den bärbeißigen Polizeipräsidenten mit seinem vierschrötrigen Einsatzleiter nur drei Schritte weiter stehen sah.

Die waren nicht erst gekommen, als die Brandmeldung einlief. Die hatten auch die Polizeiwagen nicht erst herbeibeordert, als die Funken flogen. Und wenn er beider Mienen richtig deutete, waren sie sauer wie zwei Fässer Salzgurken, richtig sauer. Und hätte der Vierschrötige jetzt jemanden anderen als Herrn L. gesehen, wäre er wohl wie ein wütender Zerberus über ihn hergefallen – zumindest eingedenk, dass es der mutmaßliche Täter gewesen wäre.

Und da Herr L. einen Moment so aussah, als wolle er die Gelegenheit nutzen, die beiden zu nerven mit Fragen, die einem Zeitungsmann bei solchen Ereignissen für gewöhnlich einfielen, raunzte er ihn nur kurz an: „Jetzt nicht. Ich geb ihnen Bescheid …“

„Haben Sie meine …“, begann L. noch. Aber da wendeten sich die beiden ab, liefen hinüber zu ihren Einsatzkräften.

Natürlich hatten sie seine Nummer.

„Willst du denn wach bleiben“, fragte Mascha, zu Recht besorgt.“

„Nein. Wir versuchen, ein bisschen zu schlafen. Mein Gefühl sagt mir …“

Aber was sein Gefühl ihm sagte, sagte er nicht. Lieber zog er das besorgte Wesen näher zu sich, als er sich von S. und ein paar anderen, die genauso verwirrt am Straßenrand standen, verabschiedete und losging. Nach Hause, wenigstens für ein paar Stunden an einem Ort, an dem er nicht wachsam sein musste wie ein Schießhund. Nur müde, kose- und ein bisschen liebebedürftig. So ungefähr. Dass die Nacht ziemlich kurz werden würde, wusste er ja.

Die Serie „Was passiert jetzt …“

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