LeserclubMüsste das jetzt nicht ganz langsam erzählt werden? Mit Orgelmusik untermalt, ein bisschen aufgebrezelt und hochglanzpoliert? Denn so etwas passiert hier ja nicht mehr, in diesem Städtchen am Rande der Zeit. Talmi ist anderswo. Das Gefühl, wenigstens ab und zu die Aufmerksamkeit der Welt zu erregen, sowieso. Trotzdem beeilte sich Herr L. als der Chef die ganze Seite noch einmal umbrechen wollte, weil ein immer schlecht gelaunter Hausjurist sich im letzten Moment mit Ningeligkeiten gemeldet hatte, fand er jedoch die Redaktionsräume verlassen.

Die Tassen noch halb gefüllt mit viel zu starkem Kaffee, die Papierkörbe überquellend, die Schreibtische ein einziges Schlachtfeld, als hätten die beiden, die hier das Lokale beackerten, am Ende noch einmal Schiffeversenken gespielt, sich die Wortfetzen und Bildbetitelungen zugeworfen. Fang, oder fang auch nicht. Rein damit. Die Sache ist rund.

„Und wenn noch jemand anruft …?“

Als noch jemand versuchte anzurufen, klingelten die Telefone ins Leere.

Er hätte auch eine Etage höher anrufen können. Aber im Zeitungshaus hatte sich eine eigenartige Gewohnheit breitgemacht. Der farblose Justiziar, dem man beste Verbindungen in einige nicht unwichtige Kanzleien der Stadt nachsagte, hatte sich vor langer Zeit schon angewöhnt, direkt bei den Redakteuren anzurufen, egal, womit die gerade beschäftigt waren, wenn ihm nur etwas zur Ohren gekommen war oder zugeflüstert worden war oder auch noch höflich – „so unter Kollegen“ – nahegelegt.

Und zu Ohren kam ihm viel. Zuweilen erstaunlich viel. Was eben auch dazu führte, dass erstaunlich viel nicht in der Zeitung stand. Oder verschwand, gern auch nach Redaktionsschluss, wenn zwei müde Redakteure manchmal schon fort waren, selig nach getaner Arbeit und fort noch „auf ein Bierchen“. Oder, wie heute, nach Hause eilten, um sich noch einmal zu duschen, in Schale zu schmeißen und dann – geschniegelt und gebügelt – zum ersten Ereignis seit Menschengedenken zu eilen, das in dieser Stadt so einen kleinen, hoffnungsvollen Schimmer aus Blattgold und Möbelpolitur erzeugte.

Und wir müssen es ja nicht verschweigen: Mindestens einer der beiden dachte selbst beim davoneilen mit Sorge daran, dass dieser kleine, nervige Jurist, der eigentlich ursprünglich einmal eingekauft worden war, um die Zeitung vor fatalen juristischen Verwicklungen zu beschützen, seine kleine Macht dazu nutzen könnte, aus einer gut gezimmerten Seite wieder so etwas Gräuliches zu machen, wie es …

Nein, er hatte nicht mitgezählt, wie oft das passiert war, und dann jemand anderes, selbst aus der Sport- oder der Wirtschaftsredaktion dann alles noch einmal umwürfelte, beanstandete Stellen hinausschmiss, als wäre man eigentlich, so unbewusst, für einen östlichen Staatsverlag tätig, und dann auch noch ein paar unwichtige, ja, unwichtige Namen und Zahlen entfernte. Und am Ende bekam man … Ja, was eigentlich?

Manchmal so eine Art Hurra-Berichterstattung wie damals, als alles noch Volkes eigen war und senile Greise bestimmten, wo die Grenzen des Denkens und Wahrnehmens zu liegen hatten. Manchmal wurde es auch ein Sammelsurium banaler Meldungen, wahllos aus dem Ticker übernommen und rund um ein Frühlingsbild gestrickt. Oh ja, Frühlings- und Sonnenuntergangsbilder waren höchst beliebt bei manchen Lesern. Oder ein ganzseitiges Weihnachtsbild. Oder eines mit schönen Dächerlandschaften im Morgensonnenschein.

Ein Wort, bei dem ihm stets ein gewisser Heinrich Heine einfiel, der so oft Missbrauchte.

Aber eigentlich war es ihm längst egal. Er hatte sich damit abgefunden, dass Juristen und falsche Freunde auch diese Zeitung irgendwann in etwas verwandeln würden, für das niemand mehr bereit war, auch noch einen Pfifferling auszugeben. Er wartete nur noch darauf, dass dieser Paragraphenfuchser eines Tages mit wichtiger Pirouette ins Büro geschraubt kommen würde, um mit dem leichten Grinsen des Vollstreckers ein oder zwei Blaue Briefe auf die Schreibtische zu legen. Endlich diese Störenfriede loszuwerden, die immer wieder das Gute Einvernehmen in dieser Stadt störten.

Und hätte er damals schon von den späteren Kampagnen um „Fake“ und „Alternative News“ gewusst, er hätte ohne Zögern sagen können, wo er die Worte und ihre Herkunft verorten konnte. Denn die stammen allesamt aus dem Reich des Guten Einvernehmens, dorther, wo freundliche Herren genau wussten, welche juristische Hebelchen sie ziehen mussten, um in dieser Stadt dafür zu sorgen, dass über alles nichts geschrieben wurde, über nichts dafür umso mehr. Und umso größer, schöner und farbenprächtiger.

Natürlich wusste er nicht, dass seine Sorge begründet war, dass selbst die Etage eins höher wie verzweifelt den beiden Entflohenen hinterhertelefonierte, obwohl sich beide korrekt verabschiedet hatten und ihre fertigen Seiten dreifach korrigiert, abgesegnet und gegengezeichnet waren. Also fertig, reif für die Druckmaschine.

Nur eben dieser kleine Mann, dessen Arbeitszeiten niemand kannte …

Lassen wir das …

„Das Telefon hat ständig geklingelt“, warf seine Mascha dem hereinstürmenden L. entgegen. „Ich bin aber nicht drangegangen.“

Richtig so, japste L., der ins Bad stürmte, sich den Arbeitsschweiß vom Leibe spülte, in frische Sachen stieg und im Handumdrehen vor dem Spiegel stand, so, wie er sich seit langem, sehr langem nicht mehr gesehen hatte – im schwarzen Anzug, weißen Seitenhemd, mit Fliege und – dafür hatte seine Mascha gesorgt – gelber Rose im Knopfloch, die Haare gestylt, als wollte er persönlich auf die Bühne steigen.

Aber er musste nicht reden. Er durfte einfach dabei sein, auch wenn Margarita in ihrer Einladung bedauert hatte, dass sie ihn nicht ganz vorn platzieren konnte. „Das geht diesmal leider nicht, lieber L. Du wirst sehen, warum.“

Da konnte er noch ein bisschen Rätselraten, während sich die beiden, so festlich gekleidet, dass sie einander anstrahlten wie frisch zum Ball Verabredete, hurtigst auf die Sohlen machten, um nicht unter den Letzten zu sein, die sich in den Saal drängten. Und L.s Erwartungen wurden übertroffen. Er hätte nicht gedacht, dass die halbe Stadt dieser Einladung folgen würde.

Als wären sie alle jetzt erst aufgewacht. Selten hatte Margarita mit ihrem Programm die paar kleinen Bühnen füllen können, die es noch gab in der Stadt. Meist war sie auf Tournee, sang vor anderen Leuten in anderen kleinen und kleinsten Städten die Lieder, die hier mal für Sehnsucht und Zuversicht gegolten hatten.

Damals.

Wie oft ertappte er sich mittlerweile dabei, das Wörtchen „damals“ zu verwenden? Damals, bevor Margarita aus ihrem kleinen Theaterchen entmietet wurde. Damals, als ein Geist von Aufbruch und Tatendrang nicht nur durch die Straßen wehte, sondern auch durch die ersten Ausgaben der Zeitung in der Neuen Zeit, die alles versprach …

… na ja, und eine Menge dann einfach unterm Schrank verschwinden ließ.

Vielleicht sollte er sich nicht wundern. Bis um die Straßenecke reichte die Schlange der im Festtagskleid erschienenen Bewohner dieser seltsamen Stadt, alle geduldig wartend. Und in einem Verkaufswagen, wie ihn Zirkusse besaßen, saß tatsächlich eine Verkäuferin, die den Leuten Karten verkaufte, als wäre tatsächlich Zirkuszeit mit großem Zauber – oder war das nicht eine andere Geschichte? Müssen wir jetzt aufpassen, dass wir nicht in die falsche Geschichte geraten?

Herr L. und seine Mascha wurden mit freundlicher Verbeugung ins Haus gelassen.

„War das jetzt Italienisch, was ich da gehört habe?“

Herr L. wusste es nicht. Er hatte auch nicht drauf geachtet. Er war mit den Augen schon längst drinnen im Kinosaal, der tatsächlich in ein goldgelbes Licht getaucht war, wie L. es aus ganz alten Filmen kannte. Nicht aus eigenen Kinoerlebnissen, da war auch dieser Kinopalast eher eine dunkle, knisternde Höhle gewesen …

Aber nicht abschweifen.

Ihre Sitze lagen sogar jenseits des Ganges, was L. zumindest für ein Momentchen verstörte, bis er seinen Kollegen S. dort ebenfalls sitzen sah mit einer strahlenden Frau in Blond, Blau und Gold, die er bei besten Willen nicht in Übereinstimmung bringen konnte mit dem Wesen, das ihm S. einmal als die ihm Angetraute vorgestellt hatte. Wie lang war das schon wieder her?

Und auch die Kollegen in den Reihen dahinter kannte er, manche verschrien als bissige Kritiker, andere als Edelfedern aus der nächstgrößeren Stadt, wo man – wie er immer wieder hörte – gern noch von Weltruhm und einem Platz an allen Sonnen träumte und schwärmte und auch schrieb. Also so ungefähr, wie ihr eigenes Blatt manchmal aussah, wenn der fade Justiziar sich mit seiner matten Stimme und den gräulichen Paragraphen durchsetzte bei den Entscheidern in den Etagen weiter oben.

Und so grüßte sich Herr L. erst einmal durch die bekannten Gesichter und merkte, wie jedes Mal der Stolz in ihm wuchs, wenn er seine Gefährtin vorstellte. Am Ende sagte er dann nur noch: Und das ist MEINE MASCHA.

Na ja, Mascha sagte er natürlich nicht. Wer aufgepasst hat, weiß das.

Aber sie freuten sich alle mit ihm. Denn auf alle wirkte Maschas burschikose Art, unverhofft freie Hände zu schnappen und wildfremde Griesgrame zum Strahlen zu bringen. Und umso überraschender kam der alte, nur zu vertraute Kino-Gong, wurde das Licht das erste Mal gedimmt, während von draußen immer noch aufgeregte Leute hereinströmten, die meisten verblüfft und schweigend staunend, in was für eine Schönheit sich ihr altes Kino noch einmal verwandelt hatte, viele mit dem verhuschten Blick, wie ihn junge, wirklich junge Menschen haben, wenn so ein Ort noch ein Ort der Träume und Überraschungen ist … ihre Blicke schweiften. Und sie freuten sich wohl genauso wie Herr L. und seine Einzige, wenn sie in all den Gesichtern ein bekanntes erspähten, ein lang nicht gesehenes.

Denn so wie die Stadt stiller und verschlossener geworden war, so hatten sich sogar ihre Bewohner längst aus den Augen verloren.

Wie viel Einsamkeit war hier eingezogen?

Und dennoch kamen immer noch welche, jetzt schon eiliger, stolz ihre Billets in der Hand, von jungen Herren mit schwarz glänzenden Haaren sofort in die richtigen Reihen geleitet, sodass das Eilen und Huschen tatsächlich langsam dünner tröpfelte, sich vereinzelte, bis nur noch wenige Überglückliche sich durch die langsam schließende Tür schoben, während der Gong zum zweiten Mal schlug und zum dritten Mal und dann die Lichter tatsächlich erloschen bis auf ein paar wenige rote und blaue Punkte und der Saal tatsächlich in ein gespanntes Erwarten hinein verstummte. Und tatsächlich still war. So still, dass sogar ein verstecktes Schluchzen zu hören war. Und das Rascheln in der Ecke, das vielleicht einer verschreckten Maus gehörte.

Und dann.

Ja, dann begann die Vorstellung, die diese Stadt so bald nicht wieder vergessen würde. Und L. ahnte, warum er genau hier platziert worden war. Denn als das Licht bläulich aufglomm, hatte er die ganze erste Reihe bestens im Blick.

Die Serie „Was passiert jetzt …“

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