„Aber das ist nicht nur Diederich Heßling oder ein Typ“, schrieb Kurt Tucholsky 1919, als er endlich den frisch im Leipziger Kurt-Wolff-Verlag erschienenen „Untertan“ von Heinrich Mann in der Hand hielt. Manche bleiben ja dann beim nächsten Satz hängen: „Das ist der Kaiser, wie er leibte und lebte.“ Just diesen Kaiser trifft Diederich ja auf den folgenden Seiten zum ersten Mal. Und mancher Trump-Anhänger dürfte sich ganz ähnlich vorgekommen sein.

Denn: „Das ist die Inkarnation des deutschen Machtgedankens, das ist einer der kleinen Könige, wie sie zu Hunderten und Tausenden in Deutschland lebten und leben, getreu dem kaiserlichen Vorbild, ganze Herrscherchen und ganze Untertanen.“

Natürlich fragt sich da manch verwöhnter Zeitgenosse: Ist das denn wirklich noch so? Ist das Buch denn noch aktuell? Wir haben doch keinen Kaiser mehr.

Aber haben wir nicht wieder eine stockkonservative Partei, die genauso tickt und agiert wie die deutschnationale Partei von 1892? Denn dass wir uns in diesem glorreichen Jahr des jungen Wilhelm Zwo befinden, erfahren wir ja jetzt. Und Diederich mit seinem unbändigen Drang, dazuzugehören, findet Anschluss an die deutschnationalen Kreise damals in Berlin.

Draußen auf den Straßen Berlins demonstrieren die zerlumpten Arbeitslosen. Und beim Herrn Assessor von Barnim hört Diederich, wie die Herren Von und Zu das sehen. Das kommt einem schon sehr vertraut vor, wenn da vom „jüdischen Liberalismus als Vorfrucht der Sozialdemokratie“ doziert wird und der Herr Assessor die jüdischen Mitbürger von „seiner Ordnung der Dinge“ ausschließt, „waren sie doch das Prinzip der Unordnung und Auflösung“.

Diederich ist formbar wie Wachs. Er will ja dazugehören und hängt nicht nur dem adeligen Assessor an den Lippen, auch seinem Neuteutonia-Kumpel Wiebel, der von kriegerischen Tagen träumt.

Dabei sind die Tage im Februar 1892 nasskalt. Die Arbeitslosen frieren und hungern tatsächlich. Und schweigend ziehen sie durch Berlin Richtung Schloss. Diederich sieht das ja nun mit den Augen derer, die die Ordnung wahren wollen und wundert sich, warum die Polizei nicht einschreitet. Denn wer – sogar schweigend – protestiert, ist ja doch wohl eine „unbotmäßige Bande“, die aber nur zwei Worte skandiert: „Brot! Arbeit!“

Und wie ging Wilhelm Zwo mit so etwas um? Er ließ die berittene Polizei auf diese Leute los. Mit dem Ergebnis, dass jetzt wirklich das Chaos anhebt und auch die braven Bürger wie Diederich hineingezogen werden in den Tumult. Er wird sogar durchs zerdrückte Fenster eines Café gedrückt, wühlt sich heraus und steht kurz mit bürgerlich Gekleideten am Straßenrand, die kommentieren, was der Kaiser befohlen hat. Denn „der Bande“ soll es wohl gezeigt werden.

Und dann kommt er tatsächlich angeritten, der Mann, zu dem Diederich aufschaut, einer von denen, die dastehen, „als seien alle Leute zum Statieren bei einer Allerhöchsten Aufführung befohlen“.

Mit wessen Augen sehen wir jetzt eigentlich den Kaiser auf seinem Pferd? Mit Diederichs? Oder mit denen des Autors?

„Er selbst, der Kaiser, sah nur sich und seine Leistung. Tiefer Ernst versteinte seine Züge, sein Auge blitzte hin über die Tausende der von ihm Gebannten. Er maß sich mit ihnen, der von Gott gesetzte Herr mit den empörerischen Knechten!“

Das muss Diederichs Sicht auf den Herrn sein. Denn schon im nächsten Moment ist er Teil, ja Vertreter dieser Macht, die er bewundert. Da wird er ganz stellvertreterlich handgreiflich, als ein „junger Mensch mit einem Künstlerhut“ wagt, den ganzen Auftritt des Kaisers als „Theater!“ zu bezeichnen.

Es ist eigentlich die Szene, die Diederich so zeigt, wie er tatsächlich ist, wenn er sich nicht mehr unter Kontrolle hat. Dann wird er rabiat. Er drängt den jungen Man an die Wand und beginnt, auf ihn einzuschlagen. (Vaters Prügel waren wohl eine Lehre …) Und die Gutgekleideten in der Nähe machen eifrig mit. Wir haben ja Diederich schon ein paar Mal erlebt, wie er zögert, weil doch irgendwie ein Mitgefühl in ihm ist.

Etwa bei der Tändelei mit Agnes, die gleich weitergeht. Aber wenn er unter Gleichgesinnten ist, verändert er sich, dann scheint er selbst drei Fuß größer zu werden und voller Ingrimm, als würde er selbst beleidigt, wenn einer nicht dem Kaiser zujubelt. „Soll man da nicht wütend werden? Wenn ein Mensch uns den historischen Moment verekeln will?“

Das fühlt sich nicht nur 100 Jahre alt an, sondern auch sehr heutig. Als wären diese ingrimmig Beleidigten niemals weg gewesen. Diederich steigert sich richtig hinein, und als dann das „Hurra!“ anhebt, ist er mittendrin. Eigentlich wie von Sinnen. Das ist die Szene, die Filmemacher so lieben, denn jetzt lässt Diederich sich hinreißen. Er ist jetzt ganz Untertan, hat sein Auge nur auf den reitenden Kaiser gerichtet.

„Ihm nach! Dem Kaiser nach! Alle fühlten wie Diederich“, schreibt Heinrich Mann. Die Menge walzt sogar die erste Schutzmannskette nieder. Aber bis auf den Reitweg zum Kaiser kommt nur Diederich durch. „Diederich war allein, als er auf den Reitweg hinausstürzte, dem Kaiser entgegen, der auch allein war. Ein Mensch im gefährlichen Zustand des Fanatismus, beschmutzt, zerrissen, mit Augen wie ein Wilder …“

Es wird ein halbes Jahrhundert später Victor Klemperer sein, der in seiner „LTI“ beschreibt, welche Rolle der Fanatismus im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten hatte. Aber sie meinten genau das: Die völlige Selbstaufgabe und die rücksichtlose Unterwerfung unter eine „Sache“, egal, wie menschenverschlingend diese Sache war. Oder gerade deshalb. Mit Fanatikern kann man alles machen. Fanatiker sind auch Menschen ohne stabiles Ich, das sich gegen Zumutungen wehren kann. In Diederich steckt das schon. Denn eigentlich ist es ja die Vollendung seines Wunsches, ganz „in einem Großen Ganzen“ aufzugehen.

Er steht zwar allein und zerrissen dem Kaiser gegenüber. Aber er steht ihm nicht ebenbürtig gegenüber. Im Gegenteil: „Diederich riß den Hut ab, sein Mund stand weit offen, aber der Schrei kam nicht. Da er zu plötzlich anhielt, glitt er aus und setzte sich mit Wucht in einen Tümpel, die Beine in der Luft, umspritzt von Schmutzwasser. Da lachte der Kaiser. Der Mensch war ein Monarchist, ein treuer Untertan!“

Wenn man sich den Kaiser wegdenkt, hat man hier Diederichs persönlichste Beziehung zur Macht.

Und mal ehrlich: Die ist so modern wie lebendig, auch wenn sie sich heute gern hinter Worten wie Ordnung und Sicherheit versteckt. Tucholskys „Inkarnation des deutschen Machtgedankens“ ist hier auf wenigen Seiten zusammengepresst – eben noch einen ordentlichen Polizeieinsatz gegen „die Bande“ der Arbeitslosen fordernd und im nächsten Moment schon sprachlos und anhimmelnd in einer Pfütze zu Füßen der inkorporierten Macht. Ist es das, wonach sich die Leute sehnen, die sich heute wieder eine „starke Hand“ als Führung wünschen?

Man möchte es ja nicht denken. Aber die Frage lässt einen nach dieser Szene nicht los.

Das ganze „Untertan-Projekt“.

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