Wir befinden uns im Jahr 1912. Rein mental. Als hätte die halbe Nation beschlossen, die Lehren der vergangenen 100 Jahre einfach zu vergessen und mit demselben Blödsinn wieder anzufangen, der Deutschland 1914 in den Krieg geführt hat. Einen Krieg, den Heinrich Mann hellsichtig voraussah. Denn Kriege entstehen nicht, weil irgendwelche Vaterländer aufeinanderprallen, sondern weil die maßgeblichen Eliten darauf hinarbeiten. Kriege entstehen nicht. Kriege werden angezettelt.

Mit dem jungen Wolfgang Buck führt Heinrich Mann einen jungen Mann in Diederichs Junggesellenwohnung, der den Widerspruch, in dem Diederich steckt, vollkommen auf den Punkt bringt. Dass dieser Besuch zu einer regelrechten Tortur für die arme Agnes wird, die sich in der Dunkelkammer versteckt, ahnt man nur. Aber Diederich lässt den jungen Mann – immerhin Sohn des legendären alten Buck aus Netzig – reden. Es wird ein kleiner politischer Schlagabtausch, in dem Diederich nur deshalb nicht handgreiflich wird, weil Buck in Einjährigenuniform steckt, nicht er.

Diederich hat sich ja aus dem Wehrdienst herausgeschwindelt. Und da kann er nichts machen: Uniform hat höheren Rang. Deswegen muss er sich anhören, wie dieser junge Mann ihm erzählt, dass die Zeit der einsamem Führer wohl vorbei ist. Soll er ein General werden und sein ganzes Leben „auf einen Krieg einrichten, der voraussichtlich nie mehr geführt werden wird?“ Oder vielleicht doch lieber „ein genialer Volksführer“ werden, „während das Volk schon so weit ist, daß es auf die Genies verzichten kann?“

Das ist eine Fragestellung, aus der man herrliche Aufsatzaufgaben für die höheren Klassen formulieren könnte. Und das Schlimme für Diederich: Der junge Mann hält ihm den Spiegel vor, einen Spiegel, der zur Zeit passt und der tatsächlich das Schisma des Wilhelminischen Reiches zeigt. Der alte Kaiserfirlefanz hat sich eigentlich längst überlebt. Auch der schnodderige Wilhelm II. kann nicht mehr gegen den Reichstag regieren.

Die neue Wirtschaftsweise kann mit all dem alten Junkerstolz nichts mehr anfangen. Aber in diesem Reich regieren die Junker und prägen den Geist, der am Ende in den Krieg führt. Während die Jugend die individuelle Freiheit einer Welt für sich entdeckt, die sich in faszinierendem Tempo verändert. 1896 wird in München die Zeitschrift „Jugend“ gegründet.

Der junge Buck hätte sie wahrscheinlich mit Begeisterung gelesen, auch wenn er Realist ist und weder als General noch als Sozialistenführer eine Zukunft für sich sieht – er werde wohl als einfacher Rechtsanwalt in Netzig landen.

Und Diederich rückt sich in Pose: „Und das Deutsche Reich, hätten wir das ohne große Männer?“

Es ist genau die Volte, die unsere heutigen Träumer von Deutschen Reichen wieder vollführen – sie weichen einfach aus und holen den alten schwarz-weiß-roten Fetzen aus der Kiste und schwadronieren von großen Männern. Und weil das mit der Wirklichkeit so überhaupt nichts zu tun hat, erzeugen sie damit natürlich ein Ende jeder Diskussion. Sie verstecken sich in ihrer rostigen Rüstung. Und der junge Buck sieht es, erkennt in Diederich einen, den er nur zu gut versteht, weil er in ihm die eigenen Fehler wiedererkennt.

Dazu freilich muss man bereit sein, dem anderen zuzuhören. Es wirkt schon sehr hackenknallend, wenn Diederich seine großen Männer aufs Tableau hebt und den jungen Buck in Gedanken einen Dummkopf und Alkoholiker nennt. Denn die Geisteswelt, der er sich angeschlossen hat, lebt von der Verachtung – vor allem der Schwächeren und Gefühlsbeladenen. Was dann leider auch Agnes zu spüren bekommt, die er nun endlich – nachdem er Buck hinausgeführt hat – fast ohnmächtig in der Dunkelkammer findet.

Diese Agnes ist bereit, richtig zu leiden für ihn.

Aber das aufkommende Mitleid erstickt er in sich. Lieber flucht er theatralisch über Buck, „den Judenbengel“. Der Antisemitismus ist die ganze Zeit da. Man kann sich diesen alten, theatralischen deutschen Nationalismus nicht ohne Judenhass und Judenverachtung denken.

Aber bevor er Agnes wirklich richtig erniedrigt, fährt er mit ihr in eine Sommeridylle, die einem frappierend vertraut vorkommt. Erst recht, wenn man die Jahreszahl 1912 bemerkt. 1912 hat Heinrich Mann einen ersten Auszug aus seinem „Untertan“ unter dem Titel „Die Neuteutonen“ im „Simplicissimus“ veröffentlicht. War diese Szene mit dabei? Die Literaturforscher wissen es vielleicht. Wenn nicht, wird die Sache noch viel faszinierender. Denn 1912 erschien auch der erste erfolgreiche Roman von Kurt Tucholsky: „Rheinsberg“, die humorvolle Beschreibung einer Urlaubsreise von Claire und Wolfgang, die mit dem Zug ins ländliche Rheinsberg fahren.

Heinrich Mann lässt sein Pärchen Diederich und Agnes in ein kleines Städtchen namens Mittenwalde fahren, wo die beiden ein paar romantische Tage in ländlicher Idylle verbringen.

Auch Claire und Wolfgang kommen in eine ländliche Idylle. Nur funkt zwischen den beiden von Anfang an ein ausgemachter Humor. Als hätte Tucholsky mit „Rheinsberg“ sogar einen Gegenentwurf schreiben wollen zu dieser Heinrich-Mann-Szene – mit einem Liebespaar, das ebenfalls ein Gegenentwurf ist zum selbstunsicheren und völlig humorfreien Diederich und seiner schwärmerischen Agnes. Claire schwärmt nicht. Sie ist richtig abgebrüht. Und Claire und Wolfgang haben richtig ihren Spaß dabei, einander zu frotzeln und zu necken und auch die armen Leute am Ort auf den Arm zu nehmen.

Während Diederich zwar verblüfft feststellt, wie schön so ein paar Tage mit Agnes sein können, aber als die beiden dann einen Kahn ausleihen, macht Agnes ernst mit ihrer Schwärmerei vom gemeinsamen Sterben. Die Szene versetzt Diederich natürlich in einen gehörigen Schrecken. Aber er wagt es nicht einmal, es auszusprechen: Hat sie es nun versucht oder nicht?

Da würde wohl jedem Mann blümerant werden.

Nur einer wie Wolfgang hätte es ausgesprochen, verwundert und schnippisch. Mal abgesehen davon, dass Claire gar nicht vom gemeinsamen Ertrinken in einem kalten See träumt.

Und das Verblüffende ist: Genau diese Szene scheint Tucholsky auch noch ganz gezielt parodiert zu haben:

„Wolfang?“
Claire?“
„Glaubssu, daß es hier Bärens gibs? Eine alte Tante von mir is beinah mal von einem …“
„… von einem Bären zerrissen worden?“
„Nein.“ Sie war ganz empört. „Habe ich das gesagt? – Ich meinte nur … Aber, du – beschützs mich doch, ja?“
„Ich schwöre dir …“
„Hm.“

Wie gesagt: „Rheinsberg“ erschien 1912. Erst 1918 kam „Der Untertan“ in großer Auflage auf den Markt. Und wir haben zwei völlig verschiedene Bilder von Partnerschaft vor uns – eine, die wirklich eine ist (eine sehr humorvolle mit Ecken und Kanten), und eine, bei der es von Anfang an um die Klärung der Machtverhältnisse geht. Denn das steckt hinter Diederichs ganzer Gefühlsnot. Er hat gelernt, dass in der Ehe der Mann das Sagen hat und Frauen parieren.

Im Ehe-Bild des preußischen Kleinbürgertums spiegelt sich die blasierte Machtordnung des Wilhelminischen Reiches. Und dieses Bild von „Familie“ geistert bis heute in den Köpfen etlicher Leute herum. Sie können sich ein anderes gar nicht vorstellen, weil sie sich eine Gesellschaft ohne klare Machtverhältnisse nicht vorstellen können. Nicht mal dann, wenn sie in einer leben. Dann werden sie rollmöpsig und fangen an, finstere Aussichten zu erkennen.

Was übrigens einer der Gründe für die um sich greifende Untergangsstimmung im späten Wilhelminischen Reich war. Und nicht nur dort. Karl Marx war augenscheinlich nicht der einzige, der für die Welt, die er erlebte, nur noch einen krachenden Untergang voraussehen konnte. Die entgrenzte Wirtschaftslogik des Kapitalismus lebt ja geradezu davon, dass sie alles bis zum Exzess treibt. Sie kennt in sich keine Grenzen und keine Verlässlichkeiten. Die kommen erst von außen hinein, von solchen schrecklich vernünftigen Leuten wie Wolfgang Buck.

Die kritische Distanz, die er einnimmt, ist eigentlich überlebenswichtig. Denn wer keine Distanz zu diesem absoluten Machtstreben hat (oder die Skrupel, die aufkommen, immer wieder unterdrückt), der wird wie Diederich. Für ihn wird selbst Agnes’ Ringen um Liebe, Nähe und Vertrauen zu einer Machtfrage. Und man kann Diederich auf den nächsten Seiten richtig zuschauen dabei, wie er die Machtfrage für sich rigoros entscheidet.

Armer Diederich.

Arme Agnes.

Bis zum nächsten Teil.

Das „Untertan-Projekt“.

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