Erich Kästner (1899–1974) kennen die meisten als Autor beliebter Kinderbücher und herrlich sarkastischer Gedichte. Dass seine schreibende Karriere in Leipzig begann, wissen die wenigsten. Und das auch noch im turbulenten Jahr 1923, als es überall in der Weimarer Republik gärte. Inflation und Arbeitslosigkeit drohten das Experiment Demokratie schon wieder scheitern zu lassen. Seit 1919 studierte Erich Kästner mit einem Stipendium seiner Geburtsstadt Dresden in Leipzig.

Nachweisbar sind seine Wohnadressen in der Senefelder Straße 3, in Czermaks Garten 7 und ab 1926 die Hohe Straße 51.

1925 hat er bei dem namhaften Germanisten Georg Witkowski seinen Doktortitel erworben.

Aber er hat in Leipzig eben nicht nur Germanistik studiert, sondern auch Vorlesungen am Institut für Zeitungskunde wahrgenommen, das man bei Wikipedia als Vorläufer des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft findet. Gegründet wurde es 1916 auf Anregung des Leipziger Nationalökonomen Karl Bücher, der damit das erste Hochschulinstitut zur Ausbildung von Journalisten aus der Taufe hob. Denn ihm – der nebenher auch ökonomische Beiträge für die „Frankfurter Zeitung“ schrieb – war sehr wohl bewusst, dass anspruchsvoller Journalismus auch eine professionelle Ausbildung braucht.

Und die war am „Institut für Zeitungskunde“ direkt mit praktischer Anwendung verbunden. Die Studenten waren angehalten, tatsächlich noch während des Studiums journalistische Beiträge in namhaften Zeitungen zu veröffentlichen. Das tat auch Kästner, der irgendwann Anfang 1923 in die Redaktionen des „Leipziger Tageblatts“ und der „Neuen Leipziger Zeitung“ spaziert sein muss, um dort nachzufragen, ob er dort seine Texte veröffentlichen könnte. Beide Zeitungen verschmolzen 1926 zur „Neuen Leipziger Zeitung“, der liberalen Zeitung der Messestadt – im Unterschied zu den konservativen Leipziger neuesten Nachrichten und der linken LVZ.

Der Blick für das Menschliche

Seinen ersten Text im Leipziger Tageblatt veröffentlichte er am 7. Februar 1923: „Max und sein Frack“. Am 17. Februar folgte „Othello und die Droschkenkutscher“ in der Neuen Leipziger Zeitung. Dass ihn vor allem das reale Leben in der Messestadt interessierte, machten dann Beiträge wie „In der Eisenbahn“, „Meß-Ouvertüre“ oder „Rummel im Meßamt“ deutlich, wo er dann aus seiner Beschäftigung im Leipziger Messetrubel erzählte – bildhaft, schalkhaft, mit Blick für das ganz Menschliche in einem karnevalesken Ereignis.

Seinen Sinn für die vom Leben Geprügelten stellte er schon früh unter Beweis – so wie in „Ein Menschenleben“ (am 6. Mai 1923 in der NLZ). Den großartigen Messetext, der 2004 dem Auswahlband „Der Karneval des Kaufmanns“ den Titel gab, schrieb er im September 1925. Da war er eigentlich bereits ein gestandener Mitarbeiter der Zeitung, die ihn längst schon in Theaterpremieren, Ausstellungen und Dichterlesungen schickte. Zu Egon Erwin Kisch, Klaus Mann und Ringelnatz zum Beispiel.

„Er reißt keine Witze“, attestiert er diesem Ringelnatz. „Er hat Humor, also jene Gemütskrankheit, die eine große Traurigkeit mit Ironie und Güte zu kurieren versucht. Mit Güte für die anderen und das andere. Mit Ironie gegen sich selbst.“

Das ist gültig bis heute. Und wird doch so gern missachtet, von vielen, die professionell witzig zu sein versuchen.

Skandal!

Schade. Aber die Ringelnatze und Kästners sind selten. Weshalb ihn die Leute bei der Neuen Leipziger Zeitung auch behielten, nachdem Kästner fertig studiert hatte und ein leibhaftiger Doktor war. Bis zum April 1927, bis er mal wieder eines seiner zutiefst ironischen Gedichte in der Zeitung veröffentlichte, herrlich illustriert von seinem Freund Erich Ohser: das „Abendlied eines Kammervirtuosen“.

„Aber wir hatten nicht bedacht, daß 1927 das hundertste Todesjahr Beethovens war“, zitiert Klaus Schumann den ganz und gar nicht reumütigen Kästner im Nachwort zur Sammlung „Der Karneval des Kaufmanns.“

„Die ‚Leipziger Neuesten Nachrichten‘ widmeten unserer ‚Tempelschändung‘ einen geharnischten Artikel und attackierten nicht nur uns beide, sondern auch die ‚Neue Leipziger Zeitung‘, die solche Frevler beschäftigte.“

Der Herausgeber knickte ein. Die beiden jungen Frevler wurden gefeuert. Kästner verließ Leipzig und ging nach Berlin, wo er 1928 seinen ersten Gedichtband veröffentlichte, der sofort seine Liebhaber fand: „Herz auf Taille“. Schon 1929 sollte „Emil und die Detektive“ geboren werden. Da interessierte sich keiner mehr für irgendwelche Leipziger Skandälchen.

Leipzig ist die Wirklichkeit …

Aber auch nicht für die Kleinode, die Kästner für die Neue Leipziger Zeitung geschrieben hatte – so wie 1923 ein kleines Kabinettstück über seine Heimatstadt Dresden, die „Märchen-Hauptstadt“, die schon damals von ihrer königlichen Vergangenheit zehrte, so wie sie es auch heute noch tut. „Leipzig ist das Heute“, schreibt Kästner als Resümee seines kleinen Ausflugs. „Und Dresden – das Gestern.- … Leipzig ist die Wirklichkeit. Und Dresden – das Märchen … und 80 Kilometer Luftlinie liegen zwischen dem Märchen und der Wirklichkeit …“

So schön kann man das sagen. So genau.

Am 8. Juni 1923 veröffentlichte er einen Text über eine gewalttätig auseinander getriebene Demonstration: „Der 6. Juni“, in die er – von der Johannisgasse kommend – geraten war. „Noch immer rasen Menschen vorbei. Kinder weinen … Und immerzu diese tönernen, störenden Schüsse …“ Auch Kästner muss rennen.

Was aber suchte er in der Johannisgasse?

Dort waren in der Nr. 8 sowohl das Leipziger Tageblatt als auch die Neue Leipziger Zeitung zu Hause. Heute versperrt dort ein Hotel den Zugang zum Augustusplatz, über den Erich Kästner am 6. Juni 1923 zusammen mit den in Panik flüchtenden Demonstrationsteilnehmern flüchtete. Aber auch das, was die berittenen Polizisten zueinander sagten, hielt er fest. Das gehört dazu, wenn man konkret sein will: „Gott, was soll man da machen? Mit Steinen und Fensterglas haben sie geschmissen. Und von hinten mit Messern gestochen … Gerne schießt man wahrhaftig nicht …“

Kästnerns sehr lakonischer Kommentar dazu: „Er mag wohl recht haben …“

Die drei Pünktchen erzählen dann, was Kästner sich dabei dachte. Vertraut kommt einem das trotzdem vor.

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