Das Jahr 2022 darf nicht zu Ende gehen, ohne einer Persönlichkeit zu gedenken, die vor 100 Jahren „eines der fluchwürdigsten Verbrechen, welches die Geschichte kennt“ zum Opfer gefallen ist – Walther Rathenau, geb. am 29. September 1867 in Berlin, zum Reichsaußenminister ernannt am 31. Januar 1922 und ermordet am 24. Juni desselben Jahres.

Bekanntlich werden noch am Tage des Attentats Mitglieder des Geheimbundes „Organisation Consul“ (O. C.) festgenommen.

„Kein Elend, Blutvergießen und Pestilenz
kommt der grausamen Torheit gleich,
daß die Gesellschaft jährlich
Tausende von Intelligenzen und Talenten
unerkannt und ungenutzt verwelken läßt.“
Walther Rathenau
(Leipziger Tageblatt Nr. 145 v. 21.06.1923, S. 3)

Ein wenig bekannter Mordplan

Wochen später ist auch die Berliner Polizei einem bisher weniger bekannten Mordplan auf die Spur gekommen, worüber ein Polizeibericht vom 17. Juli 1922 Auskunft gibt:

„Schon im April sprach der 17 Jahre alte Schüler Hans Stubenrauch, ein Mitglied des Bundes der ‚Aufrechten’ mit dem Studenten Wilhelm Günther, der ebenfalls Mitglied des Bundes der ‚Aufrechten’, zugleich Mitglied des Deutschenbundes und des Verbandes nationalgesinnter Soldaten war und sich fälschlich für einen Reserveoffizier ausgab, über einen Plan, den Minister Rathenau zu ermorden.

Stubenrauch erzählte, er habe aus der Lektüre der Werke Rathenaus die Überzeugung gewonnen, daß dieser für das Deutsche Reich ein Schädling sei und beseitigt werden müsse. Er sprach erst von dem Plan, Rathenau im Reichstag zu erschießen, dann auf Einwendungen Günthers davon, die Tat in Rathenaus Wohnung auszuführen. Zu einer bestimmten Verabredung kam es damals nicht. Der Plan kam damals zur Kenntnis des Gymnasiasten Hans Techow, der früher Mitglied der Organisation C und des deutschen Volksschutz- und Trutzbündnisses war.

Dann hörte auch Ernst Werner Techow davon, einst Zeitfreiwilliger in der Erhard-Brigade und Mitglied der Organisation C, jetzt Student. Am 16. Juni war man in Berlin so weit, daß in der Wohnung der Frau Techow, aber in ihrer Abwesenheit, zwischen Günther, Hans Techow, Fischer und Kern eine Unterredung über den Mordplan stattfand. Am 20. Juni fand eine weitere Besprechung zwischen den Verschwörern statt.

Am Abend darauf trafen sich Günther, Hans Techow, Fischer und Kern in einem Berliner Restaurant und fuhren in dem Automobil, das der Fabrikant Küchenmeister zur Verfügung gestellt hatte und das später zur Verübung des Mordes diente, nach einem Ort der Umgebung von Berlin. Unterwegs stiegen Fischer und Kern aus und veranstalteten in einem abgelegenen Ort im Grunewald eine Schießübung mit ihrer Pistole.

Fischer und Kern, die in einer Berliner Pension abgestiegen waren, beriefen am 18. Juni Werner Techow zu sich, um ihn für die Führung des Autos bei der Verübung des Mordes zu gewinnen. Es gelang ihnen auch und so standen am 18. Juni die erforderlichen Mann, Fischer, Kern und Techow, zur Durchführung des Planes in Berlin bereit.“

Das Attentat in der Koenigsallee, Kolonie Grunewald

Die Aussage des Chauffeurs: „Ich bemerkte ein Auto, das mich um jeden Preis überholen zu wollen schien. Um einem Zusammenstoß auszuweichen, lenkte ich nach rechts ab, stieß aber an das Trottoir an, und der Anprall war so heftig, daß ich fast vom Sitz geschleudert wurde. In diesem Moment hörte ich Revolverschüsse und eine starke Explosion, deren Erschütterung mir für einen Augenblick das Bewußtsein nahm. Ehe ich halten konnte, war der Wagen auf das Trottoir hinaufgefahren. Das andere Auto fuhr davon.“

Das Ergebnis der Obduktion der Leiche Rathenaus: „Die vorläufige Obduktion der Leiche Rathenaus hat ergeben, daß mehrere der Schußverletzungen tödlich waren. Der Minister war mehrmals in den Kopf getroffen worden. Eine Kugel hatte die Schulter durchbohrt und ist in der Brust stecken geblieben. Die Handgranate hatte die Eingeweide zerrissen. Der Körper des Ermordeten weist furchtbare Verstümmelungen auf.“

„Der Mord in der Königsallee“ steht zur Verhandlung

Die Gerichtverhandlungen dann im Oktober im braunen, holzgetäfelten Saal des Reichsgerichts in Leipzig mit den zwei überlebensgroßen Kaiserbildern an der Wand verläuft unter dem Titel: „Der Mord in der Königsallee“.

Und harmlos gebärden sich auch die jüngeren Delinquenten, wie Prozessbeobachter Stephan Großmann sie in der Wiener „Neuen Freien Presse“ beschreibt:

„Diese sechs oder sieben Jungen benehmen sich auch im Gerichtssaal mit der Naivität der noch nicht Erwachsenen. … Sie sitzen und stehen vor der Verhandlung heiter auf ihren Plätzen, plaudern ungezwungen miteinander, verbeugen sich artig, wenn ein Verteidiger auf sie zukommt, schütteln ihnen freundlich die Hände und benehmen sich so frei und harmlos wie Jungens, die gerade in die Tanzstunde gehen wollen. Jeder hat einen Pack Stullen vor sich liegen und darunter eine Tafel Schokolade, und sie freuen sich wahrscheinlich über das bunte Papier.

Sie schauen neugierig in den Zuschauerraum, kein Schatten liegt auf ihren glatten Gesichtern, und wenn man nicht wüßte, daß sie des Mordes und der Beihilfe des Mordes angeklagt sind, so möchte man meinen, irgendein kleiner Unfug habe sie in den Gerichtssaal geführt, nicht aber eine Tat, die das Reich bis in den Grund erschüttert hat.“

Und Großmann bohrt auch noch etwas tiefer:

„Die Knaben Techow sind Mitglieder von vier oder fünf deutschvölkischen Trutzbünden gewesen. … Man hat den Eindruck, als ob diese jungen Leute nichts sind als das Opfer einer agitatorischen Infektion, der sie nicht widerstehen konnten, weil ihnen dazu alle Widerstandskraft, alle politische Schulung gefehlt lat. Und so führen diese Verhandlungen den leidenschaftslos Denkenden zu einem entscheidenden politischen Problem, zu der Frage der politischen Erziehung unserer reiferen Jugend. Wo haben die Techows das A B C des politischen Denkens gelernt?

Verzweifelte und deklassierte Offiziere oder gar Abenteurer, die nicht einmal Offiziere werden konnten. In Winkelorganisationen, in Stammtischgesprächen, durch pamphletische Zeitungsartikel sind sie politisch infiziert, nirgendwo erzogen worden. Es muß für diese entwurzelten und gefährdeten Jünglinge eine Form der politischen Fürsorge gefunden werden.

Solcher widerstandsunfähiger kleiner Techows gibt es Tausende. Gewiß werden die meisten unter ihnen nicht so moralisch stumpf sein wie diese unentwickelten Tennisspieler, aber man darf nicht verkennen, daß auch in diesen Knaben noch ein lebendiger politischer Aktionstrieb gewirkt hat.

Sie sind im Krieg gewesen oder wenigstens Zeitfreiwillige in späteren Brigaden. Ihr kindischer Tatendrang ist mißleitet worden. Wie wären sie zu führen? Wie wären sie politisch zu erziehen? Hier tut sich dem Betrachter die wichtigste politisch-pädagogische Frage Deutschlands auf“.

Eine Urteilsbegründung mit Fragezeichen

Dann die Urteilsbegründung, von Leipzig aus am 14. Oktober 1922 verbreitet. Aus ihr geht hervor, „daß das Gericht nicht annahm, daß der Ermordung Rathenaus die Verschwörung einer organisierten Mörderbande zugrunde lag, nach deren Anweisung jeder einzelne Beteiligte gehandelt hätte. Die Möglichkeit einer solchen Geheimorganisation, die die Ermordung Rathenaus betrieb, ist vorhanden, ihr Bestehen ist jedoch nicht bewiesen.

Der Mord wird als eines der fluchwürdigsten Verbrechen, welches die Geschichte kennt, bezeichnet. Die Haupttäter Kern und Fischer haben sich durch Selbstmord dem Gericht entzogen, so daß in diesem Prozeß nur eine traurige Nachlese blieb.

Den Angeklagten, die nur die jüngeren Gehilfen Kerns waren, der als älterer Offizier mit ihnen in ruchloser Kaltblütigkeit verfuhr, und sie ihrem Schicksal überließ, verdienen ein gewisses Mitleid, trotz des Gefühls der Verachtung wegen ihrer feigen Unterwürfigkeit und wegen ihres Mangels an jedem ethischen Bewußtsein.

Hinter den Mördern und ihren Gehilfen erhebt sich als der Hauptschuldige, der verantwortungslose, fanatische Antisemitismus, der mit allen Mitteln der Hetze und Verleumdung arbeitet. Möge der Opfertod Rathenaus dazu dienen, um die verpestete politische Atmosphäre Deutschlands zu reinigen. …“

Die Urteile – hier nur genannt das für Ernst Werner Techow wegen Beihilfe zum Mord zu 15 Jahren Zuchthaus, Hans Gerd Techow wegen Beihilfe und Begünstigung zu 4 Jahren 1 Monat Gefängnis, Wilhelm Günther wegen Beihilfe und Begünstigung zu 3 Jahren Zuchthaus.

„Seit sie verhaftet sind, haben sie zu denken begonnen“ – dieser Satz steht am Ende eines Nachwortes im genannten Wiener Blatt zum Rathenau-Prozeß.

„Die O. C. ist erledigt“

Zwei Jahre später, am 22. Oktober 1924, kommt es zu einer „Abrechnung mit der Organisation ‚Consul’“, so der Titel eines Prozessberichtes im Leipziger Tageblatt (LT).

Vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig beginnt der politische Prozeß gegen 24 namentlich genannte Mitglieder der Organisation Consul, angeklagt sind sie der Geheimbündelei. Sie stehen nun ohne ihren Anführer, den aus Leipziger Untersuchungshaft ausgebrochenen einstigen Kapitänleutnant Hermann Erhardt, (der nicht wegen seines angeblich persönlichen Befehls zum Rathenau-Mord vernommen werden kann) vor Gericht.

Drei Tage wird verhandelt, es „ereignete sich nichts, was die Oeffentlichkeit auch nur entfernt in Erregung gebracht hätte. Häufiges Gähnen im sehr schwach besetzten Zuhörerraum demonstrierte unverhüllt, daß selbst die Hauptinteressenten die Verhandlungen nicht eben unterhaltend fanden. Ohne große Bewegung wurde denn auch die Verlesung der Strafanträge, die für einen verhüllten Freispruch plädieren, aufgenommen. Man war darauf gefaßt. Die ‚O. C.’ ist erledigt.

Der eigentliche Prozeß in Leipzig hatte nicht eigentlich den Zweck, die Republik zu schützen, sondern einfach die amtliche Urkunde über das Ende der ‚O. C.’ auszustellen. Das ist geschehen.“, so ein abschließender Kommentar im LT.

Zwei Urteile im Nachgang

Erledigt aber ist für zwei Helfershelfer am Rathenau-Mord die Strafverfolgung erst genau drei Jahre nach vollbrachter Tat nun wieder in Leipzig.

Am 23. Juni 1925 beginnt in Leipzig ein dreitägiger Prozeß gegen Günther Brandt aus Kiel und Johannes Küchenmeister aus Freiberg. Brandt, Oberleutnant zur See a. D., Sohn eines Universitätsprofessors und Mitglied der NSDAP, wird zur Last gelegt, im Auftrag des Mörders Kern gemeinsam mit Ernst Werner Techow von Küchenmeister das für die Tat benutzte Auto „für einen nationalen Zweck“ besorgt zu haben. Beide sind wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.

Brandt wird zu 4 Jahren Gefängnis und 500 Mark Geldstrafe nicht wegen Beihilfe zum Mord, sondern nur wegen Mitwisserschaft gem. § 139 StGB. verurteilt, Küchenmeister freigesprochen.

Die Begründung, (kommentiert im LT): „Da Brandt den Mordplan erst drei Tage vor der Tat erfahren habe, hätte er dem Fabrikanten Küchenmeister nicht sagen können, zu welchem Zwecke das Auto benutzt werden sollte. Deshalb mußte der Angeklagte Küchenmeister aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden.

Von dem bei Küchenmeister gefundenen geheimen Waffen- und Munitionslager (im Pressebericht am Vortage im LT erwähnt) war nicht mehr die Rede; auch das steht in krassem Gegensatz zu Kommunistenprozessen! Wo sind hier, wo es gegen Rechtsradikale ging, die harten Paragraphen des Republikschutzgesetzes geblieben, nach denen man bisher jeden Arbeiter oft wegen Geringfügigkeiten zu hohen Zuchthausstrafen verurteilte?“

Das größte Werk blieb unvollendet

Der „Daily Telegraph“ bringt am Jahrestag der Ermordung Rathenaus eine Würdigung, die das LT am 24. Juni 1923 gleich auf seiner Titelseite wiedergibt:

„Die Mörder wußten nicht, daß sie durch ihr Verbrechen die Uhr der deutschen Staatskunst um ein erhebliches zurückgedreht haben und daß sie einen wohlüberlegten Plan zum Scheitern brachten, rasch mit Frankreich zu einem Ausgleich zu kommen.

Als Dr. Rathenau Außenminister wurde, war er zwar der große Industriekapitän, aber noch ein Neuling in der Technik der internationalen Politik. In den ersten drei Monaten seiner Arbeitsperiode war er mit der Vorbereitung der Genueser Konferenz beschäftigt, dann folgten Wochen, in denen seine Arbeitskraft fast völlig durch die Arbeit der Konferenz in Anspruch genommen wurde, so daß ihm als Minister nur die wenigen Wochen zwischen dem Abbruch der Genueser Konferenz und seiner Ermordung zur Verfügung standen, um auf diesem Gebiete schöpferische diplomatische Arbeit zu leisten.

Nachdem er einmal die Überzeugung gewonnen hatte, daß der Schwerpunkt der politischen Lage in Paris lag, und daher nicht durch die bürokratische Tradition der Wilhelmstraße gehemmt war, nahm er die Aufgabe in Angriff. Diese Arbeit ist leider vorzeitig durch die Kugeln der deutschnationalistischen Mörder zum Abschluß gebracht worden. Die Unterhaltungen zwischen Paris und Berlin, die sehr aussichtsreich waren, hörten auf.“

Rathenaus Vermächtnis

Die Deutsche Demokratische Partei wendet sich mit einem längeren, ihr Mitglied Walther Rathenau würdigenden Aufruf an die Öffentlichkeit, gleichfalls veröffentlicht im LT zum Jahrestag des Attentats. Darin heißt es:

„Die Trauer, die heute die große Mehrheit des deutschen Volkes mit uns, Rathenaus Parteifreunden, vereint, kommt zu spät. Nur dann kann sie für unser Vaterland nur Gutes schaffen, wenn sie alle die, deren Gedanken heute den Lauf des letzten Jahres verfolgen, erfüllt mit dem festen Willen, Rathenaus Vermächtnis zu übernehmen.

Die Herstellung des Friedenszustandes in Europa und die endgültige Regelung der Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich sind Rathenaus außenpolitisches Vermächtnis. Für die Gesundung im Innern aber gelten diese Richtlinien, die dem Verewigten politische Leitsätze waren:

Einigkeit setzt den Willen zum sozialen Ausgleich auch bei den wirtschaftlich Starken voraus; stabile wirtschaftliche Verhältnisse zu schaffen ohne Heranziehung auch der Handarbeiter zur Verantwortlichkeit ist unmöglich; Treue zur deutschen Republik ist die Voraussetzung des deutschen Wiederaufstieges.“

*Peter Uhrbach, Autor und Wagner-Rechercheur

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar