Seit dem 1. Mai 2001 gibt es in Leipzig – wie schon einmal von 1884 bis 1947 – wieder eine Bismarckstraße. In der Begründung der CDU-Fraktion zur Aufnahme in die Tagesordnung der Ratsversammlung am 20. 05. 1998 heißt es: „Leben und Werk dieses bedeutendsten aller deutschen Reichskanzler setzten wir als hinreichend bekannt voraus, erinnert sei hier nur an Bismarcks Rolle bei der Schaffung eines einheitlichen deutschen Staates in Überwindung jahrhundertelanger Kleinstaaterei und an seine sozialpolitische Weitsicht, die zur Schaffung der ersten modernen sozialen Sicherungssysteme in Deutschland beitrug.

Nachdem Bismarck in der DDR lange Zeit als Inbegriff reaktionären Preußentums verunglimpft wurde, kam es in den 80er Jahren im Rahmen einer differenzierteren Sicht auf die preußische Geschichte und der Rückbesinnung auf nationales Geschichtserbe auch zur Neubewertung von Person und Bedeutung Bismarcks. Um so bedauerlicher ist es, dass bis zum heutigen Tag keine Straße und kein Platz in der Stadt Leipzig an diese große Persönlichkeit erinnert, im Gegensatz zu vielen anderen sächsischen Städten und Gemeinden (z.B. Dresden, Delitzsch, Naunhof).

In früheren Epochen hingegen wurde Otto von Bismarck auch in der Stadt Leipzig umfangreich gewürdigt. So gab es zwei Denkmale (auf dem Markt und im Johannapark) und das Bismarck-Haus am Markt. Insgesamt vier Straßen in Leipzig hatten einen Bezug zu Bismarck: * die heutige Ferdinand-Lasalle-Straße hieß von 1873 bis 1945 Bismarckstraße, * die heutige Helmholtzstraße hieß von 1905 bis 1966 Kanzlerstraße, * die heutige Paul-Küstner-Straße hieß von 1897 bis 1945 Ottostraße, * die heutige Fritz-Seger-Straße hieß von 1906 bis 1949 Schönhausenstraße (nach dem Geburtsort Bismarcks).“

So wurde gemäß Beschluss der Ratsversammlung vom 12.07.2000 die Heinrich-Rau-Straße in die Bismarckstraße umbenannt und, wie eingangs erwähnt, dann ab 1. Mai 2001 verbindlich.

Ein prominentes Lob

Erinnert sei noch daran, was Henriette Goldschmidt 1915 bei einer Umfrage „Gedanken zu Bismarcks 100. Geburtstag“ geäußert hat: „Niemals hat die staatsmännische Weisheit Bismarcks sich in hellerem Lichte gezeigt wie nach dem Krieg und Sieg 1866 in Österreich. In Widerspruch mit dem gesamten Kriegsrat, in Widerspruch mit dem, von ihm so hochverehrten, so inniggeliebten König hielt er die Meinung fest, ‚Österreich weder Buße an Land noch an Geld aufzuerlegen‘.

Ja, als der so wenig ehrgeizige Moltke den sieghaften Einzug der Truppen in Wien als Genugtuung für die von ihnen bewiesene Tapferkeit verlangte, wurde er von Bismarck zurückgewiesen. Diese staatsmännische Weisheit ist nicht das Resultat eines klug berechnenden Diplomaten – sie ist, wie jede Weisheit, das Ergebnis der gesamten Kräfte einer Persönlichkeit, die über sich hinaus in die Zukunft schaut. Der rechte Staatsmann, wie der rechte Dichter ist ein Prophet, ein Seher, der seinem Volke die Zukunft offenbart und ihm die Wege weist.“

Verbindung zu Leipzig

Was Otto von Bismarck familiär mit Leipzig verbindet, erfahren wir aus seinen 1898 in der Cotta’ischen Verlagsbuchhandlung erschienenen „Gedanken und Erinnerungen“. In der Neuausgabe von 1928 findet sich folgendes Zitat (S. 49): „Meine Mutter war die Tochter des in den damaligen Hofkreisen für liberal geltenden Kabinettsrates Friedrichs des Großen, Friedrich Wilhelms II. und III. aus der Leipziger Professorenfamilie Mencken, welche in ihren letzten, mir vorhergehenden Generationen nach Preußen in den auswärtigen und den Hofdienst geraten war.“

Auch das gab es in Leipzig – einen „Reichskanzler-Stammtisch“.

In den Jahren 1943/44 trafen sich unter diesem Namen ab und an acht Herren in einem Lokal in der Dufourstraße. Sieben von ihnen konnten hier noch ermittelt werden: der Schriftsteller Franz Adam Beyerlein, der Prokurist der Eisen- und Stahlwerke Meier & Weichelt Leipzig Alfred Klemenz, der Buchhändler Paul Köhler, der Prokurist des Insel-Verlages Leipzig Friedrich Michael, der Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig Friedrich Schulze, der Maler und Grafiker, Schrift- und Buchgestalter Walter Tiemann und der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Valerian Tornius.

Die Hinweise über den Stammtisch fand ich auf zwei Postkarten.

Die erste Karte, geschrieben am 22. März 1943 von Alfred Klemenz an Franz Adam Beyerlein: „An Tornius ist die 17bändige Gerhart-Hauptmann-Ausgabe überreicht worden, sie kostet 120 RM. Auf jeden der 8 beteiligten Herren des Reichskanzler-Stammtisches kommen 15 RM.“ Auf der zweiten Karte vom 5. Februar 1944 fragt Friedrich Michael seinen Bekannten Franz Adam Beyerlein: „Wann werden wir Sie in der Dufourstraße begrüßen?“

Was mag diese Männer bewogen haben, ihre Herren-Runde nach Otto von Bismarck zu benennen? Ist es eine Grundstimmung, bereits 1897 ausgedrückt (wie es die „Leipziger Neuesten Nachrichten“ in einer bitterbösen Geburtstagsbeilage am 1. April 1897 zum Ausdruck brachten): „Bismarck den wir den größten Deutschen nennen? Steigen nur dort heiße Gebete zum Himmel, wo man mit Bewunderung des Vergangenen eine harte Kritik der Gegenwart vereinigt?“ Harte Kritik auch an die gegenwärtige Lage und ihre Verursacher, „hinter vorgehaltener Hand“ geäußert?

Bismarcks Haltung zu den Juden im Wandel

So ist es wohl angemessen, an Fürst Otto Eduard Leopold von Bismarck (*01.04.1815 Schönhausen/Elbe; †30.07.1898 Friedrichsruh im Sachsenwald bei Hamburg) zu erinnern. Schon Otto Jöhlinger schreibt in seinem 1921 erschienenen Buch „Bismarck und die Juden“: „In der Tat brauchen wir dringend, wenn wir geistig, politisch, wirtschaftlich und moralisch aus dem völligen Zusammenbruch uns wieder erholen wollen, mehr als je ein Versenken in die geistige Werkstatt des größten deutschen Staatsmannes der Neuzeit.“

Und an anderer Stelle heißt es: „Eingehämmert in die Weltgeschichte sind die gewaltigen Taten der Reichseinigung, das Zielbewußte der auswärtigen Politik und die Begründung der Sozialpolitik. Gegenüber diesen gewaltigen Aktiven darf auch der größte Bismarckverehrer ruhig eingestehen, daß in der Bilanz des Staatsmannes Bismarck Passiven vorhanden sind wie Kulturkampf und Sozialisten-Gesetz. Das verkleinert nicht die Leistung eines Genies; denn das Genie bleibt immer ein Mensch.“

Auch Bismarck hat, wie Jöhlinger nachweist, seine Haltung zu den Juden sehr geändert: „Wollen wir Bismarcks Stellung zum Judentum verstehen, dann müssen wir das Leben des Mannes in drei Teile zergliedern, die sich scharf voneinander abheben. Die erste Periode umfaßt die Zeit vor dem öffentlichen Auftreten bis zum Eintritt in den Staatsdienst als Bundestagsgesandter von Frankfurt. Die zweite Periode die Zeit seiner Tätigkeit als Gesandter, als preußischer Ministerpräsident und Reichskanzler bis zum Jahre 1890 und die dritte Periode die Zeit im Sachsenwalde bis zu seinem Tode.“

Das vorausgesetzt, richten wir nun unseren Blick auf Leipzig.

Bismarcks Haltung zum Antisemitismus

Die sozialdemokratische Presse (LVZ) vom 7. Januar 1898 interpretiert anhand eines Berichtes der Wiener „Neuen Freien Presse“ die Haltung Bismarcks zum Antisemitismus: „In der Neuen Freien Presse berichtet ein süddeutscher Politiker über das, was Bismarck vor einiger Zeit über den Antisemitismus gesagt hat. Er halte die Vermischung des jüdischen Elementes zu dem germanischen für nützlich.

Es stecke in den Juden etwas drin, was wir nicht hätten. Sie gäben der Bevölkerung, namentlich der großen Städte, ein Mousseur, das sonst fehlen würde, Antriebe und Beweglichkeiten, die sonst kaum in dem Maße vorhanden wären. Und dann sehe er auch, abgesehen von allen Erwägungen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, keinen Weg, auf dem die Ziele der Antisemiten zu verwirklichen wären. Wenn man sie nach der Ausführung ihrer Pläne in der Wirklichkeit fragt, so ginge es ihnen ähnlich wie den Sozialdemokraten (?), sie wüßten nichts praktisch Ausführbares vorzuschlagen, ihre Rezepte seien im heutigen Staatsorganismus nicht anwendbar.

Was könne man überhaupt machen? Maßregeln wie die ‚Bartholomäusnacht‘ oder die ‚sicilianische Vesper‘ würden die Antisemiten kaum selbst in Vorschlag zu bringen wagen. Ausweisen könnten wir die Juden auch nicht, ohne unseren Nationalwohlstand schwer zu schädigen.

Andere Maßregeln, wie etwa die Ausschließung der Juden von richterlichen und anderen Staatsstellen, würde das Übel, das die Antisemiten beseitigen zu müssen glaubten, nur verschärfen, denn dann würde sich diejenige jüdische Intelligenz, der sich die staatliche Carriere verschlösse, auch noch auf diejenigen Gebiete werfen, auf denen das Übergewicht der Juden, das von den Antisemiten schon jetzt als unerträglich bezeichnet werde, nämlich auf die geschäftlichen.

Seiner Ansicht nach entspränge die Judenbewegung in der Hauptsache weniger religiösen und auch nicht so sehr Rasseninstinkten, sondern doch mehr wirtschaftlichen Gründen. Er bezeichnete es als Tathsache, daß die Juden im Gelderwerb anderen Elementen der Bevölkerung vielfach überlegen seien. Die Überlegenheit beruhe auf Stammeseigenschaften, die, ob sie uns nun gefielen oder nicht, durch staatliche Mittel nicht zu beseitigen seien. Die Juden wären infolge natürlicher Veranlagung in Geldsachen meist klüger und geschickter als die Christen.

Auch wären sie, wenigstens solange sie noch nicht zu Vermögen gelangt seien, wenn auch vielleicht nicht arbeitsamer, so doch genügsamer und sparsamer als ihre christlichen Mitbewerber. Dazu komme, daß ein Jude, um einen geschäftlichen Vorteil zu erlangen, leichter einmal etwas riskiere und in der Anwendung seiner Mittel zum Zwecke mitunter auch wohl etwas weitherziger verfahre als sein christlicher Konkurrent. Das alles gäbe ihm geschäftlich einen Vorsprung, der sich gesetzlich nicht beseitigen lasse. Auch die Antisemiten hätten bisher nichts vorzuschlagen gewußt, was diesen Vorsprung und dessen Wirkung auf das wirtschaftliche Leben der Nation paralysiere.

Was sie bisher vorgeschlagen hätten, wäre unwirksam, und es würde sich keine Regierung finden, die das ausführen könnte. Es sei auch durchaus nicht rätlich, dem jüdischen Triebe nach Erwerb und Vermögensbildung von staatlicher Seite Hindernisse in den Weg zu legen, denn dadurch würden die übrigen Bevölkerungs-Elemente ebenso betroffen, und der Nationalwohlstand würde zurückgehen.

Man brauche sich die Juden deshalb nicht über den Kopf wachsen zu lassen oder finanziell von ihnen in einem Maße abhängig zu machen, wie dies in manchen Staaten der Fall sei. Bei seinen eigenen Beziehungen zur Háute finance (Hochfinanz) als Minister sei immer diese, niemals er der verpflichtete Teil gewesen. Er halte die Juden für nützliche Mitglieder des heutigen Staates und finde es unklug, sie zu beunruhigen. Namentlich der reiche Jude pflege ein sicherer Steuerzahler und guter Unterthan zu sein.

Eigentlich habe er Undank von den Juden geerntet. Kein Staatsmann habe mehr für ihre Emancipation gethan, als gerade er. Trotzdem hätten ihn gerade diejenigen fortschrittlichen und radikalen Blätter, die in jüdischen Händen seien, immer am heftigsten angegriffen. Aber er nehme das nicht so tragisch; das liege wohl mehr daran, daß die Eigentümer der Blätter es ihrem Liberalismus oder Radikalismus schuldig zu sein glaubten, die Erinnerung daran, was sie als Juden ihm zu verdanken hätten, keinen Einfluß auf die Haltung ihrer Organe ihm und seiner Politik gegenüber zu gestalten.

Andererseits habe er auch manchen Zug jüdischer Dankbarkeit erlebt. So habe er, als er noch in Pommern sein Gut bewirtschaftet habe, wie alle dortigen Grundbesitzer seinen Hofjuden gehabt. Eines schönen Tages sei der in Konkurs geraten und sei zu ihm gekommen, um ihn zu bitten, er möge eine Forderung, die er an ihn habe, nicht mit anzumelden, dann käme er ohne Bestrafung davon.

Er (der Fürst) habe es ihm versprochen und seine Forderung ausfallen lassen. Der alte Mann habe seine Dankbarkeit später so geäußert, daß er, nachdem er sich in seinen Verhältnissen erholt gehabt habe, ihm alljährlich Abzahlungen gemacht hatte, zu denen er kaum noch verpflichtet gewesen sei, und dies so lange fortgesetzt habe, bis er (der Fürst) aus der Gegend weggezogen sei und ihm gesagt habe: ‚Nun ist es genug, streichen wir den Rest.‘“

Wohlgemerkt: Die hier offenbarte, von Altersweisheit geprägte Einstellung Bismarcks gegenüber den Juden zeigte sich nach Jöhlingers Zeiteinteilung ab 1890 im Sachsenwalde bis zu seinem Tode.

Die letzten Bemerkungen der Interpretation in der LVZ beziehen sich ganz allgemein auf frühere Zeiten: „Wie nobel von Bismarck, der ja mit seinen altgedienten Beamten um etliche Hundert Mark prozessiert und den Profit so hoch schätzt! Bismarck hat bei seinen intimen Beziehungen zu dem Hochfinanzier Gerson Bleichröder sicher auch nicht schlecht abgeschnitten. Er singt ein Loblied auf das Geldjudentum, die besitzende Gruppe der Juden, mit der er sich wahlverwandt weiß, nachdem er sich vom armen Schlucker von Junker zum großkapitalistischen Latifundienbesitzer und Industriellen umgehäutet hat. Was ihn aber nicht hinderte, jahrelang Stöcker zu protegieren!“

(Adolf Stöcker, *11.12.1835 Halberstadt; †07.02.1909 Gries bei Bozen, saß 1879 im preußischen Abgeordnetenhaus und von 1881 bis 1893 und 1898 bis 1908 im Deutschen Reichstag und führte dort den antisemitisch-christlichen Flügel der Deutschkonservativen Partei.)

Eine gegenwärtige Meinung und etwas Früheres dazu

In einem Artikel in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 28.07.2022 urteilt Michael Wolffsohn, Prof. für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München von 1981 bis 2012: „Kein Zweifel: Licht und Schatten, wie bei jedem Menschen auch bei Bismarck. Aber auch kein Zweifel im Vergleich zu den meisten zeitgenössischen Politikern (nicht nur in Deutschland). Bismarck konnte strategisch und taktisch, dabei durchaus zynisch sowie in Zusammenhängen denken.

Nie hätte er, wie seine Nachfahren Gerhard Schröder und Angela Merkel, sein Land in die fast totale Abhängigkeit eines anderen Akteurs begeben. Er war wahrlich nicht medioker. Er hatte mehr Charisma, mehr Bildung, beherrschte mehr Fremdsprachen und besseres Deutsch. Wäre in Deutschland der vermeintliche Antisemitismus à la Bismarck fortgesetzt worden, hätte es gewiss keinen sechsmillionenfachen Judenmord gegeben.“

Auch August Bebel hatte einiges zum Antisemitismus-Problem zu sagen gewusst – nachzulesen auf den Seiten 515 bis 519 in seinem umfangreichen Bericht über „Die Sozialdemokratie im Deutschen Reichstag“ am Ende der ersten Legislaturperiode 1871–1893. Der Bericht erschien zuerst 1909 in der Berliner Verlagsbuchhandlung „Vorwäerts“ und als „origiginalgetreue Reproduktion“ im Dietz-Verlag Berlin 1966 mit Begleitheft von Gustav Seeber. Der Hinweis erscheint mir wichtig für das Verständnis des damaligen Erkenntnisstandes, natürlich aus sozialdemokratischer Sicht.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar