1883 starb Richard Wagner in Venedig. Mit dem Jahr 1883 endete auch die 2018 erschienene Dokumentation von Peter Uhrbach „Richard Wagners Werk in Leipzig“, in der es natürlich nicht um Wagners Werk ging, sondern um dessen Rezeption in Leipziger Zeitungen und Zeitschriften. Denn wie ein Komponist mit seinen Werken bei den Leuten ankommt, das beeinflussen bis heute die Medien. Auch wenn sich die Redakteure oft uneins sind, ob sie nun Hosianna oder „Alles ganz schrecklich“ schreiben sollen.

Oder sagen. In 100 Jahren werden emsige Forscher wie Peter Uhrbach gewaltige Schwierigkeiten haben, überhaupt noch herauszubekommen, was unsere heutigen Medien zu den Künstlern der Gegenwart geschrieben haben. Denn das meiste wird sich in nicht wiederauffindbaren Digitalmüll verwandelt haben. Insofern hatte Wagner Glück: Zu seiner Zeit waren Medien allesamt aus Papier.

Die großen Glaubenskämpfe um die Musik des 1813 in Leipzig Geborenen sind also noch erhalten. Und schon im ersten Band konnte Uhrbach ja zeigen, wie sich die Stimmung in Leipzig veränderte und dass so manche Legende, man habe die „Zukunftsmusik“ des Komponisten vehement bekämpft, in Luft auflöste.

Auch wenn der Streit nicht wirklich endete. Wie auch? Dazu bot Wagner selbst zu viele Angriffsflächen. Auch wenn nach seinem unverhofften Tod in Venedig scheinbar das ganze Kaiserreich trauerte. Zumindest das in den Leipziger Zeitungen und Zeitschriften abgebildete, die damals emsig Opernaufführungen im Neuen Theater rezensierten und sich auch über das Konzertgeschehen in ganz Europa informieren ließen.

Manchmal bekommt man sogar das Gefühl: Sie kämpften gegen eingebildete Gespenster, denn was man in den mit viel Fleiß von Peter Uhrbach zusammengetragenen Artikeln nicht findet, ist ausgerechnet eine Position, die sich weiterhin kritisch mit dem „Meister“ beschäftigte. Was Gründe hat. Und doch verblüfft. Denn mit einer geradezu berauschten Ernsthaftigkeit beschwören die Musikrezensenten immer wieder die ach so schnöden Angriffe auf Wagner, manchmal auch in der Vergangenheitsform.

Ganz so, als müsse man den schwer errungenen Triumph auch noch nach Jahrzehnten auskosten, als hätte man selbst – wie Siegfried – den Drachen in blutigen Gemetzeln getötet. Was schlicht nicht stimmen kann, denn etliche der Rezensenten waren zum Zeitpunkt ihres Schreibtischtriumphs viel zu jung, um dabei gewesen zu sein.

Und nichts an dem, was sie im Neuen Theater erlebten, deutet darauf hin, dass es noch irgendwo einen Dissens über Wagners Werke gab. Bestenfalls künstlerische Kritik an Inszenierung, Orchesterdarbietung und der Leistungsfähigkeit der Sängerinnen und Sänger.

1883 war Wagner längst angekommen im Himmel des bürgerlichen Opernpublikums, dessen Irritationen über das Neue und Gewöhnungsbedürftige in Wagners Musik nun tatsächlich schon 30 Jahre zurücklagen. Auch in Leipzig. Die 1880er Jahre sind eher Wagners Triumphzug durch die Opernhäuser Europas, woran ein zeitweiliger Leipziger Theaterdirektor eine gewaltige Aktie hatte: Angelo Neumann, der mit seinem Richard-Wagner-Theater über den Kontinent reiste, oft begleitet von furchtsamen Kommentaren aus Leipziger Zeitungsspalten, ob denn nun die Franzosen die Aufführungen nicht auspfeifen würden? Oder gar die Italiener?

Ganz unübersehbar brodelte da selbst in den Musikbesprechungen der Zeit ein ungezähmter Nationalismus, der ungefähr so klang wie heute etliche Fußballberichte zur Championsleage. Da wird gekämpft, gerungen, gebangt und triumphal gewonnen. Fast sieht man den braven Leipziger Angestellten, wie er bei solchen Passagen jubelnd vom Küchentisch aufspringt und sein „Leipziger Tageblatt“ in die Höhe reckt: Ha, jetzt haben wir es denen aber gegeben.

Vielleicht kommt man da hin, wenn man anfängt, Musik als national zu denken. Was im Wilhelminischen Kaiserreich augenscheinlich als normal empfunden wurde. Was dann auch dazu führte, dass die Kritiker begannen, an den Aufführungen herumzumäkeln, als gäbe es irgendwo eine heilige Vorschrift, wie Wagner-Werke zu inszenieren seien.

Dass diese Inszenierungen anspruchsvoll waren und sind, merkt man noch heute. Sie fordern ihren Sängerinnen und Sängern alles ab. Was in einem Fall augenscheinlich auch tragisch endete: im Fall der wohl grandiosen Sängerin Hedwig Reicher-Kindermann, die auf Angelo Neumanns Tournee dabei war und deren krankheitsbedingter Ausstieg aus der Tournee schon befürchtet wurde. Doch augenscheinlich ließ sie sich überreden und machte auch noch die anstrengende Partie nach Italien mit, wo sie dann „in Folge von Ueberanstrengung“ erkrankte und starb.

So erweist sich das Zeitungsarchiv dann doch noch als Fundgrube, denn es lässt auch die Schicksale von Menschen wieder auferstehen, ohne die es den Wagnerschen Siegeszug nicht gegeben hätte, von Künstlern, die Wagners Kompositionen als Herausforderungen empfanden und annahmen.

Denn auch das wird bei dieser Artikelauswahl, die im wesentlichen die Zeit von 1883 bis 1918 umfasst, deutlich: Wie Wagners Bühnenwerke wie ein Beschleuniger zur Modernisierung des deutschen Musiktheaters funktionierten und Orchester, Dirigenten, Sänger, Sängerinnen und auch Theater selbst zu einer umfangreichen Professionalisierung zwangen.

Wagner hatte schon recht, wenn er von „Zukunftsmusik“ sprach, auch wenn er nicht der Einzige war, der daran arbeitete. Auch in Italien und Frankreich arbeiteten talentierte Komponisten an modernen Bühnenwerken, die über das klassische, fast heimelige italienische Modell hinausgingen und versuchten, ein Gesamtkunstwerk auf die Bühne zu bringen.

Wagners Zeitgenossen erlebten diese Modernisierung mit. Sie konnten noch mit Theatererlebnissen aus einer deutlich „gemütlicheren“ Zeit vergleichen. In Leipzig eben auch mit der Zeit vor dem Bau des Neuen Theaters am Augustusplatz, dessen Baugeschichte ebenfalls in einem der von Uhrbach ausgewählten Beiträge erzählt und beziffert wird.

Erst die neuen großen Bühnen boten auch genug Platz für die bei Wagner erforderlichen Orchestergrößen und Chöre. Aber das nahmen augenscheinlich die Musikrezensenten gar nicht so wahr, tief verfangen in einer Wagneranbetung, die heute geradezu seltsam anmutet. Sie schrieben von Wagner tatsächlich als dem Meister. Ohne Anführungszeichen. Es verwundert nicht wirklich, dass dieser Personenkult mit dem späteren NS-Reich so kompatibel war, denn er hat augenscheinlich mit der seltsamen Sehnsucht kreuzbraver Bürger nach jemandem zu tun, den sie anhimmeln und glorifizieren konnten.

Aber gleichzeitig schimmert die Tatsache durch, dass das auch schon von den Informationsblasen der damaligen Zeit erzählt. Was spätestens deutlich wird, wenn Peter Uhrbach die von 1883 bis 1918 auffindbaren Artikel zum geplanten Leipziger Wagnerdenkmal zusammenstellt, die genauso den heroischen Ton benutzten und so tun, als wäre das ganze Volk reineweg wagnerbegeistert. Doch über Jahrzehnte quälten sich die Spendensammlungen für das Denkmal hin. Eben noch in Zeitungsspalten bejubelt, verschwinden die ersten zwei Denkmalsentwürfe bald wieder in der Versenkung.

Bewegung kommt in die Sache erst wieder, als sich die Leipziger Oberbürgermeister Dittrich und Rothe der Sache annehmen und es 1913 wenigstens zur Grundsteinlegung am Matthäikirchhof kommt, auch wenn dann der Erste Weltkrieg dafür sorgte, dass die Sache wieder stockte, Max Klinger nur den Sockel in Angriff nimmt und das Drama um das Denkmal in seine nächste Phase ging.

Denn das Stocken erzählt nun einmal davon, dass die Leipziger Wagner-Enthusiasten ihre Begeisterung für die Stimmung des ganzen Bürgertums hielten. Doch gerade da muss es starken Widerstand gegeben haben, den Sohn der Stadt mit einem Denkmal zu überhöhen, auch weil man Wagners Wirken damals eben nicht mit seiner Geburtsstadt identifizierte, sondern mit Bayreuth.

Das hat sich eigentlich bis heute nicht geändert, auch wenn man mittlerweile deutlich mehr weiß über Wagners frühe Leipziger (und Dresdner) Jahre und seine Familie. Was nichts daran ändert, dass der Komponist, der sich scheinbar so unzufrieden über Leipziger Aufführungen seiner Werke geäußert hat, nach seinem Tod dauerhaft im Spielplan des Neuen Theaters zu finden war. Und zwar in einer Häufigkeit, mit der kein anderer Opernkomponist mithalten konnte.

Im Anhang liefert Peter Uhrbach nicht nur eine Übersicht über die Vielzahl von Buch- und Zeitschriftenveröffentlichung zu Wagner aus der von ihm betrachteten Zeitspanne, er liefert auch eine Übersicht über alle Wagner-Aufführungen in Leipzig – von „Rienzi“ am 25. März 1883 bis zur „Götterdämmerung“ am 22. Dezember 1918. Was fast schon wie eine Pointe wirkt, war eben das Kaiserreich, in dem Wagner endgültig zum musikalischen Heroen stilisiert wurde, da schon seit einem Monat Geschichte, mit seinem bombastischen Kriegsgebrüll kläglich gescheitert. Was übrigens dann auch die Wagner-Inszenierungen veränderte.

Aber das ist schon ein neues Kapitel. Und bei der Richard-Wagner-Gesellschaft denkt man recht ernsthaft darüber nach, in der Reihe „Leipziger Beiträge zur Wagner-Forschung“ auch noch einen dritten Band mit den Rechercheergebnissen von Peter Uhrbach zu veröffentlichen, der sich dann den Zeitungsfunden ab 1918 widmen würde.

Und auch wenn einem stilistisch manches zu übersteigert vorkommt, bietet auch dieser zweite Band einen Lesegenuss, weil er ermöglicht, in die sprachliche Welt der Theaterkritik der Kaiserzeit einzutauchen, quasi ein Komprimat der in dieser Zeit veröffentlichten Artikel zu lesen, in dem der Geist der damaligen (groß-)bürgerlichen Welt genauso lebendig wird wie die Persönlichkeit einiger Leipziger Zeitgenossen, die sich damals um die Etablierung Richard Wagners in den Spielplänen bemühten – von Angelo Neumann bis zu Max Staegemann, die Künstler nicht zu vergessen, die Wagner auf und vor der Bühne kongenial umsetzten – vom Dirigenten Arthur Nikisch bis zum „Jung-Siegfried“ Heinrich Knote.

Nur die Tonaufzeichnungen fehlen. Man hat nur die Worte der Kritiker, die versuchen zu beschreiben, wie die Darsteller auf der Bühne rüberkamen. Die auch gern zu Superlativen griffen, wenn sie Leipziger Aufführungen mit denen in anderen Städten verglichen.

Etwas, was 20 Jahre zuvor ja auch Wagner erlebte, als er – nach langer Zeit im Exil – erstmals eine Inszenierung seines Lohengrin erlebte. Es braucht nun einmal immer ein paar Jahre, bis sich Publikum und Theater an etwas Neues gewöhnt haben und gelernt haben, es auch in der durchaus anspruchsvollen Intention des Komponisten umzusetzen – der bass erstaunt war, dass er nach Jahren der Ächtung auf einmal bejubelt und beklatscht wurde.

Es ist nicht wirklich nur ein Buch für Freunde des Richard-Wagner-Verbandes. Es bereichert auch alle, die sich für Kultur- und Musikleben des späten 19. Jahrhunderts erwärmen können und gern wissen wollen, wie zumindest die zuständigen Musikkritiker damals dachten und schrieben.

Peter Uhrbach Wagners Werk und Wirkung im Deutschen Kaiserreich, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2020, 19,80 Euro.

In alten Zeitungskritiken findet Peter Uhrbach die Wagner-Verehrung des 19. Jahrhunderts wieder

In alten Zeitungskritiken findet Peter Uhrbach die Wagner-Verehrung des 19. Jahrhunderts wieder

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