Auch im beginnenden laufenden sechsten Jahr nach dem Kriegsende ist im Dezember 1923 eine alltägliche Dürftigkeit in Leipzig sehr zu spüren. Ganz besonders augenfällig wird diese im Bericht eines Lehrers unter dem Titel „Weder Strumpf noch Schuh – Die Not der Zeit im Spiegel einer Schulklasse“, der in der Zeitung „Leipziger Tageblatt und Handelszeitung“ Nr. 292 vom 11. Dezember 1923 auf Seite 3 nachgelesen werden kann. Auch im kulturellen Leben hat sich vieles verändert.

Unter den gegebenen Umständen setzt Alwin Kronacher (1880 bis 1951), Schauspieldirektor am Alten Theater in Leipzig von 1921 bis 1929, am 8. Dezember 1923 das Drama: „Baal“ von Bert Brecht als Uraufführung in Szene.

Georg Witkowski, zu dieser Zeit Vorsitzender des Leipziger Schiller-Vereins, erinnert sich nach einer Aufzählung von Autoren, darunter Brecht: „Jede Grenze der hergebrachten Moral, sogar des äußeren Anstandes wurde durchbrochen; in einer ungeregelten Folge von Bildern rollten wüste Handlungen voll Schreien der Gier, der Empörung, des Hasses ab. Kronachers großes Können vermochte auch diese ungeformten, weniger für als gegen die Bühne geschaffenen wüsten Werke zu meistern.

Er erzog sich dafür Darsteller, stellte sie in verführerische Bühnenbilder und erreichte es häufig, daß die guten Leipziger an der echten oder angeschminkten Wildheit Geschmack fanden.“

Der Tageblatt-Rezensent Hans Georg Richter liefert einen ausführlichen Bericht, den man wegen der vielen Details nur versteht, wenn man das Stück gesehen oder den Text gelesen hat. Richter leitet seinen Text ein mit: „Dem großen Baal opferten die Juden, wenn sie’s mit Jehova verdorben hatten.

Der große Baal, der Heidegötze, ist sehr brutal, und Bertolt Brechts kleiner Baal – ein Dachkammerpoet, mit dem es nicht zum besten steht – ist auch brutal. Daher ungefähr der Name“, und schließt seinen Bericht mit den Worten: „Dieses Jugendstück mit seiner lyrischen Kraft, dramaturgischen Schwäche und moralischen Wurschtigkeit paßt auch wirklich in keinen Innenraum mit einem Deckel darüber. Stubenrein ist es nicht, aber stubendumpf noch weniger.“

E.J. über den „Baal“

Dagegen liest sich der nur mit einem „E.J.“ unterzeichnete LVZ-Bericht vom 11. Dezember 1923 ganz anders, weil er Eindrücke schildert, Zusammenhänge darstellt.

„Als man unter Pfeifen und Gelächter der einen, unter dem wütenden Klatschen der anderen den halb widerstrebenden Dichter auf die Bühne zog, erkannte man mit jäh aufsteigender Sympathie in der rührend schüchternen Gestalt den Verfasser der Trommeln in der Nacht. Dieser war es, der die Geschichte von der Heimkehr des verschollenen Soldaten erzählte, die uns so tief ergriffen hat.

Und dieser hat auch die Vision des unbarmherzigen Tiermenschen Baal gehabt? Gewiß, sowie der leidende, zarte Nietzsche den Traum vom Übermenschen schuf. Für die Psychoanalyse ist das kein Widerspruch.

Schwerer ist zu begreifen, wie neben den (trotz des unbefriedigenden letzten Aktes) erschütternden Trommlern in der Nacht der von allen Geistern verlassene Baal stehen kann. Waren die Trommeln ein aus dem Kriegerleben geborener, einmaliger glücklicher Wurf? Ist der Baal ein älteres, unreifes Drama, das nur später gedruckt worden ist?

Auf jeden Fall darf man den Widerspruch nicht verwischen, indem man diesen langweiligen 21 Bildern, die jedes dramatischen Zuschnitts entbehren, Beifall klatscht. Man würde es auch kaum tun, wenn der Held des Stückes nicht Baal hieße.

Was tut dieser Mensch? Er schändet andauernd Frauen, ist immer von Schnaps berauscht, stellt bisweilen fest, daß der Himmel hell, violett oder grau ist und macht ab und zu Gedichte; auf den Abort, auf sich selbst, auf eine Wasserleiche (leider findet man dieses letzte Gedicht viel schöner bei Georg Heym). Am Schluß, um doch einmal ein Ende zu machen, stirbt er. Alles in einer bewußt kindlichen, mitunter eindrucksvollen, oft aber lächerlichen Sprache gehalten.

Hieße der Mensch nun Meyer, wir würden diese Unterschätzung unseres Denkvermögens mit Recht zurückweisen; da er aber Baal heißt, ziehen vorsichtige Leute vor, zu klatschen. Denn Baal ist ein mythologischer Name und läßt auf Symbolik schließen; Baal ist ein orientalischer Gott, der Opfer verbrauchte und könnte Urkraft, Rausch, Sinnlichkeit, zeitloses Erleben jenseits von Gut und Böse oder (so las ich) der nackte Mensch bedeuten.

Anstatt festzustellen, daß aus einem unfertigen Denken nur eine unklare Symbolik entstehen kann, ist man töricht genug, Törichtes erklären zu wollen. Brechts starke Kraft (die auch im Baal noch erkennbar ist) liegt in der Anschauung des Wirklichen; sie muß er entwickeln, statt der Zeitkrankheit, einer ziellosen Mystik, zu verfallen.

Der Regisseur Kronacher bereitete dem unseligen Stück eine ausgezeichnete Aufführung. Seine etwas unkörperliche, durchgeistigte Art nahm dem Drama manches Peinliche. Der Wechsel der Szenen vollzog sich rasch und enthüllte scharf umrissene Bilder, die das Gedächtnis festzuhalten strebte. Ohne den Spielwart Kronacher und den Darsteller Körner, was wäre das Stück gewesen?

Körner schwankte als mitleidloser Tiermensch Baal gierig und kindlich über die Bühne. Mit Zeise-Götts groteskem Monokelträger Ekart bildete er eine beunruhigende Landstreicherzweisamkeit. Aus der Fülle der übrigen, meist gutgezeichneten Gestalten spürte man Geniales in Margarete Antons Sophie Barger. Aber das Unzulängliche der Dichtung konnte auch in der reifen Aufführung nicht Ereignis werden.“

Hier noch ein kleiner Nachtrag zu den „Trommeln in der Nacht“:

Die Leipziger Erstaufführung der „Trommeln in der Nacht“, in Szene gesetzt von Fritz Viehweg, fand am Sonnabend, dem 10. Februar 1923, im Leipziger Schauspielhaus statt, die Rezension von Hans Georg Richter steht im Tageblatt vom 13. Februar 1923.

In der LVZ vom 12. Februar 1923 kann man lesen: „Es war eine starke Wirkung. Hier ist ein Dichter, ein Dramendichter, einer, der die Gesichte der Zeit zu packen und zu gestalten weiß. Freilich ist er in der Idee nicht unser Mann, seine Lösung ist nicht die der kämpfenden Arbeiterschaft. Aber bei alledem ist hier ein Werk, das uns fesselt, wenn uns auch die Tendenz des Schlusses nicht gefällt. Es verdient eine eingehendere Betrachtung. Eine treffliche Aufführung trug viel zum Erfolg bei. H.B.“

Und diese „eingehendere Betrachtung“ des „H.B.“ findet man auf der Feuilleton-Seite der LVZ des 13. Februar 1923.

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