Unter denen, die an diesem 22. März des Jahres 1914 im Neuen Theater ihren Platz einnahmen, um das dreiaktige „Bühnenweihfestspiel“ von Richard Wagner zu erleben, haben sich vielleicht vorher noch einige diese oder jene Parsifal-Schallplatte angehört. 20 „einzig existierende Grammophon-Aufnahmen“ konnte man damals von der „Österr. Grammophon-Ges. m. b. H. Wien“ erwerben.

Zugleich mit der Leipziger Premiere erschien aber auch im Verlag Breitkopf & Härtel ein „Vollständiger Klavierauszug mit Text von Otto Singer“ mit einer Einführung, Inhalts- und Motivangaben von Carl Waak.

Ob sich von den Älteren noch jemand wird erinnert haben, dass schon einmal eine Melodie aus dem „Parsifal“ in Leipzig öffentlich zu vernehmen war – vor mehr als 27 Jahren? Großartig deklariert als „Parsifal-Abend“ im Krystall-Palast am 1. August 1887! Aber von „Parsifal“ war dann im II. Teil nur an 6. und letzter Stelle ein Fragment aus dem 1. Akt wohl als krönender Abschluss dieser Neuheit für Leipzig zu hören.

„Am Schlusse kam das Parsifalbruchstück, dessen Ausführung allerdings manchen Wunsch unbefriedigt ließ,“ so Rezensent Martin Krause im Leipziger Tageblatt dazu.

„Parsifal“ nur in Bayreuth?

Damals war diese Aufführung durch Mitglieder des „grossherzoglich-sächsischen Hof-Theaters in Weimar“ ohnehin illegal. Erst mit dem Jahresende 1913 war die Schutzfrist für das Urheberrecht abgelaufen. War es nicht Wagners ausdrücklicher Wille, den „Parsifal“ nur in Bayreuth aufzuführen? Für Felix Weingartner, selbst Mann vom Fach, hat sich Wagner mit seinem Werk selbst in diese Lage gebracht. Ein unfehlbares Mittel, das „Bühnenweihfestspiel“ für Bayreuth zu bewahren, wäre es nach Weingartner gewesen, die Orchesterpartitur dieses Werkes einfach nicht zu veröffentlichen! Aber nun waren die Schleusen geöffnet.

Sein Appell gegen die Freigabe des „Parsifal“ Mitte August 1912 blieb ebenso erfolglos wie die Replik seines Kollegen Julius Bittner im Februar 1913 oder die bekannte Eingabe von Cosima Wagner an den Deutschen Reichstag.

Die Leipziger Erstaufführung, von der Stadt mit einem Zuschuss von 85.000 Mark bedacht, stand unter der musikalischen Leitung von Operndirektor Otto Lohse; Robert Engels aus München inszenierte und Dr. Ernst Lert führte Regie, unterstützt von Max Martersteig.

In der Rückschau bekommt man einen ungefähren Eindruck von dieser Leipziger Erstaufführung aus Beiträgen von Eugen Segnitz („Leipziger Tageblatt“, 22. 3. 1914) und Dr. Max Steinitzer („Signale für die Musikalische Welt“, Berlin, 1. Aprilheft 1914).

Beide Rezensenten sind sich einig über die gelungenen Auftritte der Akteure auf der Bühne.

„Des Opfertodes Symbol“

Segnitz leitet seinen Text mit einer großartigen Würdigung des Werkes und seines Schöpfers ein: „ ‚Aus Mitleid wissend …’ Die Romantik und Mystik betrachtet alles Urteilen und Verstehen als eine Sache des Herzens, nicht des Verstandes. Was am Menschen eigensüchtig ist, zum Opfer bringen, des Mitmenschen Schwachheit und Sündhaftigkeit begreifen und ihn herausführen wollen aus Not und Versunkenheit, dafür seinen Willen zum Seelenadel anzufachen und ihn zu innerer Freiheit anzuhalten – solches lehrt Richard Wagners Bühnenweihfestspiel ‚Parsifal’.

Ein Spiel gewaltig entgegenwirkender Elemente entwickelt sich in dieser Dichtung. Wider das unaufhaltsam drängende Leben richtet sich ernst mahnend des Opfertodes Symbol. Zwischen Begehren und Entsagung taucht lüsternes Grauen empor. Aber alles Sinnliche ist gebunden und beschlossen in höchster Schönheit, mag es sich nun darstellen als strenger, asketisch-mönchischer Zug, der auf die Jenseitswelt hinweist, oder als wildwachsende Schönheit, als inbrünstiges Gebet oder als das Hohelied der Liebesberauschung. Nur auf das eine geht alles hinaus – auf die Erlösung der Menschenseele. Was Richard Wagner im ‚Fliegenden Holländerʻ begann, verfolgte er durch sein gesamtes Lebenswerk hindurch, um es im ‚Parsifal’ zu vollenden.

Der gestrige Abend war ein Ereignis im Leipziger Musikleben. Seit jener denkwürdig glorreichen ersten ‚Tristan’-Aufführung im Januar 1882 hat kaum wohl unser Theater ein Publikum gesehen, das in gleichem Maße oder auch nur annähernd sich so interessiert erwiesen hätte. Der weite Raum zeigte ein farbenfrohes, vielfach bewegtes Bild. Ganz Leipzig war auf dem Plan, jede Klasse der Gesellschaft hatte ihre Vertreter entsandt.“

Der Intendant als Conferencier

Was Segnitz dann im Anschluss im Einzelnen nur sachlich und durchaus kritisch erwähnte, regte Steinitzer zum Sarkasmus an. Er ließ in einem Teil seines Textes den Intendanten fiktiv vor Beginn des 2. Aktes als Conférencier auftreten, um dem Publikum seine Auffassung der Zaubergarten-Szene verständlich zu machen:

„Sie werden, sobald es hell wird, von unserem Bühnenbild vielleicht den Eindruck der gewollten und durch die grösste Primitivität erreichten Parodie haben, denn Sie sehen nichts als missfarbige viereckige Flächenstücke, die Terrassenvorsprung, Turm und Gartenmauern von Klingsors Zauberschloss andeuten; den Blumenreichtum gibt ein Gewirre bunter, meist roter und grüner Stoffstücke wieder, deren Faltengemenge teilweise allerdings etwas an Blütenmassen erinnern kann, teilweise aber als gehaltlose Lappen von den Mauern hängt. Im schwächsten Mondlicht etwa würde das wirksam aussehen, wir lassen aber scharfes Licht darauf fallen. Sie werden fragen, was die grosse, aus fünf gelbbraun gestrichenen Brettern roh zusammengeschlagene leere Bank links vom Zuschauer bedeutet; sie steht der Symmetrie wegen den ganzen Akt über in ihrer Hässlichkeit da und bleibt die ganze Zeit über gleich gelbbraun, weil niemand sie zudeckt.

Auf der anderen Bank wird Kundry in bläulich-roten Knöchelhöschen und hochblauem Ueberkleid platznehmen, nachdem sie gemächlich zum Mauertor hereingekommen, nicht aber, wie der Dichter will, in leicht verhüllender verführerischer Kleidung auf ihrem Lager ruhend Parsifal erschienen ist. Die Blumenmädchen sollen mit ihren Liebsten, vom nächtlichen Lager aufgescheucht, in rasch und flüchtig übergeworfener Gewandung hereinstürmen. Nun aber hat uns Wagner’s Bemerkung von Kundy’s ‚annähernd arabischer’ Kleidung zu einer umfassenden Kostümstudie in 40 – 50 Blättern angeregt, die wir hier verwirklichen.

Sie werden sagen, das Anlegen dieser unten am Knöchel beginnenden mohammedanischen Höschen, dieser Unter- und Oberkleider, Schärpen, Schleifen und Kopftücher würde neben der peinlich sorgfältigen Haarfrisur mindestens vierzig Minuten erfordern, die aber stürzen doch in wilder Hast eben aus ihren Betten – darauf erwidere ich Ihnen, Geehrteste, dass Sie ja auch in der älteren Oper zugunsten der Bühnenwirkung manchen Widersinn ohne Murren hinnehmen. Diesmal allerdings geht die Wirkung eben dadurch verloren; Sie werden bemerken, dass manches allzu bürgerlich behäbige Antlitz dieser Mädchenblumen eben erst durch die glatte Frisur zu einem solchen wird, während loses Nachtgewand und offenes Haar allerlei verschönt und eine solche Karikierung der Szene vermieden hätte. Nun, nehmen Sie eben auch so vorlieb. Herr Kapellmeister, bitte!“

Steinitzer schließt diese Rede mit der Bemerkung ab: „Wäre diese Rede tatsächlich gehalten worden, so hätte sie kaum noch etwas verderben können.“

Mit 13 Aufführungen war „Parsifal“ das im Jahre 1914 am häufigsten gespielte Bühnenwerk von Richard Wagner in Leipzig.

Mehr zum Thema steht im Kapitel „Die Leipziger Erstaufführung des ‚Parsifalʻ 1914“ meines Buches „Wagners Werk und Wirkung im Deutschen Kaiserreich“, erschienen 2020 im Sax-Verlag als Band 8 in der Reihe „Leipziger Beiträge zur Wagner-Forschung“ des Richard-Wagner-Verbandes Leipzig.

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