Zur Pressekonferenz am Freitagmorgen ließ sich der große Meister entschuldigen. Da saß er noch im Flieger. Umso voller war es am Freitagabend, 18 Uhr, zur Ausstellungseröffnung im Museum der bildenden Künste. Denn eines stimmt in Sachen Kunst nun einmal auch: Wenn der Künstler streitbar ist und auch manchmal umstritten, dann lockt es das Publikum. Man will ja sehen, worüber andere Leute diskutieren.

Und bei Kiefer sieht man es. Manchmal kann man es auch begehen. Denn an klassische Formate hält sich der 1945 in Donaueschingen geborene Friedenspreisträger nicht. Bücher werden bei ihm manchmal so groß, dass auch die Transportfirmen nur noch abwinken können. Deswegen sieht man in Leipzig nicht alles. Auch wenn selbst das, was man sieht, beeindruckende Ausmaße hat, so wie die drei riesigen Holzschnitt-Bücher, die seit 2014 im Bildermuseum besucht werden konnten. Der Besucher durfte sich wie Gulliver im Land der Riesen freuen und die gewaltigen Seiten umblättern, um einen gigantischen Holzschnitt nach dem anderen zu besichtigen.

Eins dieser Riesenbücher steht noch im großen Ausstellungsfoyer, wo man ab heute die Ausstellung „Die Welt – ein Buch“ besichtigen kann. Und es ist – wie zu erwarten – keine hübsche feine Buchausstellung, sondern eine Weltschau. Denn Kiefer hat das Buch als Baumaterial für sich entdeckt. Nicht bloß in der Größe sprengt er die klassischen Formate. Er kehrt auch nicht nur in die Vor-Gutenberg-Zeit zurück, wie Dr. Aeneas Bastian meint, der als Gast die Kiefer-Ausstellung kuratiert hat. In eine Zeit, als Bücher noch von Hand geschrieben wurden, reich verziert, haltbar auf Pergament und oft in mächtiger Dimension.

Große Vitrinen für riesige Bücher: Kiefer-Ausstellung "Die Welt - ein Buch". Foto: Ralf Julke
Große Vitrinen für riesige Bücher: Kiefer-Ausstellung “Die Welt – ein Buch”. Foto: Ralf Julke

Es ist mehr, was Kiefer da anstellt mit dem Material, ein regelrechtes Wüten im Material, ein Ausbrechen aus allen braven Konditionen: Er malt nicht nur (auch solche Bücher gibt es von ihm – Ölbilder, Kreidebilder, Aquarelle). Man merkt, dass den Mann irgendwann und schon sehr früh die schiere Lust gepackt hat, das Medium Buch mit künstlerischen Mitteln voll auszureizen und auch über die bekannten Künstlerbücher noch hinauszugehen. Von den Titeln, die er seinen Buchwerken gibt, darf man sich anregen und frappieren lassen. Um deftige Titel ist ihm nicht schade. Denn er versucht, was eigentlich unsere Vorvorfahren mal versucht haben müssen: Sich die Welt in ihrer ganzen Fülle mit Kunst anzueignen. Sie nahmen dazu Höhlenwände und malten mit Kohle, Lehm und Blut. Auf dieser Ebene ist Kiefer natürlich mit Beuys verwandt – und später ganz gewiss mal ein Schrecken für Restauratoren.

Denn er belässt es nicht bei Kunstmitteln, die sich einfach so wieder ausbessern lassen. Er verarbeitet Blei, Kohle und Blumen, Sand, Asche und alte Fotografien.

Mancher versucht die Wurzeln für diesen Umgang mit dem Elementaren und Erdigen in seiner Kindheit zu suchen. Immerhin ist er Kriegskind, 1945 geboren. Aber er wurde auch in ein doppeltes Land hineingeboren. Donaueschingen war französische Besatzungszone. Seine frühen Tagebücher führte er in französischer Sprache. Und wie kein anderer Künstler ist er in beiden Ländern zu Hause. Mittlerweile mehr in Frankreich, wohin er 1993 seinen Wohnsitz verlegte.

Deswegen gab es die erste große Ausstellung mit seinen Büchern auch in Paris. Das war im Herbst 2015, im Oktober. Die Besucher mussten stundenlang Schlange stehen, denn nach den jüngsten Attentaten waren die Sicherheitsvorkehrungen drastisch verstärkt worden. „So haben auch nicht alle, die die Ausstellung sehen wollten, es geschafft, reinzukommen“, sagt Hans-Werner Schmidt, Direktor des Museums der bildenden Künste. Und er lässt den Wunsch mit anklingen, nun würden auch viele Kunstliebhaber, die Kiefer in Paris verpasst haben, nach Leipzig kommen, „in unser schönes, offenes Museum und die weltoffene Buchstadt Leipzig.“

Anselm Kiefer: Aperiatur terra (2006). Foto: Anselm Kiefer
Anselm Kiefer: Aperiatur terra (2006). Foto: Anselm Kiefer

Er selbst hat seit 2008 daran gearbeitet, Anselm Kiefer nach Leipzig zu holen, seit der großen Lovis-Corinth-Austellung. Und Corinth gehört zu den Künstlern, zu denen Kiefer etwas zu sagen hat. Immer wieder hat Schmidt den Künstler angesprochen. Und am Ende hat wohl – so vermutet Bastian – auch der Ruf der Buchmesse-Stadt Leipzig den Ausschlag gegeben, dass Anselm Kiefer zustimmte. Immerhin findet die Ausstellung auch parallel zur Buchmesse statt, quasi als Einladung an alle Büchermacher, die sehen wollen, wie weit man es mit dem Medium Buch treiben kann, wenn man es ernst meint, wenn man der tiefen Überzeugung ist, dass brav gesetzte Texte und sauber eingepasste Bilder allein nicht ausreichen, dass Bücher mehr sein können. Regelrechte Ringkämpfe mit der Materie, den Elementen (Hans-Werner Schmidt will alle vier gefunden haben) und den ur-menschlichen Themen.

Womit er zwangsläufig zu den Mythen kommt. Mythen sind das von uns Verdrängte, Verleugnete. Nachdem die Nationalsozialisten ein ganzes Reich auf einem Berg missbrauchter Mythen aufgebaut hatten, war die Beschäftigung mit den alten Sagen, Legenden, Religionen lange verpönt. Bis Beuys kam und den ganzen Bombast der Blut-und-Boden-Spinnerei auf ihre materielle Wurzel reduzierte, mit Vergänglichem zu arbeiten begann und mit dem unausgeglichenen Widerspruch zwischen unserem chaotischen natürlichen Erbe und der Welt-Losigkeit unserer technischen Umgebung.

Das findet man auch bei Kiefer, der vor diesen großen Ur-Themen keine Angst hatte, wohl wissend, dass er damit auch das Untergründige unseres Lebens immer wieder neu inszenierte: nicht nur die Vergänglichkeit und Gefährdung, sondern auch das Nach-Wirken des Gewesenen. Da tauchen Fotos auf, früh schon, auch in den Tagebüchern, in denen sich sein zunehmend heftigerer Umgang mit dem Buch ankündigte. Erinnerungsbilder, verblasst, angebrannt, vom Sand überweht. Bilder aus privaten Archiven, aber auch die Ikonen der Zeit und der Diktaturen. Denn Zeit ist ja immer das, was die Wahnsinnigsten unter den Imperatoren erobern wollen: am besten gleich die Ewigkeit. Entsprechend monströs sind die Bilder. Und sie wirken nach, wenn Worte und Themen wieder auftauchen. Volk zum Beispiel, ein Archaikum, mit Mythen und Assoziationen überfrachtet, genauso wie die anderen bombastischen Titel-Bilder, die Kiefer aufgreift – von der Donauquelle bis zum Rhein.

Wohl kaum ein Volk hat seine Landschaften so mit Romantik, Sehnsucht und Heiligkeit aufgeladen wie die Deutschen. Nur wird das bei Kiefer nicht idyllisch, sondern vergänglich bis in die verwendeten Materialien hinein. Selbst das alte Preußentum, das so stur besessen war vom großen deutschen Reich, wird verweht in märkischem Sand. Sand findet man auch in „Die Trümmerfrauen“ oder im „Jesaia“-Buch: „Über euren Städten wird Gras wachsen.“ Denn wer sich mit den großen Mythologien beschäftigt, der stößt auch auf die abgeschabten Überreste vergangener Reiche: vom Winde verweht. Oder einfach von Dummheit aufgefressen.

Anselm Kiefer: Sappho (2008). Foto: Ralf Julke
Anselm Kiefer: Sappho (2008). Foto: Ralf Julke

Was so schwer wirkt in den extra-großen Vitrinen, steckt voller Anspielungen, satirischen Anmerkungen, boshaften kleinen Hinweisen. Und selbst wenn die fertigen Werke dann wuchtig wirken (und mit Schellack, Aluminium, Lehm oder Kohle kann man sehr wuchtig arbeiten), sieht man trotzdem die kleinen Zitate, die nicht wieder auf andere Künstler verweisen (die gibt es auch), sondern auf den Stoff, den Kiefer scheinbar völlig überflüssig gemacht hat mit seinen Buch-Montagen: die geschriebene Literatur.

Denn natürlich sind „Nibelungenlied“, „Gilgamesch“ und „Bibel“ präsent. Was auch sonst? Es ist das Ur-Material dieser großen Erzählungen, das Kiefer nutzt: Erde, Asche, Feuer, Sand. Und es sind die Ikonen der Schein-Heiligen, die als Foto wieder auftauchen, von Staub und Sand überweht: Kiefer als Hitler-Imitator oder eine riesige, fast unkenntlich gewordene Mao-Statue. Es ist ja nicht so, dass Mythen einfach aufhören zu wirken, wenn ihre Sänger sich die Kugel gegeben haben. Neue treten an ihre Stelle. Oder alte tauchen in verwandeltem Kostüm wieder auf. Denn es gibt sie, diese Menschen, man muss sich ja nur umschauen in Sachsen, die nichts glauben außer Mythos und Lüge. Und die auch nicht aufwachen wollen.

Und die auch nicht – wie Anselm Kiefer – versuchen, sich auch nur vorzustellen, wie es sich anfühlt mitten in der Tragödie, in kaputter Uniform, in Trümmern, in Dreck, Verzweiflung und Armut. Wenn diese Menschen überhaupt mal in Ausstellungen gehen, dann wohl nicht in solche. Und sie lesen auch nicht, nicht die Gedichte Ingeborg Bachmanns, die Kiefer genauso zitiert, wie er sich in seiner Beschäftigung mit Mythologien auf Bloch bezieht, auf Celan, Heidegger, Bibel und Kabbala, auf die alten Griechen und die modernen Franzosen, die alten Chinesen und auf Velimir Chlebnikow, mit dem er sich trifft in der Frage: Was ist eigentlich das Maß für Welt?

Das Ergebnis sind 22 Vitrinen, die man sich in aller Ruhe beschauen kann und in denen die kleinen, großen und riesigen Bücher liegen, in denen Kiefer seine Vorstellungen von dem, was ein Buch sein kann, über all die Jahrzehnte aufgearbeitet hat. Nebenan steht sein riesiges Holzschnitt-Buch „Der Rhein“ und mittendrin seine Skulptur „Sappho“, eine kopflose Frau, deren Kopf durch einen Stapel riesiger Bücher ersetzt ist. Arme „Sappho“. Das hat sie eigentlich nicht verdient, denn sie hat ja nur Lieder und Gedichte geschrieben.

Vormerken kann man sich den 23. März. Dann gibt es um 18 Uhr ein Ausstellungsgespräch mit Prof. Ulrich Johannes Schneider von der Uni-Bibliothek und Museumsdirektor Hans-Werner Schmidt.

Anselm Kiefer „Die Welt – ein Buch”, Ausstellung im Museum der bildenden Künste vom 27. Februar bis zum 16. Mai 2016

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