Die Leipziger Baumwollspinnerei ist schon längst kein Pflaster nur für die heimische Künstlerszene. Auch international agierende Galerien haben die alte Baumwollspinnerei als spannendes Fleckchen für ihre Ausstellungen entdeckt. Zum Herbstrundgang im September öffnete die Leipziger Dependance der Galerie Art Mûr aus Kanada dort ihre Räume. Am Samstag, 15. Oktober, zeigt sie gleich ihre zweite hiesige Ausstellung. Verstörend, wie sich das gehört.

Die Galerie, seit 1996 in Montréal (Québec) beheimatet, vertritt unter anderem die nordamerikanische Kunstszene in Leipzig und möchte mit einem Fokus auf skulpturale Arbeiten auf dem Spinnerei-Gelände Akzente setzen. Bis zum 12. November werden die raffinierten Textilarbeiten der Kanadischen Künstlerin Jannick Deslauriers gezeigt.

Textilarbeiten?

Tatsächlich.

Aber was sie in Textil zeigen wird, erinnert fatal an die sperrigen Gegenstände einer Welt, in der alles in Bewegung ist, Transportströme fließen, riesige Container fortwährend unterwegs sind, manchmal auch vom Schiff fallen und in demoliertem Zustand an Küsten angespült werden.

Aber nicht nur Waren sind so unterwegs von den Billigproduktions-Orten in Fernost zu den konsumberauschten Käufern in Europa und Amerika, auch Menschen sind unterwegs, oft auf viel zerbrechlicheren Schiffchen und natürlich – viel weniger gern erwartet von den Zöllnern und Grenzbeamten.

Die Reisen von Waren und Menschen enden oft genug in zerfetzten, zerstörten Resten ihrer Reise.

Ein zerstörtes Haus, Container, Überreste von Skulpturen – Jannick Deslauriers installiert eine irritierende Umgebung im Erdgeschoss der Galerie in der Halle 4b auf dem Spinnerei-Gelände.

„Es sind mehrdeutig konnotierte Objekte, die die Künstlerin zusammenbringt und deutlich als Reflexion der derzeitigen politischen Lage zu lesen sind“, betont die Galerie in ihrer Einladung zu dieser ganz und gar nicht flauschigen Ausstellung. „Im Kontext des Ausstellungstitels Migration verstärkt sich die Wirkung von trostloser Leere und Fragilität eines zerstörten, siebengeschossigen Hauses, das an so manches Abrisshaus erinnert. Oder jene der fast makaber erscheinenden Frachtcontainer. Eigentlich Basis einer globalisierten Wirtschaft, evozieren sie nun Bilder von Flucht vor Krieg und Leid, von Risiko und Wegen ins Unbekannte. Bewegliche Frachtmodule, die zum temporären Zuhause Geflüchteter werden.“

Sarah Alberti über die Künstlerin: „Die Arbeit von Jannick Deslauriers – sie ist eine Ode an die Fragilität als Alltagsphänomen unseres Lebens. In Zeiten allumgebender Krisen sind wir und unsere Wahrnehmung ständig bedroht. Jannick Deslauriers verleiht dieser Fragilität ephemere Körperlichkeit.“

Die in Joliette (Québec) geborene Künstlerin arbeitet heute in Montreal. Eigentlich dominieren florale Arbeiten in ihrem Werk. Aber dass man mit textilen Stoffen sogar ganze Stadtlandschaften gestalten kann, zeigte sie schon 2006 mit ihren „Phantomen von Montreal“. Die Gebäude, die sie so in Räume zaubert, gewinnen eine märchenhafte Lebendigkeit, die sie in Beton und Stein nie haben.

Und dasselbe hat die Künstlerin nun mit den Strandgütern einer Welt getan, die zunehmend in Bewegung gerät, in der Untergänge und Strandungen immer häufiger die Nachrichten bestimmen und in der die Relikte einer fortwährenden Verschickung von Menschen und Waren an Küsten landen oder mitten in so einer Ausstellung. Zerbrechlich wirken sie, fast lebendig, als könnten sie vor jeder Berührung zurückschrecken. Und damit spiegeln sie auch die Sicht der Betrachter auf die riesigen Ströme der Dinge, die Faszination und das Berührtsein. Denn wo alles sich immer mächtiger bewegt und verändert, da werden irgendwann auch Menschen nicht nur zu Frachtgütern, sondern zu Gestrandeten, zerbrechen Leben und Träume.

Europa ist mit dem Phänomen gar nicht so allein.

Die Ausstellung „Jannick Deslauriers: Migration“ ist übrigens bis zum 12. November in der Galerie Art Mûr in der Spinnerei zu sehen.

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