Nicht nur das 21. Jahrhundert ist eine Zeit, in der Träume vom Paradies scheitern, weil sie gegen die Raffgier der Zeitgenossen verstoßen. Denn Utopien haben zumeist den Kern, dass sie der Gier und der Rücksichtslosigkeit keinen Platz einräumen. Da wird der Träumer schnell zum Staatsfeind Nr. 1. So geschehen einst einem Sachsen, den nun eine künstlerische Auseinandersetzung würdigt: Christian Gottlieb Priber.

Die HALLE 14, das Zentrum für zeitgenössische Kunst in der Spinnerei, eröffnet am Donnerstag, 23. Februar, die Gruppenausstellung „Die verschollene Utopie. Christian Gottlieb Pribers Paradies auf der Spur“. In Filmen, Installationen und Liedern befragen Künstler die Ideen und das Schicksal des heute nahezu vergessenen Frühaufklärers und Sozialutopisten Christian Gottlieb Priber (1697-1746?), der vor fast 300 Jahren mit dem Ziel, eine glückliche Gemeinschaft zu gründen, von Deutschland aus in die nordamerikanische Wildnis aufbrach.

Christian Gottlieb Priber wurde 1697 in Zittau geboren. In Leipzig studierte er ab 1718 Philosophie und Rechtswissenschaften. Nachdem er begonnen hatte, sich in Zittau eine bürgerliche Existenz als Rechtsanwalt und Familienvater aufzubauen, verschwand er plötzlich über Nacht. Sein abenteuerlicher Weg führte ihn über London in die englische Kolonie South Carolina in Nordamerika. Von Charleston zog er nach Great Tellico, wo er fortan als Stammesangehöriger bei den Cherokee lebte. Als wichtiger Berater wurde er zum „Beloved Man of the Cherokee Nation“ und arbeitete seine Pläne für die utopische Republik „Königreich Paradies“ aus. Damit weckte er den Argwohn der Kolonialherren, die ihn nach mehreren Versuchen 1743 verhafteten. Bis zu seinem Tod – nach aktuellen Forschungen vermutlich 1746 – war Priber in Fort Frederica auf der St.-Simons-Insel im heutigen US-Bundesstaat Georgia inhaftiert. Wie sein seitdem verschollenes Manuskript, das die ersehnte Republik beschreibt, verliert sich auch Pribers Spur bis heute.

Wie viele Utopisten seiner Zeit träumte Priber von einer Gesellschaft ohne Eigentum. Sein Begriff der Gleichheit überschritt aber nicht nur Klassen, sondern auch Glaube, Geschlecht und Herkunft. Das ist – wie seine rein weltliche, nicht religiöse Motivation – einzigartig in seiner Zeit und macht ihn zu einem Vorläufer von Jean-Jacques Rousseau und Karl Marx. Irgendwie auch von Karl May.

Heute erscheint das „Himmelreich auf Erden“ (Heinrich Heine) ferner denn je, stellen die Ausstellungsmacher fest.

Schon mehrfach hatte die Halle 14 mit ihren Ausstellungen Utopien in den Mittelpunkt gestellt und Künstler dazu eingeladen, sich mit diesen Visionen für eine andere Gesellschaft zu beschäftigen.

Den Rahmen umreißen die Ausstellungsmacher so: „Trotz unzähliger literarischer und praktizierter Utopieprojekte bleibt unsere Gegenwart von Ungerechtigkeit, Ausbeutung und menschen-gemachten Katastrophen geprägt. Das Scheitern des kommunistischen Revolutionsprojektes und linksliberaler Bewegungen haben die Idee der Utopie selbst beschädigt. Das vergessene Schicksal eines der radikalsten deutschen Aufklärer ins kollektive Gedächtnis rückend, untersuchen die Künstler der Ausstellung die Spuren utopischen Denkens in der Gegenwart, ermutigen zum Umdenken und suchen einen Ausweg aus dem Dilemma einer unkritischen Gegenwartskultur.“

Vier Künstler zeigen nun in ihren Arbeiten, wie fruchtbar die Beschäftigung mit Priber sein kann, auch wenn seine Schriften verschollen sind.

Die New Yorker Musikerin und Performancekünstlerin Caitlin Baucom (*1984, Gloucester, USA) komponierte einen Liederzyklus aus kurzen, sphärisch anmutenden Stücken, die in ihren Klangfarben inspiriert sind von den Lebensabschnitten Pribers. Der Soundtrack zu Pribers Lebensstationen wird über Kopfhörer wiedergegeben, die an geflochtenen Zöpfen hängen, welche gleichzeitig den Bewegungsradius der Besucher definieren. Beide Parameter – sphärische Musik und räumliche Barriere – befragten die Grenzen träumerischen Wandelns. Inwieweit ist Freiheit eine Illusion im Wunschdenken einer Utopie? Wie schmal ist der Grat zwischen utopischen und faschistischen Idealen? Nicht zuletzt darf der geflochtene Zopf, den Baucom als Assoziationskanal zwischen ihrer Musik und den Gedanken ihrer Zuhörer erwählte, auch als Symbol für Goethes Figur des Gretchens verstanden werden: ein ähnlich weitsichtiger, hinterfragender, mehr oder minder naiver Charakter der Weltgeschichte, gefangen in einem kleinbürgerlichen, beschränkten Kosmos – wie einst Priber, der den engen Mauern Zittaus in die Unsicherheit der Welt entfloh.

Robert Beskes (*1973, Weimar) dokumentarisch-erzählerische Filmarbeiten führen an den Beginn und das Ende des Lebens und Schaffens von Christian Gottlieb Priber: Zittau in Sachsen und das heutige Tellico Plains in Tennessee. Knapp 300 Jahre später wächst in Tellico Plains auf den seit zehntausenden Jahren von Menschen besiedelten Feldern Mais und Soja. Der Parkplatz vor dem Supermarkt ist das Zentrum der Stadt. Für manche Bewohner ist es das Paradies auf Erden. Andere gäben alles darum, von hier zu verschwinden. In Zittau derweil kehrten in den vergangenen 20 Jahren ein Drittel der Bewohner der Stadt den Rücken. Neben der eingetretenen Leere porträtierte Beske auch junge Menschen, die sich hier verwirklichen, die es nicht in die Fremde zieht. Er trifft auf Dorfkommunen und Waffennarren, Friseurinnen und Träumer. Auf Pribers Spuren besuchte Beske zudem den US-amerikanischen Essayisten John Jeremiah Sullivan in seiner Heimatstadt Wilmington (North Carolina). Sullivan forscht seit Jahrzehnten zu Priber und schreibt an einem neuen Buch über ihn. Die Gespräche hielt er für „Kingdom Paradise“ fest – über die Denkbarkeit von Utopien, die Tragödie der Geschichtsschreibung – und über die Suche nach einem Phantom.

Francis Hunger aus Dessau setzt sich in seinen Arbeiten mit den Momenten des Scheiterns utopischer Ideen auseinander. Die Installation „Utopia Generator“ besteht aus einem diamantenförmigen Spiegelobjekt, das sich, in der Raummitte von der Decke hängend, langsam dreht. Darauf werden die Namen utopischer Gemeinschaften projiziert, welche in Nordamerika zwischen den 1860er und 1920er Jahren entstanden. Christen, Frühsozialisten, Fourieristen, Hutterer, Utopisten und Pragmatiker nutzten die Landnahme in Folge der Vertreibung und Ermordung amerikanischer Ureinwohner, um ihre Utopien in die Tat umzusetzen. Aus dieser Zeit sind eine große Anzahl größtenteils kurzlebiger Kommunen nachgewiesen, deren Namen in den „Utopia Generator“ eingespeist wurden. Hungers künstlerisch-historische Recherche ermöglicht es, noch einmal gesamtheitlich über Potentiale, Ideale und produktive Schlussfolgerungen gescheiteter Ideen im Vergleich zu aktuellen, gesellschaftspolitischen Verhältnissen nachzudenken. Nach Hunger gilt es, nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ein neues Begehren zu formulieren und das Ende der Utopien zu beenden.

Fabian Reimanns (*1975, Bremerhafen) Installation „Another Earth Map“ besteht aus verschieden gestalteten Obelisken und gerahmten Landkarten. Während der Regierungszeit von August des Starken, die kurz vor Pribers Geburt im Jahr 1694 begann, wurden an allen wichtigen Post- und Handelsstraßen zur Angabe amtlicher Entfernungen und einheitlichen Berechnung der Postgebühren die kursächsischen Postmeilensäulen aufgestellt. Reimanns Obelisken verweisen jedoch nicht auf reale Knotenpunkte, sondern auf utopische Orte, deren Erreichbarkeit nicht messbar ist, wie beispielsweise das Inselreich Atlantis oder die untergegangene doch als Sehnsuchtsort erhalten gebliebene Stadt Lost City of Z. Mit der Suche nach Amerika, dem Land der Verheißung und Genese der „unbegrenzten Möglichkeiten“, wurde der Kolonialismus maßlos vorangetrieben. Die Kartografierung Amerikas war wiederum Voraussetzung und Resultat der Landnahme. In Anlehnung an das Brettspiel „Railway Rivals“, einer Art Monopoly für den Eisenbahnbau, entwirft Reimann eine Weltkarte, auf der ein globales Netzwerk abgebildet ist, das spekulative und paradiesische Weltenpläne zusammenbringt.

Eröffnet wird die Ausstellung „Die verschollene Utopie“ am 23. Februar um 19 Uhr in der HALLE 14.

Ausstellungsdauer: 24. Februar bis 8. April 2017. Öffnungszeiten: Dienstag bis Samstag, 11 bis 18 Uhr. Eintritt: 4 Euro / ermäßigt 2 Euro (mittwochs freier Eintritt).

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