Am heutigen Dienstag, 4. Juni, um 18 Uhr wird im Stadtgeschichtlichen Museum im Böttchergässchen eine besondere Ausstellung eröffnet. Das Museum zeigt Arbeiten des bekannten Leipziger Malers Sighard Gille, dessen Bilder für gewöhnlich eher großformatig im Nachbarmuseum der bildenden Künste zu sehen sind. Doch seit Jahren beschäftigt sich Gille auch mit Fotografie – und zwar mit einer ganz besonderen Art der Fotografie. Einer, die seinem Maler-Blick auf die Welt sehr entgegenkommt.

Nur kann man für diese Art der Fotografie nicht einfach in den nächsten Laden gehen und eine Kamera dafür kaufen. Im Gegenteil. Denn für den Maler war das Arbeiten mit einer Lochkamera anfangs auch „ein Protest gegen den Hightech-Wahn“, wie es Museumsdirektor Anselm Hartinger beschreibt, der jetzt froh ist, mit Gilles Foto-Aufnahmen eine Ausstellung eröffnen zu können, die zum Stadtmuseum passt.

Denn in den vergangenen zwei Jahrzehnten widmete sich das Stadtgeschichtliche Museum kontinuierlich der Fotografie. In der Ausstellung präsentiert nun der bekannte Leipziger Maler Sighard Gille eine umfassende Schau seines fotografischen Werks mit der Lochkamera. Nicht das Dokumentarische steht hier im Zentrum, sondern das Künstlerische und in diesem Sinne etwas Ungewohntes, ja Befremdliches.

Und so natürlich der ganz besondere Blick des Malers auf die Stadt. Gille hat sich ja ganz bewusst gegen die immer mehr aufgerüsteten Hochleistungskameras entschieden, die es seit 1990 zu kaufen gab und die vielen Amateuren das trügerische Gefühl vermitteln, sie würden jetzt ganz automatisch künstlerisch wertvolle Fotos anfertigen. Wobei dem heute 78-Jährigen zugute kommt: Er hat auch das Fotografieren ab 1960 von der Pike auf gelernt und war als Fotograf und Fotolaborant tätig, bevor er 1965 sein Studium an der HGB aufnahm.

Aber Gille zeigt eben mit seinen Lochkamera-Bildern auch, dass man den Blick des Künstlers braucht, der im Vorgefundenen den packenden bildlichen Moment erkennt, seine Kamera aufstellt, richtig ausrichtet, auf den Auslöser drückt und dann minutenlang wartet, bis er dieses Bild auf dem Film hat.

Völkerschlachtdenkmal mit Gloriole. Foto: Sighard Gille
Völkerschlachtdenkmal mit Gloriole. Foto: Sighard Gille

Die Technik dahinter bezeichnet Hartinger schon als regelrecht archaisch. Und tatsächlich geht Sighard Gille damit zurück nicht nur in der Geschichte der Fotografie. Auch große Maler der Renaissance benutzten schon eine Camera obscura, auch wenn sie die entstehenden Bilder noch nicht auf Film festhalten konnten.

Die Camera obscura (lat. camera „Gewölbe“; obscura „dunkel“) gilt als einer der ersten Apparate zum Projizieren von Bildern. In einen dunklen Raum fällt durch ein kleines Loch etwas Licht. Das außen platzierte Objekt wird mittels der von ihm reflektierten Lichtstrahlen durch das Loch auf die gegenüberliegende Innenseite des Raumes projiziert. Dort wird es kopfüber und spiegelverkehrt sichtbar.

Sighard Gille beschäftigt sich seit 1989 intensiv mit der Frühform der Camera obscura als fotografischer Apparat: der Lochkamera.

Statt eines Objektivs besitzt diese nur eine winzige Öffnung als Lochblende. Durch diese wird ein Rollfilm dahinter belichtet. Lochdurchmesser, Intensität des Lichtes und Belichtungsdauer beeinflussen diesen Prozess maßgeblich. In der Ausstellung ist Gilles kleine Camera-obscura-Ausstattung zu besichtigen.

Der KĂĽnstler baut seine Lochkameras aus älteren Kameramodellen selbst. Nicht aus ganz alten, sondern aus jenen einfachen Modellen, die es vor 1989 fĂĽr wenig Geld zu kaufen gab. Er benutzt verschiedene Modelle, die mit einem Rollfilm im 6×6 Mittelformat mit 12 Aufnahmen ausgestattet sind. Dadurch sind die Negative handlicher und angenehmer zu verarbeiten und zu vergrößern. Die Lochkamerafotografien, die Gille von seiner Heimatstadt Leipzig aufgenommen hat, wurden alle mit der umgearbeiteten „Pouva Start“ aufgenommen. Das war die echte Amateurkamera: leicht zu bedienen, Plastikgehäuse, preiswert.

Riquethaus. Foto: Sighard Gille
Riquethaus. Foto: Sighard Gille

Der Künstler entfernte bei der Rollfilmkamera aus Bakelit das einfache, drehbare Objektiv und piekste ein kleines Loch in die Kamera. Der Rollfilm dahinter tut das Übrige. Mit seiner „Pouva Start“ war Gille auch in New York, Hamburg, Jerusalem und Rom fotografisch unterwegs.

Und den Weg beschritt er, weil die Ergebnisse sich grĂĽndlich von dem unterscheiden, was man sonst mit automatisierten Kameras so zustande bringt. Nur Geduld braucht man. Denn man braucht schon mehrere Minuten zum Belichten.

Vor allem die Verfremdung bekannter Objekte, welche durch die signifikante Weichzeichnung der Lochkamera entsteht, fasziniert Gille. Typisch ist auch, dass Bewegungen nicht dargestellt werden. Sie verwischen oder verschwinden auf der entwickelten Aufnahme fast vollständig, denn bei Belichtungszeiten bis zu 45 Minuten tauchen die durchs Bild eilenden Menschen nicht mal mehr als Schemen auf. Wie eingefroren und scheinbar menschenleer erscheinen so Metropolen wie New York, Rom oder London.

Die Unschärfe ist charakteristisch für diese Technik. Gille gelang es, die Lochkamera-Technik zu einer eigenen Kunstform zu entwickeln und neue Bildkompositionen zu schaffen. Auch neue Sichtweisen auf längst bekannte Motive, was Leipziger in der Ausstellung anhand der eigenen Stadt ja direkt vergleichen können. Bekannte Ecken werden robuster, fast pastos wie auf Gilles Gemälden. Die Details verschwinden, dafür sorgt das Licht dafür, dass die Szenerie plastischer wirkt, wie belebt, als würden die markanten Gebäude in ihrer Wucht gerade aus dem Hintergrund treten.

Beginnend mit den Fotografien, die während seiner ersten New York-Reise 1996 entstanden, zeigt die Ausstellung rund 60 Werke aus den Städten Rom, Jerusalem, London und Hamburg, wo Sighard Gille die Konstruktion der Kamera immer wieder modifizierte. Die rund 60 Lochkamerafotos mit Leipziger Motiven werden erstmals präsentiert.

Einige Fotografien in der Ausstellung wurden zudem von Gille übermalt. Zwischen Malerei und der Arbeit mit der Lochkamera sieht der Künstler starke Parallelen und Wechselwirkungen. Die Lochkamera reduziert, nimmt weg, vereinfacht. Die Unschärfe dominiert und die Reduktion auf Hell-Dunkel, auf das Wesentliche, ist ausschlaggebend. Mit rund 120 Fotografien setzt Gille die Wirkungsweise der Lochkamera kreativ um, überrascht durch die Verfremdung von bekannten Motiven und eröffnet dadurch dem Betrachter neue Ausdrucksformen und Blickwinkel für eine intensivere Auseinandersetzung mit der Stadt.

Ausstellungseröffnung: Dienstag, 4. Juni, 18 Uhr im Stadtgeschichtlichen Museum (Böttchergässchen). Es sprechen: Dr. Anselm Hartinger, Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig, der Dichter Peter Gosse und die Kunsthistorikerin Nadja Staab, die die Ausstellung kuratiert hat.

Musikalische Begleitung: Simon Bodensiek Saxophon, Mayjia Gille, Gesang und Arto Mäkelä, Gitarre.

Ausstellungsdauer: 5. Juni-18. August 2019, Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, Feiertage 10 – 18 Uhr. Eintritt: 5 Euro, ermäßigt: 3,50 Euro, Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre frei.

Zur Ausstellung erscheint ein Begleitbuch: Sighard Gille: Camera Obscura. Leipzig, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Hrsg: Anselm Hartinger. Leipzig 2019, ISBN 78-9100034-82-2, 12,50 Euro.

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