Jedes offene Gespräch, basierend auf einer offenen Rede, einer Wahr-Rede, kann exemplarisch von einem „Parrhesiasten“ (Vgl.: LZ 104 vom 29.07.2022, S. 19) als „Postulat an den modernen Menschen“ verstanden werden.

POSTULAT AN DEN MODERNEN MENSCHEN

Wildgrün schattiert
Ließ der knorrige Ast
Trotz seiner Bitternis Farben erblühn
Stil zu bewahren, trotz jeder Last
Lässt die Dürrsten der Zweige ergrün‘.

Betrug ist nicht Betrug. Genug ist nie genug. Recht ist nicht gerecht. Ordnungen sind Auswüchse des Chaos. Mensch-sein bedeutet nicht unbedingt menschlich sein, Herrschaft heißt so oft Ergebenheit.

Definiere deine Begriffe selbst, setze eigene Werte, lass die Massen ihrem eigenen Wahn erliegen. Der Geist kann bei richtiger Behandlung dein willigster Gefährte sein. Schrei deine Lust, deinen Schmerz, deine Freude, deinen Zorn frei heraus – ein Problem damit können höchstens die anderen haben! Erbärmliche Dummköpfe, die dem „Trend“ ihrer Zeit erliegen.

Höre bei all deinen Entscheidungen auf dein Herz, es ist dein alleiniger Richter. Gib dich deinen Räuschen hin, nutze deine Vernunft, um die Balance auf dem Drahtseil halten zu können, sei damit deines Herzens und deines Lebens Künstler. Hör auf deine Lebensmelodie und entwickle die Sensibilität für jede einzelne Nuance, jede Harmonie und Dissonanz. Transzendiere deine selbstgesetzten Grenzen von Moment zu Moment – Folge deiner Sehnsucht!

Angst ist Schmerz
Der nur belebt
Wenn er sehnsüchtig getrieben
Von dem Innersten der Welt
Von der Einigkeit der Liebe.

Sicherlich leb ich in Sicherheit, aber in der meiner eigenen Kräfte, die nicht erkauft ist und sich nicht heuchlerisch verratend verschwendet, sondern erblüht ist im kritisch erwählten Prozess von Vertraulichkeiten.
Vertrauen heißt nicht Naivität, Hoffnung bedeutet nicht, keine Enttäuschung zu ertragen, Lieben heißt nicht selbstlos werden, endloses Kämpfen nicht Verbitterung.

Lass nicht zu, dass der Schlachthof der Welt
Dich als Schwein noch weiterhin träume
Sei kein Vieh, das frisst, was gestellt
Es tagtäglich bekommt
Und noch quiekset vor Freude.

Im Folgenden lesen Sie ein Gespräch, das ich mit Dr. Annett Z. geführt habe, die in ihren Antworten auf meine Fragen zunächst recht ambivalent auftritt. Meines Erachtens spiegelt diese 30-jährige junge Frau aber damit eine innere Unsicherheit wider, die mir in den letzten Monaten, ja Jahren, immer wieder begegnete. Zwischen dem Hang zum „Einfach“-Weitermachen in den üblichen Strukturen, wie bisher und der Sehnsucht nach existenzieller Kritik, die sich an alle wendet.

Lesen Sie gern selbst:

Hallo, liebe Annett. Wie geht es Ihnen?

Gut und schlecht. Auf der einen Seite bin ich ein solches Temperament, dass ich keine Depressionen kriege. Da habe ich Glück. Ich nehme aus allem immer das Positive, auch aus Erschreckendem oder unter Druck. Als Selbstständige stehe ich selbstverständlich unter hohem Druck – z. B. mich impfen lassen zu müssen. Das ist so, weil ich sehr viele Aufträge verloren habe, sechs Stück und es besteht ungeimpft für mich die Gefahr kein Geld zu verdienen. Das betrifft verschiedene Branchen, u. a. auch mich.

Ich habe hohe Geldeinbußen, weil ich mich nicht impfen lassen wollte. Das zum einen. Gesundheitlich geht es mir blendend. Das ist meine persönliche Selbsteinschätzung, da ich noch nie krank war und mein Immunsystem blendend ist und ich verschiedene sportliche Aktivitäten regelmäßig betreibe.

Ein weiterer Gedanke zu Ihrer Frage ist folgender: da unter der Vernetzung der Welt und der Globalisierung und der Kapitalisierung und der Liberalisierung der Welt, der wirtschaftlichen Netzwerke erscheint einfach eine Pandemie, die als Katastrophe eingeschätzt worden ist, als Krise.

Und dann mit einem Mittel zu reagieren, das augenscheinlich als einfachstes Mittel dagegen geeignet ist: nämlich eine klassische Impfung. Also, dass man sich eine Gesundheit kaufen kann mittels einer Impfung und dass das das Einfachste ist.

Natürlich würde ich als Bundeskanzlerin von Deutschland auch wissen, dass man in Menge denken muss, besonders wenn Menschen ausfallen.

Haben Sie sich, Ihrer Selbstwahrnehmung folgend, im letzten Jahr verändert?

Ja, ich glaube, ich habe mich im letzten Jahr verändert. Es gibt einen gewissen Zug bei mir, der versucht, mit dem Denken radikal ernst zu machen. Und dadurch bin ich seit etwas mehr als zwei Jahren im Prinzip schon dabei, vieles, was als wissenschaftliche Tugend durch die Welt läuft, mir abzugewöhnen; mir Formen des wesentlicheren Sprechens anzugewöhnen, des einfachereren Denkens anzugewöhnen und ich denke schon, dass ich diesen Prozess auch im letzten Jahr weiter vollzogen habe und ich insofern nicht mehr dieselbe bin, als ich es zu Beginn des Jahres oder auch zu Beginn des Jahres 2020 war.

Woher wissen Sie das?

Die Gründe liegen wahrscheinlich darin, dass der Mensch einfach ein gesellschaftliches Wesen ist und je kleiner die Gesellschaften sind, an die man sich richtet, desto mehr ist man zur Rücksicht aufgefordert – außer es ist die eigene Familie.

Das heißt, die wissenschaftliche Landschaft tendiert ja durch ihre Spezialisierung, die ja praktisch vorhanden ist, dazu, dass man einen Flickenteppich von Kleinkönigtümern an den Lehrstühlen findet, die alle untereinander nicht zur Rechenschaft verpflichtet sind, die sich nur zum Teil überhaupt wahrnehmen – also es gibt selten noch Leute in den Geisteswissenschaften, die noch versuchen, das Fach in der Gänze zu repräsentieren.

Insofern ist es ein ganz natürlicher Mechanismus für Menschen, die sich auf den Weg machen und eine gewisse Richtung einschlagen, dass sie zu Gefolgsleuten werden müssen in diesen kleinteiligen Führungsstrukturen. Das bekommt man ja schon relativ früh im Studium eben auch beigebracht, wie sehr die bloße Beachtung des anderen, nicht die Qualität des anderen, darüber entscheiden soll, wie sehr du wissenschaftlich verfährst.

Das sind letztlich soziologische Kriterien, die ich eigentlich eher aus Gesellschaftsromanen des 19. Jahrhunderts kenne oder aus höfischen Romanen, als dass sie eigentlich der Struktur entsprechen, die man vielleicht erwarten sollte, wenn man die Universität von außen anschaut, insofern man ja eigentlich den Zustand unterstellt, dass sie zunächst einmal um Güte bedacht ist und insofern nach Qualität ihre Leute aussucht.

Das ist nach meiner Wahrnehmung in seltenen Fällen durchaus der Fall. Aber es geht nicht darum, dass ich darüber lamentiere, auch wenn ich das jetzt lange gemacht hab. Die Frage ist einfach, ob das der eigene Anspruch ist und ich hab viel zu lange gezögert und das erklärt vielleicht mehr die Transformation, die ich sozusagen an mir selber begleite.

Dr. Annett. (c) Konstanze Caysa
Dr. Annett. (c) Konstanze Caysa

Ich hab das sehr, sehr lange einfach mitgemacht, mitgespielt, von außen beobachtet und dann im stillen Kämmerlein das Gefühl gehabt, dass das irgendwie nicht genügend ist, was ich da sehe. Und das endet dann damit, dass man in guter, anerkannter Manier seine Sachen dann verfasst, die entsprechenden Ergebnisse dann dafür einfährt, aber man eben immer wieder davor zurückschreckt, veränderte Praxis selber zu probieren.

Und seit ich das versuche, habe ich zum Teil auch gemerkt, wie groß teilweise auch die Defizite sind, weil ich mir da anderes angewöhnt habe. Das war wirklich ein schwieriger Weg, da erstmal durchzukommen und die andere Weise des Denkens sich anzutrainieren, also eine Art zu denken, die selbstkritisch die eigenen Gewohnheiten wieder und wieder prüft, die sich eben auch selbst von Grund auf erneuern können.

Das macht unabhängig von den unnachvollziehbaren Strukturen oder Entscheidungen, die eben gesellschaftlich fremdbestimmt auf einen einwirken.

Wo die Gründe genau liegen, dass diese Strukturen so sind, das kann ein Historiker untersuchen, das kann ein Soziologe untersuchen, das ist nicht so entscheidend. Entscheidend ist nur, dass man das mal erkannt hat, dass es da gewisse Strukturen gibt, dass man sich Strategien entwickelt, wie man mit diesen Strukturen umgeht und man sich selber darum bemüht, (…), dass man nicht in diese Falle gerät, dass einem das Gewissen eigentlich etwas anderes flüstert als das, was man dann auf offizieller Bühne auch von sich geben kann….

Charakterisieren Sie Ihre Zeit! Versuchen Sie das bitte so dicht wie möglich!

(Längeres Schweigen) Ich hatte neulich irgendwie so einen Gedanken … Irgendwie ist mir aufgefallen, dass es vielen Leuten seit Corona schlechter geht. Also auf die eine oder andere Art. Auch wenn sie nicht immer merken, dass das unbedingt was mit Corona zu tun hat. Also ich glaube, das ist vielen auch nicht so bewusst. Andern vielleicht schon.

Aber mir ist aufgefallen, dass einige Leute, die ich kenne, dann entweder Depressionen bekommen haben oder andere psychische Probleme. Oder auch Drogenprobleme … also, ich weiß nicht, ob das jetzt die ganze Gesellschaft betrifft, aber ich glaube es eigentlich schon, ehrlich gesagt. Ich glaube schon, dass die ganze Gesellschaft so ein bisschen wieder in Depressionen verfallen ist und es wieder irgendwie verdrängt, weil das ganze Thema an niemandem vorbeigeht.

Und auch, dass diese ganzen Maßnahmen schon sehr starke Auswirkungen auf die Psyche hatten und haben, auch wenn man das vielleicht nicht gleich merkt. Ich denke schon, dass zum Beispiel diese Maskenpflicht – man sieht ständig im öffentlichen Raum diese Masken und keine Gesichter mehr – schon ganz viel ausmacht. Bin ich mir sicher, auf die eine oder andere Art wirkt sich das aus!

Welche Rolle spielen Sie in der von Ihnen geschilderten Zeit?

(Lacht) Ja, weiß ich nicht, meine eigene halt.

Danke für das offene Gespräch!

„Im Gespräch mit Konstanze (6): Über existenzielles Selbstdenkertum im Ausnahmezustand“ erschien erstmals am 30. September 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 106 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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