Das „Wahrsprechen“ hat notwendig erst einmal eines zur Voraussetzung: das offene kritische Denken sich selbst gegenüber. Zu sagen, was IST, erfordert den Mut ins Offene zu gehen. Das Offene kennt keine allgemeingültigen Grenzziehungen. Der Einzelne beschreitet den Weg, den er geht, wenn er ins Offene, ins Freie geht als erster und experimentiert mitten hinein in eine Ordnung, die er nicht kennt und die ihm als Chaos, als Unordnung, vielleicht gar als großer Wahnsinn gegenübertritt. Forschung bewegt sich immer im Bereich des Unentdeckten, Neuen, das einer Ordnung bedarf, um zumindest teilweise erschlossen werden zu können. Was IST auszudrücken bedeutet eine selbstbestimmte Formierung und Stilisierung mitten in eine fremde, von Grund auf eher missverständnisbasierte soziale Vorgefundenheit von Welt hinein.

Es bedeutet, sich orientieren zu lernen im unaufhörlichen Tun, im Selbermachen, dessen grundlegende Gesetzmäßigkeit lautet: Weiter! Weiter! Weiter! Das selbstbewusste Ausprobieren und Experimentieren verschiedener Ansätze, wie ein Leben bejahenswert gelebt werden könnte und dadurch von Zeit zu Zeit auch tatsächlich gelebt wird.

Offen zu reden bedeutet ideologiefrei zu reden, moralfrei und möglichst fern jeder rein fremdgesetzten Denk- und Verhaltensstruktur. Die offene Rede ist eine freie Rede. Jedes Hemmnis der sich Raum zum Leben schaffenden Freiheit ist von dem Individuum abzuschaffen – zumindest im strukturellen Aufbau des eigenen Lebenskunstwerkes. Künstler ist, wer offen, autonom der Kunst echten Verstehens dient und alles für die existenzielle Freiheit zu wagen bereit ist. Eine entschlossene, eine entscheidungsbereite, selbstkritische und ehrliche Rede: Das ist die offene Rede, das Wahrsprechen. Es gründet sich immer subjektiv. Der Einzelne ist Kern der Formgebung dessen, was er versucht offen auszusprechen oder wahr einen Ausdruck zu verleihen – Stilmittel sind ihm Techniken des Selbst.

Wahrsprechen ist immer körperlicher Ausdruck, Formung des leiblichen Selbst. Selbstexperimente sind Experimente des Leibes. Der Körper ist so der Wahrrede zentrales Medium. Erkenntnis ist zunächst immer leibliche Erkenntnis, die erzeugt werden kann durch den gekonnten und stilvollen Umgang des Einzelnen bei Leibe, an sich selbst. Der Leib ist der Träger des nach Offenbarung strebenden leiblichen Gedankens. Dieser ist Stoff und Inhalt des Wahrsprechens und strebt ins Grenzenlose.

Insbesondere um eben dieses Verhältnis, das der Einzelne sich selbst gegenüber einnimmt und dies zur Grundlage des kritischen Umgangs durch existenzielles Selbstdenkertum – gerade in extremen Zeiten – zu nehmen versteht, thematisiert das folgende Interview-Gespräch.

Ich unterhalte mich mit Sandra X. Sie ist mittleren Alters, freie Pädagogin und tummelt sich allzu gern in sozialen Netzwerken. Sie ist offen anderen Meinungen gegenüber, ebenso sehr wie sie es im Grunde sich selbst gegenüber zu bewerkstelligen versteht. Eine zentrale Aussage von Sandra X. in diesem Interview lautet sinngemäß: Trotz der starken außenweltbedingten Verunsicherungen und Wirrungen innerhalb der Krisenjahre, die wir im Moment erleben, fühlt sie sich, wie sie selbst sagt „stärker denn je“!

Lesen Sie selbst:

Sandra, wie geht es Ihnen?

Ich fühle mich in diesen Zeiten – und es sind im Moment ja so viele parallele Zeiten – etwas verwirrt. Ich empfinde alles im Moment etwas verwirrend und unsicher. Bis vor kurzem hätte ich gesagt, dass es mir gutgeht. Ich hätte Ihnen geantwortet: Mir geht es richtig gut!

Ich würde sagen, dass das schwankt. Es ist leider immer etwas abhängig von den Informationen, die ich kriege, tagtäglich so in Bezug auf Google, in Bezug auf Corona oder Corona eher als Spiegelbild dessen, was ich als grundlegende Veränderung wahrnehme.

Ich fühle mich interessanterweise stärker, als ich mich in meinem Leben je gefühlt habe, weil diese Zeit und diese Unsicherheit, die ich wahrnehme, die Orientierungslosigkeit der Menschen, die die Medien, die Informationen, die durch die Medien kommen, die das, was uns erzählt wird, die die radikalen Positionen, die besetzt werden, mich eher dazu bringen, mich innerlich zu sammeln und mich eindeutiger zu positionieren.

Ich würde sagen, dass ich mich früher, also bevor das alles so losging, vor 2020 vielleicht, ein bisschen unklarer gefühlt habe. Vieles war langweilig und es bestand eine gewisse Überdrüssigkeit. Nicht im privaten Bereich meines Lebens, aber gesellschaftlich gesehen schon sehr.

Sandra X. © Konstanze Caysa

Ich habe das Gefühl, wir sind seit diesem Jahr, in dieser Zeit, in dieser westlichen Welt, dieser Gesellschaft, in der wir leben, in diesem Deutschland, alle so satt gewesen vom Konsumieren und wurden immer unzufriedener. Das Gefühl habe ich schon länger und ich habe mir immer gewünscht, dass was passiert. Es gab ja schon Vorläufer der jetzigen Krisenzeit: die Flüchtlingsbewegung, die anfing, dann die Umwelt Sache, die sehr stark thematisiert wurde, also mehr als thematisiert wurde.

Und ich meine, dass ich jetzt, in dem Moment, wo ich mich innerlich sehr stark fühle und mich vorbereite, aus Angst vor Änderungen, die kommen. Das ist manchmal mit Lust und manchmal mit Angst verbunden, je nachdem. Aber dieses Etwas ist die Angst im Sinne von: bewältigt man das so? Aber ich habe das Gefühl, dass ich da recht klar durchgehe. Ja, was ist der Status? Klar, das ist, was ich fühle. Darauf bin ich jetzt zurückgeworfen. Ich bin auf meine Intuition zurückgeworfen.

Ich muss immer wieder versuchen, Abstand zu nehmen zu allem und mich sammeln und schauen und mich fragen: Wo stehst du? Bist du vielleicht auf dem Holzweg? Ist deine Entscheidung, die du triffst, wirklich echt, ehrlich, motiviert? Oder machst du dir selbst was vor und im Prinzip konfrontiere ich mich ständig mit Gegenmeinungen, um mich quasi wachzuhalten.

Das ist sowieso eine massive Methode von mir. Zum Beispiel, indem ich mir tatsächlich auf irgendwelchen sozialen Kanälen oder eben im Internet regelmäßig die Beiträge durchlese, die ich eigentlich schlecht aushalte. Also die, die sich besonders anbieten, die lese ich mir durch und versuche mich zu disziplinieren: Stopp, das ist eine Position. Und wenn mir die nicht gefällt, ich will die wissen, ich will die verstehen, einfach, um mich offenzuhalten.

Und das ist so das nächste große Ding. Was mich gerade am meisten belastet, also womit es mir am schlechtesten geht, ist, dass der Dialog zwischen den Menschen endet. So nehme ich das wahr. Das ist schon krass. Da ist schon eine Radikalisierung da. Meine Haltung drückt sich in einer Rede unserer ehemaligen Bundeskanzlerin ziemlich gut aus. Sie sagte: immer, immer im Gespräch bleiben! Egal, was ist, immer im Gespräch bleiben!

Haben Sie sich, Ihrer Selbstwahrnehmung folgend, im letzten Jahr verändert?

Auf jeden Fall, weil es sich insgesamt zu stark verändert. Ich habe aber sogar das Gefühl, dass das etwas mit meinem Lebensalter zu tun hat. Ich bin Anfang 40 und das ist ein Alter, in dem irgendwie, also man könnte sagen, die Mitte des Lebens erreicht ist. Es liegt also auch noch mal eine ganz persönliche Veränderung parallel zu dem, was in der Welt, in unserer westlichen Welt alles passiert vor. Diese Veränderungen im Großen und im Speziellen wirken sich auf mein Selbstwertgefühl aus. Ich meine: Es ist wahnsinnig gestiegen und auch mein Selbstbewusstsein und auch mein Bedürfnis, mich auszudrücken, zu positionieren und das auch und klar zu zeigen. Das hat sich tatsächlich verändert.

Woher wissen Sie das?

Woher ich das weiß? Weil ich in der Kommunikation Dinge ausprobiert habe, auch in der Kommunikation mit Menschen. Diese Dinge, die ich ausprobiert habe, hatten plötzlich eine Wirkung … und ich weiß nicht, ob ich diese Dinge ohne den existenziellen Ausnahmezustand ausprobiert hätte, ob ich in ähnlicher Weise die Dinge versucht hätte. Ich denke, ich wäre weniger in die Situation gekommen, in die Versuchung gekommen. Dann hätte ich weniger die Möglichkeit gehabt, mich auszuprobieren, denke ich. Vielleicht wäre es bequemer gewesen. Das ganze Leben wäre viel bequemer gewesen, dadurch aber weniger wertvoll für mich, denn es hätte weniger Möglichkeiten zur Entwicklung gegeben.

Und das ist es auch, das ich vorhin schon meinte: Dieser existenzielle Ausnahmezustand setzt etwas in Gang. Das ist ja eben auch eine Stimmung, die dann alle teilen. Wäre ich mit dem Entwicklungsschub ganz allein in der Welt gewesen, also wenn diese Gesamtstimmung nicht wäre … ich weiß nicht, ob man sich ganz allein so nach oben fährt. Durch die Gesamtstimmung hat es ja auch etwas vom Normalfall, eine Normalität inmitten des Ausnahmezustandes, den jeder nur für sich allein erlebt.

Charakterisieren Sie Ihre Zeit! Versuchen Sie das bitte so dicht wie möglich!

Unsicherheit, Radikalisierung, Welt-Entfremdung, Gruppenbildung, Kriegsgefahren, Konflikt, Unfähigkeit, Bequemlichkeit hat unmittelbar damit zu tun. Für mich ergibt sich daraus: Egozentrismus, Narzissmus. Das wäre vielleicht so auf der einen Seite zu sagen. Aber auch: Transzendenz, Sensibilität und es fehlen noch die Worte … Gemeinschaftsbildung, Gemeinschaft, Bedürfnistransformationen und Umdenken. Also so ein Umdenken bei vielen Leuten – auch um mich herum. Es verändert sich was.

Das LZ Titelblatt vom Monat August 2022. VÖ. 26.08.2022. Foto: LZ

Wir müssen uns anpassen und schauen, wie wir das schaffen, wie wir uns neu sortieren und neu ordnen. Herausfinden, was denn nun gut ist, was wir trotz katastrophalen Ereignissen herausziehen können für uns, was wir nutzen wollen. Aber was ist gut? Das ist vielleicht auch etwas, was jeder in sich finden muss, weil es von außen diese Eindeutigkeit einfach nicht mehr gibt.

Sicherlich, man kann es sich leicht machen, sich irgendwo zuordnen lassen und sagen: Ich bin gut, wenn ich solidarisch bin. Nein, ich bin gut, wenn ich natürlich bin.

Gerade weil alles ins Wanken gerät, müssen wir neue Maßstäbe setzen und das gefällt mir ja daran. Ich bin schon sehr dafür, dass wir in uns selbst schauen und dass wir uns dadurch selbst entwickeln, aus eigener Erfahrung und aus eigenem Gefühl und der eigenen Intuition heraus. Sich zu fragen: Was ist eigentlich Wissen? Was ist Wahrheit? Was sind sogenannte Fakten? Das war schon immer ein großes Problem für mich, dass das Wissen und Wahrheit und Fakten immer in einen Topf gehauen werden.

Wie würden Sie denn „Wahrheit“ beschreiben?

Auf jeden Fall besteht Wahrheit nicht allein aus Fakten. Sie sind nur ein winziger Teil der Wahrheit. Für mich gehört zur Wahrheit eben genauso das Gefühl und die Intuition und die Transzendenz und auf jeden Fall die Erfahrung, die unmittelbare Erfahrung, die, die man einfach nur selber machen kann, die niemand auf dem Tablett serviert oder die einfach so in einer Zeitung steht oder in irgendeinem Medium, das sie als XY präsentieren kann.

Wahrheit besteht nicht allein im Faktischen, das auswendig gelernt werden kann. Aber der moderne Mensch scheint überwiegend genauso zu denken: als Konsument. Wahrheit kann man nicht einfach konsumieren. Sie obliegt einem anderen Werteverständnis. Das wäre vielleicht am ehesten mit dem eben genannten Begriff der Transzendenz zu erläutern. Damit meine ich die Durchlässigkeit in Spiritualität, also die Durchlässigkeit in andere Welten, die, die vielleicht nicht sichtbar, aber durchaus relevant sind und die für mich eine große Rolle spielen. Trotz der allgemeinen Abwertung solcher Wahrheitswerte existieren sie ja. Daran sieht man auch einen allgemeinen Werteverlust oder wenigstens eine Werte-Veränderung in der Wahrnehmung der Leute. Diese Verschiebung ist mühsam und schwer zu ertragen, will man das, wonach Sie ja im Titel dieses Interviews direkt fragen, sein existenzielles Selbstdenkertum im Ausnahmezustand nicht gänzlich verlieren oder aufgeben.

Welche Rolle spielen Sie in der von Ihnen geschilderten Zeit?

Das ist eine Frage, die ich mir ganz oft stelle. Es gibt, glaube ich, zwei Aspekte. Die eine Rolle ist die, die ich gerne spielen würde. Die andere, das ist die, die ich tatsächlich spiele. Ich finde beide nicht unwichtig, weil ich tendenziell so ein Mensch bin, der ganz ehrlich zugibt, dass er gerne mehr, viel mehr Einfluss und Verantwortung hätte – eben um viel mehr verändern zu können.

Also wenn mir jemand heute sagen würde: Willst du morgen ein politisches Amt übernehmen? Eines von echter Tragweite. Dann würde ich sagen: Ich mache es, weil ich wissen wollen würde, wie es ist. Selbst wenn mir jemand die Schwierigkeiten der Rolle in diesem Amt voraussagen würde – ich würde es trotzdem versuchen. Ich wäre gerne die, die tatsächlich etwas anführt …

„Im Gespräch mit Konstanze“ erschien erstmals am 26. August 2022 in der Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 105 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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