Ein klares Tatmotiv ist nicht erkennbar, der mutmaßliche Täter schweigt, selbst sein Verteidiger spricht von einem Rätsel. Am Donnerstag setzte das Landgericht nun den Prozess um den brutalen Angriff in einer Gohliser Bäckerei aus – das Opfer ist bis heute schwerst traumatisiert und momentan nicht vernehmungsfähig.

Bereits nach wenigen Minuten brach das Gericht die Vernehmung von Claudia B.* ab. Zu schlimm wiegt für sie noch immer die Erinnerung an den 5. Februar 2017. An jenem Sonntag war die 32-jährige Bäckereifachverkäuferin alleine im Geschäft, als sie ein Angreifer gegen 18:15 Uhr attackierte, schlug, sie bis zur Bewusstlosigkeit würgte, mit dem Knie gegen ihren Brustkorb trat, als sie bereits am Boden lag. Anschließend soll der Täter versucht haben, knapp 1.200 Euro Bargeld aus dem Tresor zu entnehmen, scheiterte jedoch offenbar bei der Code-Eingabe.

Noch am gleichen Tag nahm die Polizei Marcus V. (28) fest, der am 6. Februar in Untersuchungshaft kam. Den entscheidenden Tipp konnte Claudia B. den Ermittlern selbst geben, denn sie kannte den mutmaßlichen Täter mit Klarnamen.

Spätestens hier beginnen die Rätsel um den ungewöhnlichen Kriminalfall. Denn Marcus V. ging als Stammkunde nahezu täglich in der Bäckerei auf der Georg-Schumann-Straße ein und aus, war mit Claudia B. seit einigen Jahren bekannt. Man war sich vor langer Zeit erstmals auf einer Party begegnet, verlor sich dann aus den Augen, traf sich zufällig wieder. „Er war ein ganz normaler, junger Mann und ganz nett“, beschrieb Claudia B. vor der 8. Strafkammer den Angeklagten.

Auch am Tattag kam er auf einen Kaffee vorbei. Man habe „ganz normal gequatscht, noch eine zusammen geraucht“, so die 32-Jährige. Anders als sonst sei Marcus V. nicht gewesen. Umso erschreckender, was laut Schilderung der jungen Verkäuferin dann geschah: „Er hat mich von hinten gepackt, wir haben gekämpft, ich war zwischendurch ohnmächtig. Ich habe gedacht, da steht ein völlig anderer Mensch. Er hatte einen ganz starren Blick, so kannte ich ihn gar nicht.“ Ob er dabei eher emotional oder kalt gewirkt habe, fragte der Vorsitzende Richter Rüdiger Harr nach. „Er war ruhig, kontrolliert und eiskalt.“

Marcus V. hatte den Vorwurf gegenüber der Kripo bestritten, im Prozess dagegen von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Claudia B. erinnerte sich gleichwohl noch daran, während des Gewaltexzesses von ihrem Peiniger mit Klarnamen und den Worten „Ich kann dich nicht gehen lassen. Ich kenne dich, du gehst zur Polizei“ angesprochen worden zu sein.

Nicht zuletzt diese Äußerung gab der Justiz auch den Anlass für eine ursprüngliche Anklage wegen versuchten Mordes. Die wurde nicht zugelassen, da man Marcus V. zubilligte, von seinem Vorhaben ohne äußeren Zwang Abstand genommen zu haben – was sich juristisch als „strafbefreiender Rücktritt vom Versuch“ darstellt. Gleichwohl sei die Option bisher für ihn nicht vom Tisch, deutete der Kammervorsitzende bereits zum Prozessauftakt am 30. Juni an. In diesem Fall wäre eine Neuauflage vor einem Schwurgericht notwendig.

Auf seine Anregung hin brach die Kammer die Befragung von Claudia B. am Donnerstag ab, als nach einigen Minuten klar wurde, dass ihr Trauma derzeit keine belastende Vernehmungssituation zulässt. Schwer verletzt und blutüberströmt war ihr am Tattag die Flucht aus dem Laden gelungen, während sich der Täter am Tresor zu schaffen machte. Noch immer ist Claudia B. krankgeschrieben und kämpft mit der furchtbaren Erinnerung an die Todesgefahr, der sie sich am 5. Februar ausgesetzt sah. Zugleich soll der vorbestrafte Angeklagte einer psychiatrischen Begutachtung unterzogen werden. Das Verfahren ist vorerst für drei Monate ausgesetzt.

*Der Name wurde verfremdet.

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