Wenn ich als Kind meine Mutter mit der Frage belästigte "Mami, was soll ich spielen?", so pflegte diese meist knapp zu entgegnen "Auf den Kopf stellen und schielen!". So uneinfühlsam kann man den Kindern von heute natürlich nicht mehr kommen. Dazu nehmen wir sie zu ernst. Und deshalb ist es ist auch kein Spaß, wenn den kleinen Thronfolgern ein Spielzeug gekauft werden soll. Nirgendwo sonst auf der Welt setzt man sich derart kritisch mit dem Angebot der Spielwarenhändler auseinander wie hierzulande, die Ansprüche der Erwachsenen an Spielwaren sind hoch: Ökologisch sollen sie sein, ein Kuscheltier möglichst aus Holz und lernen soll das Kind auch noch was dabei.

Betritt man allerdings eine Spielwarenabteilung eines Warenhauses in realiter muss man schon ganz schön den Bauch einziehen, um durch den schmalen Spalt zu passen, der zwischen den Mauern moralischen Anspruchs und denen kalter Marktinteressen noch übrig ist: Rosa Püppchen im Kindchenschema oder in Outfits, in denen man sich einschlägig besungene Vorstadtdamen aus Songs der Spider Murphy Gang so vorstellt, entrückt blickende Plüschtiere, die nur noch aus Augen zu bestehen scheinen, wahrscheinlich weil sie den ganzen Tag auf ein Arsenal blinkender Laserschwerter, mit denen man die IS-Problematik im Handumdrehen zu lösen imstande wäre, blicken müssen. Gleich daneben martialische Kämpferfiguren fürs Jungenherz, sprechende Kätzchen maunzen glockenhell überraschend aus einem Karton hervor und vor allem Dinos über Dinos. Einer monströser als der andere. Gegen eine herkömmliche Spielwarenabteilung der Neuzeit wirkt “Jurassic Park” wie ein Dokumentarfilm über einen von Ludwig XIV. angelegten Garten.

Sollten wir aber unsere Kinder angesichts dieser grotesken Ansammlung an Weichmachern nicht lieber wegschließen und erst an ihrem 18. Geburtstag wieder herausholen? Gott sei Dank müssen wir das nicht. Nur ein wenig Entspannung tut Not, denn auch für das pädagogisch fragwürdigste Spielzeug gilt, was der Schweizer Theologe Markus M. Ronner so treffend über den Mitmenschen zu bemerken wusste: “So wertlos ist keiner, dass er nicht wenigstens als schlechtes Beispiel herhalten könnte.”

Das gilt natürlich auch für Spiderman, jenen ästhetisch fragwürdigen amerikanischen Action-Helden, der nicht mal richtig bei den New Yorkern zu punkten vermag, obwohl er dreimal am Tag die Welt rettet. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass Spinnen schlichtweg keine großen Sympathieträger sind.

Meine Verbindung zu Spiderman war über lange Jahre unproblematisch, weil nicht existent.

Es waren jene Zeiten in meinem Leben, wo man mit dem Optimismus des Naivlings und Nicht-Resignierten herumtönt: “MEIN Kind wird mal nicht diesen Spiderman-StarWars-Ninja-Turtles-Comic-Kram gut finden!”, mit dem logischen Ergebnis, dass selbiges heute selbstverständlich bei jeglicher Begegnung mit dieser grauenhaften Personage in unmittelbare Komplett-Verzückung gerät.

Lernen durch Vorbildwirkung mag ein feiner pädagogischer Ansatz sein, allein: Er ist (noch nicht mal) für die Katz. Wer meint, man könne allein durch Vorbildsein irgendetwas erreichen bei der Brut, der hält auch Hitlers Nichtangriffspakt mit Stalin für den Beginn der DSF. Ich jedenfalls könnte mich Abend für Abend mit dem Stickrahmen vor das Kind setzen, es würde trotzdem was mit Robotern wollen.

Oder eben einen Spiderman-Comic. Wie neulich zum Bespiel.

Kürzlich hatte der Kollateralschaden an der Supermarktkasse aus einem Comic-Heftchen bestanden, dem eine kleine beigegebene Spiderman-Figur beigefügt war. Ein zigarettenschachtelgroßes Männchen mit Glibber-Händen und -füßen, die dafür sorgen sollen, dass sich der kleine Spinnenmann an Wänden und Fensterscheiben selbstständig kletternd herunter arbeitet. So weit, so peinlich.

Wenige kindlich selige Minuten später hing der übermütig herumgeschleuderte Spiderman in einem einschlägig bekannten Elektronikgeschäft, das wir noch aufzusuchen beliebt hatten, kopfüber von der Decke – die Füße klebten an der Oberfläche, die Arme hingen bedeutsam und dramatisch ins Nichts weisend nach unten. Dasselbe galt bedauerlicherweise auch für die Mundwinkel des Kindes. Alsbald gesellte sich ein junger Mann zu uns, ebenfalls Kunde wie wir. Bereitwillig ließ er sich nach Kenntnisnahme des Problems animieren, es uns gleichzutun und einen Balisto-Keksriegel nach oben zu werfen, um den Herabhängenden zu lockern. Er stellte sich tatsächlich weitaus geschickter an als wir, kein Wunder, er sei Handballer, wie er bescheiden mitteilte. Spiderman beeindruckte dies wenig. Er hing stoisch weiterhin von der Decke herab.

Ein zweiter junger Mann gesellte sich interessiert hinzu. Was los sei, ob er helfen könne. Wir warfen fortan zu dritt. Ohne Erfolg zwar, begannen aber auch sichtlich, etwas Freude an der Sache zu generieren. Nach zahllosen fruchtlosen Versuchen ließ sich das Kind hinwegführen, während es über den Verlust getröstet wurde. Vielleicht fiele Spiderman morgen ja unverhofft irgendeinem nichtsahnenden Passanten auf den Kopf …? Der Gedanke war ihm der tröstlichste.

Am nächsten Tag aber beharrte es darauf, noch einmal zum Ort des Geschehens zurückzukehren, um die aktuelle Sachlage in Augenschein zu nehmen. Um es kurz zu machen: Spiderman wachte beharrlich über die Preise der Helene-Fischer-Die-Flippers-The-Best-of-David-Bowie-CD-Aktionen.

“Wir führen keine Leitern”, so der vom Kind mit einschlägigen Wünschen umgehend angesprochene Mitarbeiter. Worum es denn ginge. Eine Minute später wurde mit herzlichem Lachen und einem fröhlichen “Das trifft mein Humorzentrum!” meine Handynummer notiert, mit dem Versprechen, sich der Sache anzunehmen, sobald sich der Laden ein wenig geleert habe. Am selben Abend schwirrte die erlösende SMS ein: “Sehr geehrte Frau Gastmann, der entlaufene Spiderman kann an der Tonträgerinfo abgeholt werden.”

Spätestens seit diesem Erlebnis gilt pädagogisch wertloses Spielzeug bei uns als rehabilitiert.

Spiderman hat mit seinem Abhängen eine solch eindrückliche Lektion geliefert, wie es eine Holzeisenbahn nie geschafft hätte. Mit Spiderman wurde aus dem Nichts ein soziales Aggregat der Hilfsbereitschaft heraufbeschworen, Problemlöse-Strategien mussten gefunden und angewendet werden und die Tatsache, dass auch Helden mitunter gerettet werden wollen, bleibt überdies im Kopf.

Und meine Mutter hatte also wieder einmal Recht gehabt: “Auf den Kopf stellen und schielen” kann durchaus aufregend sein.

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