Das Schlimmste am Älterwerden ist nicht die nachlassende Spannkraft des Bindegewebes, sondern die Erkenntnis, dass auf der Welt ganz schön viel passiert, ohne dass etwas geschieht. Das fällt momentan besonders auf, da wir mal wieder Wetter haben. Da Wetter in unseren Breiten so selten ist, reagieren viele sofort über und gehen ins Wasser.

Manchmal muss man dazu sogar ins Freibad. Nach abermaligen Versuchen im sich gerade ereignenden Sommer, bekenne ich allerdings erfrischt und frei: Meine Freibad-Enthusiasmus-Zeit ist durch.

Es ist das Unwohlsein schlechthin: Der Mitmensch sitzt zu zahlreich und zu spärlich bekleidet um einen herum, er hat sich chinesische Schriftzeichen quer über den Rettungsring tätowieren lassen, nicht wissend, dass das alles vermutlich “Langnase hat einen beträchtlichen Triller unterm Pony” bedeutet, er lärmt, er schmaust und schmatzt und führt einem ungewollt die Banalität des menschlichen Daseins vor Augen.

Schlimmer noch fast: Es STICHT aus allen Richtungen. Das Gras piekst, die Bienen hauen einem herzlos ihren Stachel in den Barfuß und wer es ganz hart mag, der legt sich noch eine modische Bastmatte unter. Aber selbst, wenn man zu ebener Erde auf ein Handtuch gebettet wird, ist die Freude begrenzt: Man kann nicht lange SITZEN, aber auch nicht LIEGEN, weil es dann wieder irgendwoher sticht. Am Ende sogar im Rücken.

Es ist soweit: Ich brauch einen Strand – feinsandig, weiß und eine Sitzgelegenheit, in der man mit einem Rest menschlicher Würde einen Kaffee und ein Buch positionieren kann, außerdem fünf  Meter Mindestabstand zur benachbarten Partei und im Wasser die Möglichkeit, ein wenig rauszuschwimmen, ohne dass einem alle 30 Sekunden ein übergewichtiger Drittklässler auf den Kopf zu springen droht.

In diesem Aspekt allerdings besteht Hoffnung:

Aus einschlägigen Pressemeldungen der letzten Tage ist zu erfahren, dass sich die Gefahr, im Wasser einen Minderjährigen anzutreffen, umgekehrt proportional zur zunehmenden Entfernung von Ufer verhalte. Mit anderen Worten: Wir drohen ein Volk von Nichtschwimmern zu werden. Dennoch bereiten wir den Rettungsschwimmern wachsende Sorgen: Je geringer die Schwimmfähigkeit der Deutschen geworden sei, umso mehr Spaß generierten sie am Baden. Und dies sogar mit mehr Waghalsigkeit und wachsendem Selbstbewusstsein. Von wem wir das nur  …?

Mit Selbstbewusstsein allein kam man in Zeiten, als der Osten noch nicht als das Land der 1.000 Haarfarben und 92 Spaßbäder bekannt geworden war, nicht sehr weit. Vor dem Mauerfall und dessen Folgen war es bekanntlich Usus, dass man kurz vor Schulbeginn das Schwimmen erlernte. Zu diesem Zwecke fand man sich allwöchentlich mit der Kindergartengruppe und ungutem Bauchgefühl in der Städtischen Schwimmhalle wieder. Schwimmlehrer und Bademeister nämlich wussten genau, wie man mit der hochgradig gefährlichen Zielgruppe einer Schar verängstigter Fünfjähriger umzugehen hatte und gaben sich derart autoritär, als hätten sie eine Elitetruppe des “Feliks-Dzierzynski”-Wachregiments auf Betriebsausflug im Domino-Studio vor sich.

So schien es uns vollkommen selbstverständlich, dass wir deren mürrischen Befehlen ohne den geringsten Widerstand folgten und uns pünktlich zu Beginn der Schwimmstunde badehosenfrei am Beckenrand aufstellten, um auf Pfiff ins Wasser zu springen. Übervorsichtige, die sich noch zögerlich am Beckenrand festklammerten, wurden nicht selten mit einer Stange dort fortgestoßen. Zweifellos: Einfühlsam war die Methodik gerade nicht zu nennen, allerdings: Der Erfolg konnte sich sehen lassen. Rasch hatte man neben dem Anstehen am Essensschalter eine weitere Schlüsselqualifikationen eines richtigen FDGB-Urlaubers drauf: Schwimmen mit dem Strom. Einige Jahre später versuchten einige es sogar in der umgekehrten Richtung.

Bedauerliche Ironie des Schicksals:

Mit der Schwimmfähigkeit heutiger Jugendlicher hätte die DDR den Seeweg nach Schweden kaum überwachen müssen. Dabei sollten eigentlich auch heute noch alle Grundschüler Schwimmunterricht erhalten. Aber ohne Lehrer und mit dem anhalten Trend der Schließung geeigneter Schwimmhallen sitzt man eben oft auf dem Trockenen. Laut Klaus Wilkens, Ehrenpräsident der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft  (DLRG) waren es Ende der 80er Jahre noch über 90 Prozent der Schüler, die mit zehn Jahren etwa das Freischwimmerabzeichen erreicht hätten. Heute sind es maximal noch 50 Prozent.

Bei Migranten sähe die Zahl aufgrund mangelnder Schwimm-Erfahrung oder religiöser Gepflogenheiten in den Herkunftsländern noch besorgniserregender aus.

Tröstlich immerhin: Die sich weit übers Land erstreckende, bunte Landschaft von Tropical Island und Co. aber sorgt dafür, dass die Jugend vor dem Ertrinken wenigstens ordentlich Fun hatte. Argwöhnisch allerdings sollte man spätestens dann werden, wenn Notunterkünfte für Flüchtlinge von den vorgesehenen Turn- auch noch auf Schwimmhallen ausgeweitet werden sollten.

Was die Zukunft bringt, vermag keiner zu sagen. Sicher bleibt nur: Wenn nur wenige im Geld schwimmen, gehen viele eben baden.

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