„Schauen Sie mal, Herr Jopp, soll det unsere Elite sein?“ fragt mich eine Kollegin während der zweiten Hofrauchpause. Auch die muss vor langer Zeit einmal abgeordnet worden sein, so wie du, schießt es mir durch den Kopf. Für eine „Vertriebene“ scheint sie zu jung und für eine „Versetzte“ doch zu freundlich, denke ich weiter. Spaß beiseite. Da ich sie in der Eingewöhnungszeit an meiner Zweitschule als Deutschlehrerin identifiziert habe, weiß ich sicher, dass es eine rhetorische Frage ist, die sie mir stellt.

„Det is unsere junge Elite, Wahnsinn.“ Sie nuckelt lächelnd an ihrer Zigarette, hält dabei gemütlichen Spott und Glimmstängel gleichzeitig in ihrem Mundwinkel. Da sie einen seltenen adligen Namen trägt und in Lindenau gymnasialen Heimvorteil genießt, stimme ich ihr zu.

Aber „Elite“? Kann man diese armen Würstchen, die sich mit Fußballidolen neben Limonadendosen und Mobiltelefonen in Überdosis beschäftigen, überhaupt an solchen Ansprüchen messen? – „Hallo, Herr Jopp!“ grüßt man mich von der Schülerseite, das andere Ohr telefonierend am Mikrocomputer. Ich trotte zur Hofaufsicht. Am Teich, welcher sich mitten auf dem Schulhof befindet. Warum gerade dort, ist mir auch nicht ganz klar. Vermutlich, um aufzupassen, dass niemand beim Telefonieren ins Wasser plumpst.

„Det is unsere junge Elite, Wahnsinn, oder?“ höre ich von weitem noch einmal die dialektale Färbung der Kollegin. „Nur Mut!“ Recht hat sie sicher. Mut braucht es unbedingt im Umgang mit unserer Elite. So viel steht fest.

Elite. Das Wort scheint wieder auf dem Vormarsch, in der Expansion begriffen. Ich denke an den Einwurf eines Schülers am Morgen, der mir erklärte, dass es von allem doch auch immer das Gegenteil geben muss. Elite, das sind die „Gewinner“. Die Auserwählten. Und die anderen? Pech in der Lotterie? Die Eltern verzockt beim genetischen Code? Zu oft „The Dark Side of the Moon“ von Pink Floyd gehört? Elite. Passt das zu uns? Schreiten wir da in der Menschheitsentwicklung voran? Was hat Elite mit „humanistischer Bildung“ zu tun? Mit Demokratie gar? Und vor allem: Sollen die knapp 50 % der Schüler, welche das Gymnasium besuchen, alle einer Eliteeinheit angehören? Wahrscheinlich. Oder besser: Schön wär’s ja. Nur was soll denn diese „Elite“ dann „können“? Effizient arbeiten – exzellent einkaufen – eminent wichtig sein? Individuell? Natürlich. Das Schülerpublikum am Schulteich trollt sich indessen kollektiv in die Unterrichtsräume.

Thema Klasse 10. Schillers „Räuber“. Und sein Konzept der „Ästhetischen Erziehung des Menschen“. Meine Pausengedanken kleben wie Restpapier. „Stelle mich vor ein Heer, Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen!“ Karl Moor, der Anführer einer Bande von Gesetzlosen, von „Outlaws“ vor seinen Getreuen. Hier würde der Begriff der „Elite“ nicht passen, meint Johanna. Ein Haufen von Individualisten, welche sich im Zweckbündnis zusammenfinden, um sich an der Welt zu rächen. Eine „Elite der Terroristen“, wenn überhaupt, ergänzt Max. „Ich habe keinen Vater mehr, ich habe keine Liebe mehr, und Blut und Tod soll mich vergessen lehren, dass mir jemals etwas teuer war.“ So der Räuberhauptmann weiter. Vor seiner Elite. Nein, vor seiner Bande. So viel ist klar. Karl Moor auf dem egomanen Selbstverwirklichungstrip plus Intoleranz bis hin zu Gewaltfantasien – das kann keine Elite sein. Welche Kriterien gelten denn dann für das Auserwählt-Sein?

Leistung, meint Max. Wie im Fußball. Da zählt auch Leistung. In welcher Spielklasse, will ich wissen. Na, in der hohen, entgegnet Max. Das sei traurig, flüstern Caro und Line gleichzeitig. Dann wären ja Eliten nur „Eliten auf Zeit“, denn beim Nachlassen der sportlichen Leistungsfähigkeit ginge auch der Eliteanspruch verloren. Stimmt. Es muss doch möglich sein, diesen Anspruch auf verschiedenen Feldern zu entwickeln. In der „Totalität des Charakters“, wie Schiller es formulierte, ergänze ich vorsichtig. Und weiter: „Einheit fordert zwar die Vernunft, die Natur aber Mannigfaltigkeit, und von beidem, von Bewusstsein und Gefühl wird der Mensch in Anspruch genommen.“ Wie, also kann man auch mit bestimmten Gefühlen zur „Elite“ gehören? Ja, lächle ich bestätigend. „Und das ist dann gewissermaßen zeitlos?“ Ich brauche gar nicht zu nicken. Vielleicht gibt es sie ja doch, unsere junge Elite. Wahnsinn.

Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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