Der junge Selbstmordattentäter in Leipzig hat in seinem kurzen Leben vieles nicht erreicht, was man jungen Männern seines Alters im Grunde wünschen sollte. Aber eines mit Sicherheit: Dass diese, oder besser seine menschliche Tragödie Kreise zieht. Es ist, als sei jemand auf Nimmerwiederkehr ins Wasser gesprungen, und die Wellen schlagen hoch. Am meisten überspült hat es natürlich die sächsische Polizei. Die musste ganz schön nach Luft schnappen diese Woche. Dabei hat sie bekanntlich kein ganz leichtes Jahr hinter sich. Das Leben ist längst kein Montagsspaziergang mehr.

Erinnern wir uns an die Stimmung letztes Jahr im November. Paris war noch keine paar Tage alt, da ging es bei uns schon ums Eingemachte. Unseren Weihnachtsmarkt. „Weihnachtsmarkt mit neuem Sicherheitskonzept“ und „Verstärkte Polizeipräsenz auf Weihnachtsmarkt“ – auch das waren großflächige Lokal-Presse-Meldungen dieser Zeit.

Verdammt, dachte man sich, diese nebulös-diffuse, und doch so konkrete Terrorismus-Kacke, die raubt einem noch die Leichtigkeit der schönsten Dinge. Ganz so, als ob wir jemals Weltmeister in Leichtigkeit, Esprit und Sorglosigkeit gewesen wären. Als ob wir nicht längst die Adventszeit mit fünf Wochen offenen Glühweinbuden vertauscht hätten und mit drei verkaufsoffenen Sonntagen. Damit man mal schön „en famille“ shoppen gehen kann, sofern Mutti nicht Verkäuferin ist und am Sonntag kurz vorm vorgekochten Mittagessen in Richtung Arbeitsplatz verschwinden und sich von Beeeweeee-Ellern als „Low- oder High-Performer“ einstufen lassen muss. Voll das gute Leben, hinein ins Weekend-Feeling.

Jetzt haben wir nicht nur voll das gute Leben, sondern sogar einen konkreten Terrorverdächtigen. Einen eigenen! Nicht in Paris, sondern in Klein-Paris. Nein, die Leichtigkeit raubt uns in Deutschland der Terror-High-Performer sicherlich nicht. Nehmen kann man ja nur das, was tatsächlich da ist.

Was er uns raubt, ist das Sicherheitsgefühl. Jenes Gefühl, das uns vielleicht das wichtigste von allen ist. Weil oder obwohl es als Ziel so schwer zu erreichen ist. Dabei haben wir uns so angestrengt in den letzten Jahren – mit dem Immer-sicherer-Leben: Wir schnallen uns in jeder Lebenssituation bereitwillig an, wir tragen Helm bei der Fahrrad-Fahrt zum Konsum um die Ecke und Plastik-Handschuhe beim Brötchen-aus-der-Vitrine-Nehmen, wir schicken Raucher Wolfgang-Borchert-like draußen vor die Tür. Einige hätten Rauchmelder insgeheim am liebsten in Menschengestalt.

In der Gesamtschau wollen wir einfach nicht auf die schiefe Leichtigkeitsbahn geraten: Wir sind Auf-jede-Email-Antworter, Im-Ausland-Wasser-Abkocher, Lichtschutz-Faktor-70-Eincremer, Vorabend-Einchecker, Lenkrad-Zudecker, Was-denkst-du-gerade-Frager geworden. Vieles davon mag an sich vernünftig wirken, aber es lähmt in der Überlagerung natürlich auch ein wenig unsere Mut-Muskulatur. Ohne Übung ist einfach nüscht los mit den Muskeln, das wissen nicht nur die Fitness-Studio-Geher unter uns.

Gerade aber das Gegenteil dieser Mut-Muskel-Atrophie ist es, was wir auch angesichts der als näherrückend empfundenen Terrorgefahr bedürfen. Wir brauchen nicht das Gefühl, wir müssten schweren Herzens unsichere Zeiten märtyrerhaft überstehen, indem wir anderen ständig irgendwelche Schuldzuweisungen anschmieren oder mit dem als „Bedenken“ verkleideten verbalen Hass-Schwert wild in der Gegen herumfuchteln, sondern eine Gelassenheit, die sich aus Lebensklugheit speist und die mit einer gewissen Heiterkeit bereit ist, Widersprüche des Lebens auszuhalten, immer wieder Fragen zu stellen, auch an sich selbst gerichtete, und vor allem niemals den Glauben an die Fähigkeit zu verlieren, dass wir gemeinsam zu handeln imstande sind. Weil wir es sind.

Alles andere geschieht ohnehin. Das ist das einzige, was sich mit Sicherheit sagen lässt. Oder …?

In eigener Sache – Wir knacken gemeinsam die 250 & kaufen den „Melder“ frei

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