Zugegeben: Ich habe es ja gerne, wenn es argumentativ mal hoch her geht. Deshalb gefiel mir Anfang der Woche auch so, als die ARD die Schirach-Verfilmung „Terror“ herzeigte und daraufhin die Zuschauer zur Abstimmung über Schuld oder Unschuld des Angeklagten animierte. Hitzig war die Debatte am Arbeitsplatz, in Freundeskreisen, im Netz. Dürfe man dies oder jenes oder eher nicht? Solle man dies oder jenes infrage stellen oder nicht? Soll man diesen oder jenen an der Debatte beteiligen oder nicht?

Warum aber muss es immer gleich ums große Ganze gehen oder mindestes ums ganz Große bis man Menschen an ihrer Mitmachmentalität zu fassen kriegt? Wir haben Tag für Tag wohl reichlich Gelegenheit, Debatten anzustoßen. Dringende sogar. Schon allein aus dem Grund, damit in ein paar Jahrzehnten die Denkmalinschrift für Europa nicht „In Gedenken an die Kommerz-Gefallenen“ lauten muss.

„Sachsens Ärzteverband fordert radikale Einsparungen bei Massagen und Kuren“ titelte die Leipziger Volkszeitung zum Beispiel am Dienstag. Und ergänzte im gleichen Zuge: Hartmannbund stellt auch Chemotherapie bei unheilbaren Krebserkrankungen infrage.

Da kann man schon mal hellhörig werden.

Eines vorweg: Ich bin nie ein Freund der ewigen Litanei gewesen, Ärzte seien von Haus aus gierig, korrupt oder sonst wie moralisch auf dürrem Ästchen positioniert. Auch ist man irgendwie der Versuche überdrüssig, der Ärzteschaft ständig kollektiv Mitverantwortung an irgendwelchen individuellen Versäumnissen oder Zwängen der Krankenkassen aufzubürden.

Auch wenn Ärzte Anspruch auf ein angemessenes Honorar und eine rechtssichere Gebührenordnung einfordern, halte ich das für in jeder Hinsicht legitim. Schlimm genug, dass sie es überhaupt noch müssen. Die ärztliche Profession scheint mir in vielerlei Hinsicht bewunderungswürdig und hochinteressant. Überdies stelle ich mir den ständigen Tanz auf dem Drahtseil zwischen Patientenschutz und Wirtschaftsinteressen alles andere als leicht vor. Gerade im Gesundheitswesen mag die Balance, die in einem demokratischen Staatswesen zwischen den Wünschen und Ansprüchen der Beteiligten hergestellt werden muss, außerordentlich mühsam herbeizubügeln sein.

Deshalb wirkt es besonders alarmierend, wenn sich gerade auf diesem Gebiet Grenzen des Sagbaren zu verschieben beginnen:

Anlass für das LVZ-Interview mit dem Leipziger Mediziner Thomas Lipp, Vorsitzender des Hartmannbundes Sachsen, war dessen Kritik an der unlängst vom Bundeskabinett auf den Weg gebrachten Kostensbremse für Arzneimittel in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Lipp gehe diese nicht weit genug, war zu erfahren, er möchte tiefergreifende Reformen. So weit, so gut.

Auch dass die Sinnhaftigkeit lebensverlängernder Therapien unter allen Umständen längst einmal lauter hinterfragt werden müsste, wird niemand bestreiten. Aber sollte dies ausschließlich unter finanziellem Gesichtspunkt geschehen? Insofern stimmen einige der Sätze, die in dem Gespräch fielen, mehr als nachdenklich: „Noch haben wir in Deutschland den Anspruch, jedem die beste oder auch maximal mögliche medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Noch spielt Geld nicht die Rolle“, heißt es da zum Bespiel oder „Wir müssen Prioritäten setzen, aus den begrenzten Mitteln das Optimale rauszuholen.“

Für wen aber genau das Optimale herausgeholt werden soll, erfährt der Leser nicht. Auch nicht, was exakt dieses „noch“ zu bedeuten hat. Für ein wenig Nachbohren wäre man dankbar gewesen. Im Fortlauf wird es aber dann doch konkreter: „Politiker müssten der Bevölkerung offen sagen: Das Geld reicht nicht immer für die modernste Medizin gegen alles und für jeden Patienten“, führt Lipp aus.

Das war ein Satz, so klar und schonungslos in seiner Aussage, dass er mich in den vergangenen Tagen mehr beschäftigen sollte, als ein Schirach-Drama im TV.

Ich weiß, dass Dr. Thomas Lipp sehr auf dem Boden der Tatsachen agiert, wenn er dies FESTSTELLT und bin sicher, die beschriebene Sachlage IST bereits so. Entsetzen aber kommt auf, wenn man FORDERT, dies zu propagieren. Denn damit enthüllt sich ein Weltbild, das sich auf Werte und Normen stützt, die mit humanistischen Vorstellungen nur noch wenig gemein zu haben scheinen.

Vielleicht aber will Lipp genau das erreichen: Wenn Politiker tun würden, wie er ihnen heißt, dann träte einmal mehr drastisch zutage, welches Kalb die Gesellschaft an den entscheidenden Stellen immer eindeutiger antanzt. In diesem Falle unterstützte man diese Forderung gerne und könnte darüber hinaus anregen, diese noch zu konkretisieren, indem man die Politiker anfeuert, der Bevölkerung endlich einfach zu sagen:

Liebe Leute, seht es endlich ein, das Geld reicht eben nicht für alle. Nirgendwo.

Wer das nicht verstehen will, hat nur in der Schule nicht richtig zugehört. Damals als die deutschen Sprichwörter durchgenommen wurden: „Wer anderen eine Grube gräbt, heiligt die Mittel, der Zweck hat Gold im Mund, stille Wasser sind den Taler nicht wert und wer den Pfennig nicht ehrt, verdirbt den Brei.“

Bleibt nur noch zu klären, auf wessen Kosten man jetzt wo seine Restzweifel wegmassieren lassen kann …

In eigener Sache – Wir knacken gemeinsam die 250 & kaufen den „Melder“ frei

https://www.l-iz.de/bildung/medien/2016/10/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108

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“Bleibt nur noch zu klären, auf wessen Kosten man jetzt wo seine Restzweifel wegmassieren lassen kann …”
Das muss nicht geklärt werden, das wissen wir doch sowieso – auf Kosten derer, die sich nicht wehren können und auf Kosten derer, die sowieso schon nicht viel haben!

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