LZ/Auszug aus Ausgabe 57Seit Jahren ist das Dach dieses Hauses marode. An den Gerüststangen ranken Bohnen, Waldreben und wilder Wein; am Hauseingang wachsen Rosen und auf den Bohlen sonnt sich eine fuchsrote Katze. Ich sitze im Garten des GOASE e.V., in der Richterstraße 4/6. Die aus alten Paletten konstruierte Terrasse wurde vor wenigen Tagen erst fertiggestellt.

Der Nachbarschaftsverein hatte mich kürzlich dazu eingeladen, hier eine Lesung zu veranstalten. Nun möchte ich mehr über seine Arbeit erfahren und unterhalte mich deshalb mit Julian, einem Bewohner des Hauses.

Zur Geschichte des Mehrparteienhauses

Das Haus der Richterstraße 4/6 wurde 1928 als Wohnhaus für höhere Verwaltungsangestellte des einstigen Mitteldeutschen Braunkohle-Syndikats erbaut. Ein jüdisches Brüderpaar hatte das Unternehmen geleitet und es zum zweitgrößten Kohlehandel Mitteldeutschlands ausgebaut. Für die Nazis war das Mitteldeutsche Braunkohle-Syndikat kriegsbedeutend. Das Unternehmen wurde enteignet. Was mit den acht Familien, die in diesem Haus lebten, geschah, bleibt bis heute im Unklaren.

Julian nahm Kontakt mit Gunter Demnig, dem Begründer der Stolpersteine, auf und glich die Deportationslisten mit den Einträgen des Einwohnermeldeamts zwischen 1941 und 1947 ab. Es gilt demnach als sicher, dass keiner der Mieter*innen deportiert wurde. Wahrscheinlich konnten sich alle rechtzeitig ins Ausland retten. Über ihren weiteren Verbleib weiß Julian allerdings nichts. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die einst repräsentativen, großräumigen Wohneinheiten halbiert. Pro Eingang gab es nun acht Briefkästen. Von der Hausgemeinschaft dieser Zeit ist nur noch ein Mieter geblieben. Dieser lebt seit den 70er Jahren hier.

Nach der Wende stand das Haus dann über zehn Jahre lang fast leer. Seither ist es zu Zweidrittel im Besitz des Liegenschaftsamtes. Für den übrigen Teil bestanden Restitutionsansprüche, die erst vor kurzem geklärt werden konnten und die ein Grund dafür sind, weshalb die neuen Bewohnerinnen und Bewohner von alten Mietverträgen profitieren. Einen Großteil der unsanierten Wohnungen hat die Mietergemeinschaft in Eigenregie und Eigenleistung selbst instand gesetzt. Gemeinsam flieste man Bäder, verlegte Holzböden und beschloss Wanddurchbrüche.

Die Idee, einen Nachbarschaftsverein zu gründen, kam der Gruppe über das Zusammenleben, denn dieses galt es gegenüber den ökonomischen Interessen von außen zu sichern. Die Antwort auf die Frage, wie man der Logik des Immobilienmarktes begegnen könne, war die, ein solidarisches Miteinander über die eigenen Grenzen hinaus zu entwickeln, sich und die Menschen von außen anzuregen und dazu zu ermutigen, einen „unwirtschaftlichen Flecken“, wie Julian das Haus nennt, zu bejahen.

Die Erdgeschosswohnung

Heute ist das Haus wieder fast vollständig bewohnt. Drei Generationen mit unterschiedlichsten beruflichen Hintergründen und Interessen leben unter einem Dach vereint in nun wieder acht Wohneinheiten zusammen. Lediglich die Erdgeschosswohnung der Richterstraße 4 steht noch leer. Und das ist ein Problem. Das Liegenschaftsamt möchte diese nämlich hochpreislich vermietet wissen. In diesem Fall würden die Bewohnerinnen und Bewohner an ihrer eigenen Gentrifizierung mitwirken. Ihnen schwebt indes etwas anderes vor. Haus- und Nachbarschaftsprojekte gibt es im Westen, im Süden, im Osten, allerdings nicht im Norden der Stadt.

Besonders im Herbst und im Winter ist es in dieser Gegend still. Daher würde der Verein die Erdgeschosswohnung am liebsten als Vereinsstätte nutzen, in der sich die Nachbarn treffen können, in der es ein Seniorencafé gibt, eine Malwerkstatt oder ähnliches.

Ein gesamtheitliches Kulturzentrum

Gerade weil der Verein nicht profitabel handelt, leistet er eine Kulturarbeit, die beachtlich ist. Das Haus hat einen „Fair-Teiler“ eingerichtet, einen Lebensmittelschrank, der am Zaun der Richterstraße 4 steht. Hier können sich die Anwohnerinnen und Anwohner sowie alle Menschen aus der Gegend kostenlos an den Lebensmitteln bedienen, die im Schrank liegen und Lebensmittel, die sie selbst nicht benötigen, ihren Mitmenschen überlassen – ohne dass das dabei die Bedingung wäre, den Fair-Teiler nutzen zu können. Die GOASE unterstützt damit aktiv das Programm der Initiative foodsharing, deren Ziel es ist, der grassierenden Lebensmittelverschwendung entgegenzusteuern.

Demselben Prinzip liegt die Idee des Tauschschranks zugrunde, der am Zaun der Richterstraße 6 steht. Hier schenkt sich die Nachbarschaft gegenseitig Bücher, CDs, Spielsachen, Haushaltswaren – Dinge aller Art. Und zwischen diesen beiden Schränken steht auf der Wiese ein riesiges Kaninchen – „Hoppel“, eine Skulptur, die der Künstler Matthias Garff unter anderem aus den alten Linoleumplatten schuf, die über Jahrzehnte im Dachboden des Hauses lagerten.

Der Garten

Das Herz der GOASE ist ein annähernd 4.000 m² großes Gartengrundstück. Ursprünglich standen hier 16 vereinzelte Parzellen. Vor 80 Jahren pflanzte jemand eine Eiche. Nach der Wende verwilderte das Grundstück. Eine Kastanie und mehrere Birken wuchsen aus dem Boden. Als sich die neue Hausgemeinschaft mit den Jahren kennenlernte, wurden die Zäune sukzessive entfernt und die Fläche fortan kollektiv bearbeitet. Man entschied sich, eine Balance zwischen Kultivierung und der Eigendynamik der Natur anzustreben, denn, wie Julian mir erklärt: Mit jedem Eingriff in die Natur mag sich der Mensch zwar in die Lage versetzen, aus ihr etwas zu schöpfen, etwas für sich zu gewinnen; zugleich aber entfernt nicht nur er sich vom Zustand des ursprünglichen Ideals, sondern auch der Raum selbst wird anfälliger, kranker.

Während also Bäume und Büsche beschnitten und neu gepflanzt, eine Rasenfläche, Beete und Kräuterspiralen angelegt und ein Gewächshaus errichtet wurden, achtete man von Anfang auch darauf, der Natur einen Teil des Raumes zu überlassen. So ist ein beeindruckendes Biotop entstanden und zugleich ein Refugium für Marder, Spechte, Eichhörnchen und für viele Igel. Auch drei Katzen leben in der GOASE. Mittels Katzenklappen haben sie freien Zugang im ganzen Haus. Zudem gibt es einen Hühnerstall und sogar eine Imkerei.

Mehr als zehn teils tragende Sauerkirschen stehen im Garten, ebenso wie eine Hallenser Süßkirsche, sieben Apfelbäume, zwei Birnen und eine Pflaume. Bei meiner Ankunft wurde noch ein Mammutbaum gepflanzt. Dutzende Kräuter und Blumensorten wachsen im Garten und dazu noch eine Vielzahl von Nutzpflanzen, so zum Beispiel Tomaten, Gurken, Kürbisse, Zucchini, Melonen, Mais, Bohnen, Erbsen, Himbeeren, Erdbeeren, Brombeeren, Stachelbeeren, Johannisbeeren (rote und schwarze), Physalis, Paprika und ein Regenbogen-Chili, welcher seit drei Jahren wächst und gedeiht und die GOASE mit gelben, roten, orange- und lilafarbenen Chilischoten versorgt.

Der Garten dient der GOASE als Zentrum für ihre Arbeit an der Begegnung

Hier finden in den warmen Monaten regelmäßig und in Abstimmung mit der umliegenden Nachbarschaft Kinderfeste, Grillabende, Lesungen und Konzerte statt. Der Besucher einer Veranstaltung sagte hinterher zu mir: „Mich hat sofort diese Lebendigkeit fasziniert, die die Bewohner auf alles übertragen, was sie berühren und die auch den Gästen zum Geschenk wird. Projekte wie die Richterstraße gibt es leider immer weniger in unserer Stadt. Die Richterstraße ist für mich nun eine Insel, zu der es mich immer wieder zieht.“

Zum Tag der Nachbarn im Mai dieses Jahres hat die Künstlerin Gwen Kyrg eine Gartenklang-Installation errichtet, mit der das Publikum eingeladen war, einen durch Live-Musik begleiteten Spaziergang durch die Tiefen des GOASE-Gartens zu unternehmen und das Wechselspiel zwischen Natur und Kultur über das Gehör wahrzunehmen. So heterogen wie die Wohnstruktur des Hauses ist, so unterschiedlich ist auch das Publikum, das hier zusammenkommt. Und dies selbst zu Leseabenden, von denen man ja im Allgemeinen annimmt, dass sie mittlerweile nur noch die sogenannten Intellektuellen anzögen. Hier ist das anders.

Theaterleute sitzen neben Maurern, zugezogene Studentinnen neben Rentnerinnen, die seit 50 Jahren in der Richterstraße leben und, was das eigentlich Bemerkenswerte ist: Man tauscht sich aus; man kommt miteinander ins Gespräch. Es gelingt den Leuten hier, gegenseitige Berührungsängste abzubauen, sodass die Kultur des Dialogs, die anderswo krankt, sich an diesem Ort wieder erholt.

Ausblick

Diese positive Dynamik möchte die GOASE festigen und weiterentwickeln. Der Verein träumt davon, dass so gemeinsame Unternehmungen, das Prinzip des Teilens und der gegenseitige Hilfe zum Selbstverständnis der Menschen, die hier leben, gehören wird. Ein Raum, in der dies auch in der kalten Jahreszeit praktiziert werden kann, wäre dafür genau das Richtige.

Mehr Infos zur GOASE gibt es unter dem Link

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