Viele, viele Redakteure haben die Ergebnisse der Europa-Wahl in den letzten zwei Tagen kommentiert. Viele im alten (und daher ziemlich falschen) Links-Rechts-Geklapper. Manche auch etwas klüger, weil sie – wie etwa „Zeit“-Korrespondent Ulrich Ladurner – auch direkt aus Brüssel berichten. Aber selbst an Nebensätzen merkt man, wie sehr die alten Schemata im Kopf feststecken. Dabei weiß Ladurner, wo die eigentlichen Probleme liegen.

„Die Wahlergebnisse haben freilich gezeigt, dass es in der EU eine tiefe Spaltung gibt“, schrieb er gleich am Montagmorgen in seinem Kommentar „Europa muss jetzt endlich zeigen, was es kann“. Und weiter: „Das lässt sich ablesen an dem Ergebnis der Rechtspopulisten. In zwei großen Staaten der EU sind sie jeweils stärkste Kraft geworden. In Frankreich erreicht der Rassemblement National von Marine Le Pen 23,5 Prozent, Matteo Salvinis Lega kommt in Italien auf 33,6 Prozent. Wenn in diesen beiden Gründungsstaaten der Union so viele Menschen die Rechtspopulisten wählen, dann ist das ein Zeichen, dass sie sich von der Europäischen Union verabschiedet haben.“

Das Problem geht mit der Überschrift los. Welches Europa meint er da? An wen appelliert er? An das Europäische Parlament, das wir am Sonntag alle neu gewählt haben und von dem wir alle wissen, dass es in Europa keine Entscheidungen trifft, weil es kein vollwertiges Parlament mit echten legislativen Rechten ist?

Wen dann?

Wo das Problem liegt, merkt jeder, der einmal auf Wikipedia nach dem eigentlich entscheidenden Gremium sucht, das in der EU den Kurs angibt. Hat man das Wort „Europäisch…“ ins Suchfeld eingegeben, erscheinen sofort: Europäische Union, Europäisches Parlament, Europäische Zentralbank und Europäische Kommission. Manche sind da schon zufrieden, weil sie das Gefühl haben, die Europäische Kommission könnte es sein, weil hier ja tatsächlich die Kommissare unterwegs sind, die in etlichen europäischen Wirtschaftspolitikbereichen Nägel mit Köpfen machen. Und der Kommissionspräsident – bislang ein gewisser Jean-Claude Juncker aus dem Steuerparadies Luxemburg – erscheint ja alle Nase lang als offizieller Vertreter der EU.

Wikipedia-Angebot zu "Europäisch...". Screenshot: L-IZ
Wikipedia-Angebot zu „Europäisch…“. Screenshot: L-IZ

Das müsste doch eigentlich das „Regierungsgremium“ der EU sein, oder nicht? Nein. Ist es nicht. Denn die eigentlichen Entscheidungen fallen im Europäischen Rat, dort, wo die Regierungen der EU-Mitgliedsländer beisammensitzen und auskungeln, was wirklich passieren soll oder darf. Wikipedia behauptet zwar, die EU-Kommission sei die Regierung. Aber das ist falsch.

Und das ahnen die Europäer zumindest. Ihr Misstrauen ist berechtigt. Und wer den Wikipedia-Eintrag zum Europäischen Rat aufruft, stolpert dort zu Recht über den Begriff „Europäischer Gipfel“ für das halbjährliche Treffen der Regierungschefs. „Im politischen System der EU nimmt der Europäische Rat eine besondere Rolle ein: Er ist nicht an der alltäglichen Rechtsetzung der EU beteiligt, sondern dient als übergeordnete Institution insbesondere dazu, bei wichtigen politischen Themen Kompromisse zwischen Mitgliedstaaten zu finden und grundsätzliche Impulse für die weitere Entwicklung der Union zu setzen“, umschreibt Wikipedia die seltsame Rolle dieses Rates. Aber was dieser Satz beschreibt, nennt sich im normalen politischen Geschäft nun einmal Richtlinienkompetenz. Die haben nun einmal nur Regierungschefs.

Der Präsident der EU-Kommission ist zwar auch Mitglied des Rates, hat aber kein Stimmrecht.

Ist das nicht schön? Zumindest erhellend. Denn es zeigt, wo die Entscheidungsgewalt wirklich liegt. Und da sich diese 28 Regierungschefs irgendwie einigen müssen, bekommt man in der Regel Ergebnisse wie in einer Großen Koalition – die Schwergewichte setzen sich und ihre Interessen durch.

An dieses Gremium also appelliert Ladurner. Ein Gremium, das wir als Europäer nur indirekt wählen können – bei den nationalen Wahlen.

Ich jedenfalls wundere mich nicht, dass eine Menge Europäer so eine Art Europa zu regieren nicht zum Aushalten finden und auch bezweifeln, dass diese „Regierung“ wirklich in der Lage ist, Europa als gemeinsames Projekt zu gestalten. Wie soll das gehen mit diesen Vertretern nationaler Egoismen?

Und der Blick in die europäischen Regionen zeigt, dass sie es auch nicht können. Wahrscheinlich auch nicht wollen und schon gar keine Vision dafür haben.

Deswegen habe ich meine Kopfschmerzen, wenn Ladurner dann so im Nebensatz schreibt: „In Frankreich erreicht der Rassemblement National von Marine Le Pen 23,5 Prozent, Matteo Salvinis Lega kommt in Italien auf 33,6 Prozent. Wenn in diesen beiden Gründungsstaaten der Union so viele Menschen die Rechtspopulisten wählen, dann ist das ein Zeichen, dass sie sich von der Europäischen Union verabschiedet haben.“

Als wären die Nationalisten Nicht-Europäer. Verlorene Kinder, die jetzt wieder eingesammelt werden müssen. Ladurner: „Die Union muss die Menschen, die sie an die Rechtspopulisten verloren hat, zurückgewinnen.“

Da sträubt sich alles. Wie soll denn das gehen? Ladurner macht ein paar Vorschläge, worum sich die EU jetzt endlich kümmern sollte. „Sie kann Steuergerechtigkeit ins Zentrum stellen, sie kann eine Wende in der Klimapolitik herbeiführen – ohne die Schwächsten dabei zu treffen. Und sie kann zeigen, dass sie Migration steuern kann, ohne inhuman zu werden.“

Ja, aber wer ist die EU, die er meint? Das Parlament kann es nicht sein, die Kommission ist es auch nicht. Es müsste dieser dubiose Rat sein, in dem aber bislang jeder Staatschef seine eigenen nationalen Interessen verteidigt. Deshalb konnte sich ja „die EU“ in der Flüchtlingsfrage nicht einigen. Wenn einer „Nein“ sagt, sind alle (gemeinsamen) Beschlüsse Makulatur. Dasselbe in der Steuerpolitik, wo Luxemburg und Irland auf ihrem Recht beharren, die anderen Länder in der Konzernbesteuerung einfach dumpen zu können. Und niemand kann sie daran hindern.

Die EU ist nicht erst zerstritten, seit die nationalistischen Parteien Aufwind haben. Die haben Aufwind, weil die EU in ihrem wichtigsten Führungszirkel seit Jahren zerstritten ist, da, wo nationale Regierungschefs alles tun, um ihre kleinen, popligen nationalen Vorteile gegen alle anderen zu behaupten. Und das von uns gewählte Parlament kann diesen zerstrittenen Haufen nicht einmal abwählen.

Bleibt also die Frage: An wen appelliert er da? Wer weiß die Antwort?

Die Reihe „Europa-Projekt“.

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Da beißt sich irgendwie die Katze in den Schwanz. Wenn die Europawahlen das halten sollen, was sie versprechen, nämlich dass die Bürger dadurch darüber bestimmen können, welche Politik in Europa gemacht werden soll, dann muss das so gewählte europäische Parlament a) die “europäische Regierung” wählen und b) die europäischen Gesetze beschließen. Dazu bedarf es ganz offensichtlich einer Reform der EU. Da aber darüber, ob solch eine Reform gemacht werden soll, der ominöse europäische Rat entscheidet, wo lauter Leute sitzen, die genau das nicht wollen, wird es nicht passieren. Es könnte nur passieren, wenn in ALLEN (wegen der erforderlichen Einstimmigkeit) EU-Staaten Regierungen an die Macht kämen, die eine solche Reform der EU wollen. Das wird nie passieren. Also steckt die EU in einer Sackgasse. Kein Ausweg in Sicht.

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