Abschiebungen sind brutal. Menschen werden gegen ihren Willen von einem Ort an einen anderen gebracht. Immer wieder gibt es heftigen Protest dagegen, etwa vor zwei Jahren in Nürnberg, wo eine Sitzblockade vor einer Berufsschule eskalierte. Nun gibt es einen ähnlichen Fall in Leipzig. An der Eisenbahnstraße wollten in der Nacht auf den 10. Juli mehrere hundert Personen eine Abschiebung verhindern. Am Ende kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Aktivisten. Ein Autor der L-IZ war vor Ort und schildert seine Eindrücke.

Es ist kurz vor 23 Uhr, als ich an diesem Dienstag, den 9. Juli, durch eine Kollegin von einer angeblichen Abschiebung in der Hildegardstraße erfahre. Wir befinden uns zufällig in der Nähe und beschließen, zum Ort des Geschehens zu gehen. Eine Viertelstunde später sind wir in der Seitenstraße der Eisenbahnstraße angekommen. Die Faktenlage ist zu diesem Zeitpunkt völlig unklar.

Vor dem Haus steht ein Krankenwagen, in dem sich eine von der Abschiebung bedrohte Frau befinden soll. Später erfahre ich, dass es sich um die Mutter der Person handelt, die abgeschoben werden soll. Einige Polizeiautos und ein paar dutzend interessierte beziehungsweise solidarische Personen sind auch vor Ort. Die Situation wirkt relativ entspannt.

Kurz darauf bricht Hektik aus. Ein Polizeiauto will sich Richtung Konradstraße entfernen. Kaum weniger als zehn Menschen stellen sich immer wieder in den Weg. Polizisten drängen sie von der Straße; wenige Meter später tauchen sie wieder dort auf. Dann setzen sich etwa fünf Aktivisten vor das Auto. Innerhalb weniger Sekunden wächst die Gruppe auf rund 20 Personen an. Hinter dem Polizeiauto nehmen ebenfalls einige Menschen Platz. Die Blockade der Abschiebung beginnt.

Es wirkt paradox: Der Aktivismus beruhigt die Situation zunächst wieder. Das Polizeiauto und einige Beamte stehen auf der schmalen Straße, etwa 30 bis 40 Menschen sitzen davor oder dahinter und auf den Gehwegen sammeln sich immer mehr Zuschauer. Dass die Polizei gegen die Sitzblockaden vorgeht, ist nicht zu erkennen. Abgesehen davon, dass ein 23-jähriger Mensch gerade mit Gewalt von seiner Familie getrennt werden soll, ist es friedlich.

Szenen der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 2019 an der Hildegard- und Eisenbahnstraße

Video: L-IZ.de

Mehrere hundert Menschen protestieren

Gegen 23 Uhr gibt es kurz hintereinander drei Durchsagen der Polizei. Die auf der Straße sitzenden Menschen sollen sich entfernen, anderenfalls drohe ihnen „unmittelbarer Zwang“. Die Aktivisten bewegen sich jedoch nicht von der Stelle. Eine Person möchte eine Spontanversammlung anmelden. Die Polizei geht sofort darauf ein, erlaubt diese jedoch nur auf dem Gehweg.

Während immer mehr Menschen dazukommen und verschiedene Parolen rufen, möchte ich Informationen sammeln. Doch mehr als Gerüchte und Spekulationen sind kaum zu bekommen. Die anwesenden Beamten verweisen mich an den Einsatzleiter, der sich jedoch pausenlos in Gesprächen befindet. Ein Pressesprecher ist nicht vor Ort.

Zwei Beamte bestätigen mir zumindest die grundlegenden Fakten: Im Auto befindet sich genau eine Person, die abgeschoben werden soll. Und die Abschiebung soll auf jeden Fall stattfinden. Wie die Polizei das durchsetzen möchte, erfahre ich nicht.

Die Lage bleibt weiter relativ ruhig; es ist nun nach Mitternacht. Mehrere hundert Personen sitzen und stehen um das Polizeiauto herum – offenbar eine Mischung aus Freunden, Aktivisten, Anwohnern und Politikern. Die Landtagsabgeordneten Juliane Nagel und Marco Böhme (beide Linke) sowie der künftige Stadtrat Jürgen Kasek (Grüne) erscheinen im Laufe der Nacht vor Ort.

Etwa 35 Menschen blockieren die Straße. Foto: L-IZ.de
Etwa 35 Menschen blockieren die Straße. Foto: L-IZ.de

Spontanversammlung und absurde Szenen

Die Polizei hat mittlerweile enge Ketten um die Sitzblockaden gezogen, sodass sich diesen niemand mehr anschließen kann. Da direkt hinter den Ketten weitere Aktivisten stehen, macht das jedoch keinen großen Unterschied. Der Umgang mit den Beamten ist unterschiedlich: Es gibt deutliche Unmutsäußerungen, aber auch sachliche Gespräche. Polizisten fordern Aktivisten immer wieder auf, die Autos der Anwohner nicht zu berühren.

Rund um die Blockade spielen sich derweil Szenen ab, die ähnlich absurd wirken wie manches, was ich während der Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg erlebt habe. Mehrere Menschen „diskutieren“ aufgeregt darüber, ob der 1. FC Lok oder Rasenballsport der bessere Verein ist, andere posieren Parolen rufend vor der Kamera. Mehrere Sofas und andere Möbel stehen plötzlich auf der Hildegardstraße.

Ein leeres Auto

Die Spontanversammlung auf dem Gehweg hat nun begonnen. Sie erlaubt den Menschen, sich von einer Seite der Blockade auf die andere zu bewegen. Ansonsten bewegt sich nicht viel. Die Taktik der Polizei ist vielen unklar. Personen, die mit Versammlungen dieser Art schon viele Erfahrungen gesammelt haben, spekulieren, dass die Polizei auf Zeit spielen und erst dann räumen möchte, wenn die Menge geschrumpft ist. Doch so weit wird es nicht kommen.

Kurz nach 1 Uhr überschlagen sich die Ereignisse. Zwischen Polizisten und Aktivisten kommt es zu kleinen Rangeleien; kurz darauf bewegen sich etwa zehn Beamte in hohem Tempo Richtung Eisenbahnstraße. Gleichzeitig schließt sich dort die Polizeikette und die Beamten drängen die anwesenden Menschen näher an die Sitzblockade hinter dem Auto heran. Was im ersten Moment wie ein Kessel wirkt, ist keiner, denn der Weg zur Konradstraße ist frei.

Warum die Polizei so agiert hat, weiß zunächst niemand. Dann macht das Gerücht die Runde, dass sich der 23-jährige Syrer, der abgeschoben werden soll, gar nicht mehr im Auto befindet. Polizisten bestätigen mir dies auf Nachfrage. Er wurde weggebracht.

Die anwesenden Aktivisten erfahren es per Lautsprecherdurchsage. Viele von ihnen trauen und glauben der Polizei jedoch nicht. Gemeinsam mit einer Kollegin möchte ich die Beamten bitten, uns das Innere des Autos zu zeigen. Als wir dort ankommen, sind die Türen bereits geöffnet. Das Auto ist leer.

Weitere Szenen aus der Nacht (Video Marco Böhme, Landtagsabgeordneter Die Linke)

Rangeleien, Flaschenwürfe und Pfefferspray

Eigentlich hätte diese Erkenntnis das Ende eines langen Abends bedeuten können. Doch irgendwann zwischen 1:30 Uhr und 2 Uhr nachts eskaliert es. Was genau der Auslöser ist, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Polizisten fordern die Aktivisten immer wieder mit harschen Tönen dazu auf, nach Hause zu gehen; diese wiederum verhalten sich teilweise ebenfalls aggressiv. Die Versammlung auf dem Gehweg ist bereits beendet.

Dann kommt es zu Handgreiflichkeiten. Gegenstände, darunter Plastik- und Glasflaschen, fliegen in die Menge. Ob sie Personen treffen – Polizisten oder Aktivisten – ist nicht zu erkennen. Die Beamten drängen die Protestierenden Richtung Eisenbahnstraße und schubsen sie dabei gegen die parkenden Autos, die einige Stunden zuvor nicht berührt werden durften.

Mehrmals setzen die Polizisten dabei Pfefferspray ein. Einige Personen reiben sich die Augen, schreien vor Schmerzen und rufen nach Wasser. Ein Mensch liegt regungslos auf dem Gehweg. Die Stimmung schwankt zwischen Wut und Angst.

Jagdszenen an der Eisenbahnstraße

An der Kreuzung Eisenbahnstraße und Hildegardstraße schlägt ein an mir vorbei rennender Polizist gegen meinen Arm. Das Handy, mit dem ich das Geschehen filme, kracht zu Boden. Es hat zahlreiche Kratzer, funktioniert aber noch. Ich rufe ihm „Arschloch“ hinterher. Andere Journalisten berichten ebenfalls von rücksichtslosem Verhalten gegenüber der Presse.

Mittlerweile kommt es zu regelrechten Jagdszenen. Immer wieder rennen Polizisten von der Kreuzung aus in verschiedene Richtungen, um die Menge auseinanderzutreiben. Aus dieser wiederum fliegen Flaschen. Das Innenministerium spricht am Tag darauf von elf leicht verletzten Beamten. Auf Seiten der Aktivisten dürften es deutlich mehr sein. Ich sehe unter anderem eine junge Frau, die am Kopf blutet.

Kurz vor 3 Uhr ist es ruhig geworden. Einige Menschen stehen noch in kleinen Gruppen zusammen. Die Polizei bewacht nun vor allem ihre Außenstelle in der Eisenbahnstraße. Gelegentlich sind Autos zu sehen, die Streife fahren. Einige Stunden später befindet sich der Syrer in einem Flugzeug nach Spanien, wo er zuvor nach Auskunft der Landesdirektion Sachsen erfolgreich (!) einen Asylantrag gestellt hatte.

Was den gesamten Polizeieinsatz zu einer Europäischen Farce werden lässt, denn mit diesem erfolgreichen Asylantrag dürfte der junge Mann demnächst die Freizügigkeit Europas in Anspruch nehmen können. Eventuellen Residenzregelungen Spaniens stünde seine familiäre Anbindung in Leipzig gegenüber, eine Rückkehr scheint also wahrscheinlich.

Wie auch immer diese Geschichte endet: Die Brutalität von Abschiebungen ist nun auch in Leipzig mit voller Wucht in der Stadtgesellschaft angekommen.

Zusatz: Für heute Abend, 10. Juli 2019, gibt es einen Demonstrationsaufruf ab 18:45 Uhr an der Hildegardstraße, Ecke Eisenbahnstraße.

Video – Blockade im Leipziger Osten: Gegen Abschiebungen + Updates

Video – Blockade im Leipziger Osten: Gegen Abschiebungen + Updates

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