Hat sich ein junger, alleinerziehender Vater an den Krawallen während einer Abschiebung auf der Hildegardstraße im Juli 2019 beteiligt? Das Amtsgericht war davon nicht restlos überzeugt und sprach den Angeklagten weitgehend frei. Weil die Staatsanwaltschaft in Berufung ging, muss sich der 27-Jährige nun vor dem Landgericht verantworten. Dort erhitzte am zweiten Verhandlungstag der Zeugenauftritt eines Polizisten die Gemüter.

„Wer soll Ihnen das glauben?“

„Wer soll Ihnen das glauben?“ – die rhetorische Frage des als streitbar bekannten Leipziger Anwalts Curt-Matthias Engel am Donnerstag vor dem Landgericht richtete sich direkt gegen einen Polizeibeamten. Engel hat auch im Berufungsprozess die Verteidigung von Aymen B. (27) übernommen, der während der eskalierten Proteste gegen die Abschiebung eines jungen Syrers auf der Hildegardstraße in der Nacht auf den 10. Juli 2019 mehrfach Steine und Flaschen auf Einsatzkräfte geworfen haben soll.

Der Angeklagte selbst schweigt dazu, hatte jedoch mitteilen lassen, er sehe sich als unschuldig. Nach seiner Festnahme hatte der junge Vater sieben Monate in Untersuchungshaft gesessen, kam erst im Februar 2020 wieder frei und wurde kurz darauf durch das Amtsgericht vom Vorwurf des Landfriedensbruchs freigesprochen, ein Mitangeklagter dagegen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Übrig blieb für Aymen B. eine Geldstrafe von 300 Euro, denn er soll im Polizeigewahrsam einen Beamten zweimal beleidigt haben. Da die Staatsanwaltschaft in Berufung ging, wird der brisante Fall seit 14. Januar vor dem Landgericht neu aufgerollt.

Getarnter Polizisten-Auftritt im Gerichtssaal

Der Freispruch gründete nicht zuletzt auf Zweifeln an Aymen B.s Täterschaft, da der einzige Belastungszeuge, ein ziviler Tatbeobachter von der Polizei, wesentliche Details zum Tathergang nicht preisgab – unter Verweis auf eine begrenzte Aussagegenehmigung seiner Vorgesetzten. An diesem Szenario änderte sich auch am Donnerstag nichts.

Der Beamte M. (35) erschien vor Gericht erneut mit Perücke und falscher Brille. Dem Schöffengericht unter Vorsitz von Karen Aust legte er ein Schriftstück vom Oktober 2020 vor, wonach „maskenbildnerische Maßnahmen“ zur Veränderung seines Aussehens umgesetzt worden waren, um persönliche Nachteile durch eine Enttarnung zu vermeiden.

Zudem sei sonst die zukünftige Verfolgung von Straftätern gefährdet.

Auch seien M. vor Gericht keinerlei Aussagen zu Struktur und Abläufen seiner Einheit, zur Einsatztaktik und technischen Ausstattung erlaubt. Ebenso wenig dürfe er zur Anzahl, dem Alter und Geschlecht von Zivilbeamten Auskunft geben, die am fraglichen Abend vor Ort waren.

Polizeizeuge mauert bei Detailfragen

M. bestätigte in seiner Zeugenaussage, das Geschehen ab etwa 22 Uhr verfolgt zu haben, er sei „bürgerlich gekleidet“ gewesen. Generell habe er den Auftrag, „Straftaten zu beobachten und die Personen, wenn möglich, einem Zugriff zuzuführen.“ Den Verdächtigen Aymen B. habe er dabei von Beginn an im Blick gehabt und mehrere „Wurfhandlungen“ wahrgenommen.

„Ich habe ihn bei der ersten Tat beobachtet und mich auf ihn fixiert. Während der Tatausführung wirkte er vollkommen ruhig auf mich“, so der Beamte. Als der Verdächtige weglief, habe er sich an seine Fersen geheftet und sei ihm zunächst stadtauswärts gefolgt, ehe er kurz darauf an der Herrmann-Liebmann-Straße von Kollegen gestellt worden sei.

Auf bohrende Detailfragen von Strafverteidiger Engel mauerte der Gesetzeshüter. So weigerte er sich, auf einer Karte seinen exakten Standort während der Geschehnisse zu markieren, auch zu einem möglichen Funkkontakt mit Kollegen und der Distanz, aus der er den Angeklagten gesehen haben will, gab der 35-Jährige keine Antwort: „Das widerspricht meiner Aussagegenehmigung.“ Aymen B. sei aber in seinem „Wahrnehmungsbereich“ gewesen.

Verteidiger: „Extreme Belastungstendenz“

Folglich bescheinigte Rechtsanwalt Engel dem Zeugen eine „extreme Belastungstendenz“ und stellte mehrfach den Antrag, seine Einlassung wörtlich zu protokollieren, da der Verdacht einer strafbaren Falschaussage im Raum stünde. Damit holte sich der Verteidiger beim Gericht ein ums andere Mal eine Abfuhr: Es käme auf den genauen Wortlaut nicht an, konterte die Vorsitzende Karen Aust.

Lautstarker Streit entbrannte dazu um „tendenziöse Fragen“, die Engel sowohl dem Gericht als auch Staatsanwältin Sandra Daute vorwarf. Die Vorsitzende zog ihre Frage an den Zeugen, ob er den Angeklagten wiedererkenne, nach einer Beanstandung des Anwalts zurück.

Zeugen abbestellt – Termine bis April

Dieser wies auf diverse Widersprüche in der Aussage des Zivilpolizisten hin. Am Amtsgericht habe er Details zum Tatablauf und zum Standort der Polizeifahrzeuge noch anders wiedergegeben, echauffierte sich Engel.

Dazu beharrte der polizeiliche Zeuge am Donnerstag auch auf seiner Beobachtung, wonach eine Frau vor Ort durch ein Wurfgeschoss getroffen worden sei. Diese Person konnte jedoch nie identifiziert werden. Aus Sicht der Verteidigung ist klar: Die Erforschung der Wahrheit werde durch das Schweigen von Polizeiseite konterkariert. Auch uniformierte Ordnungshüter hatten schon in erster Instanz mehrfach auf die Grenzen ihrer Aussagegenehmigung hingewiesen.

Wegen der langen Vernehmung wurden drei weitere Polizeizeugen kurzerhand weggeschickt und auf den übernächsten Verhandlungstermin Anfang März umgeladen. Der Prozess wird voraussichtlich am 25. Februar fortgeführt, derzeit sind Termine bis 14. April angesetzt.

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