Es gibt tatsächlich diese seltsamen Begegnungen, nicht nur bei diesen Hygiene-Demos, selbst in der Straßenbahn, wo eine doch schon etwas ältere, gartengebräunte und sehr von sich überzeugte Frau laut zu ihren beiden Schützlingen sagt: „Dass wir jetzt alle gechipt werden, ist jetzt offiziell. Das ist jetzt nämlich rausgekommen. Als Merkel kürzlich in China war ...“ Ja, was macht man da? Schreit man da vor Entsetzen? Oder guckt man lieber nach, ob man sein Handtuch dabei hat, um so schnell wie möglich wegzukommen, weil dieser Planet nicht mehr zu retten ist?

Na gut, der war jetzt für Douglas-Adams-Freunde. Soll’s auch in Leipzig geben. Aber wahrscheinlich deutlich weniger als Leute, die nicht mal wissen, woher ihre sensationellen Nachrichten alle so kommen. Möglicherweise ja aus einer TV-Serie namens „The Blacklist“, wie Mely Kiyak in ihrer „Zeit“-Kolumne erstaunt feststellt: „Verschwörungstheorien: Ah, hier kommt das her!

„Die Geschichten der Straße ähneln den Geschichten dieser Fiktion so derart frappierend, dass man sich zwangsläufig fragt: Findet die Angst der echten Bevölkerung den Weg in die Fiktion oder umgekehrt?“, schreibt sie da.

„Unweigerlich kommt man auf den Gedanken, dass es nicht die Kens, Kims oder Kums sind, die sich aus in hintersten Winkeln versteckten Geheimdossiers komplizierte Verschwörungen zusammenbasteln (dazu sind sie bei allem Respekt nicht gescheit genug), sondern dass sie und ihre Anhänger wie Rezipienten einer in der öffentlichen Auseinandersetzung unbeleuchteten Film- und Fernsehkultur klingen.“

Könnte sein. Es würde aber auch davon erzählen, dass eine ziemliche Menge Leute nicht mehr unterscheiden können zwischen seriösen (und nachprüfbaren) Nachrichten auf der einen Seite und TV-Serien, UFO-Blogs und anderen Formaten auf der anderen, mit denen lauter Unfug in die Welt gebracht wird, der aus nichts besteht als Vermutung, Erfindung und breitbrüstiger Selbstüberzeugtheit. Viele Leute lassen sich ganz sichtlich von jedem Selbstdarsteller beeindrucken, wenn der nur mit voller Überzeugung sagt, dass es so ist. Weil er ganz allein ganz besondere Quellen hat, aus denen er das weiß. Ganz geheime. Er ist ja ein ganz besonderer Superagent.

Aber Mely Kiyak hat ja auch eine Studie die Friedrich-Ebert-Stiftung verlinkt, die für 2018/2019 belegt, dass ziemlich viele Deutsche nicht nur mit diversem rechtsextremem Gedankengut schwanger gehen, sondern gleichzeitig auch an Verschwörungen glauben. Das deckt sich oft. Vielleicht ist das eine sogar die Grundbedingung des anderen.

Es gehört ja ganz augenscheinlich eine gehörige Portion Irrationalität dazu, um am Ende lauter geheime Verschwörungen zu vermuten. Mit gleitenden Übergängen, die aber augenscheinlich schon früh in dieses seltsame Überlegenheitsdenken abgleiten, das nicht nur diverse Demo-Redner an den Tag legen, sondern auch etliche Kollegen von Medien, die wir hier auf jeden Fall nicht zu den seriösen zählen würden, auch wenn andere seit ein paar Jahren so tun, als sei die BILD-Zeitung ein seriöses Medium. Denn die Kampagne, die dort in den letzten Tagen gegen Christian Drosten gefahren wurde, ist eigentlich eine normale Arbeitsmethode in deutschen Boulevard-Blättern.

Wobei es da nicht nur um die berühmten Nachrichten „aus dem Bauch“ geht, sondern auch darum, dass diese Blätter auch immer ihre Verachtung gegen Wissenschaft und Rationalität gepflegt haben. Ihren Lesern also das Gefühl gegeben haben, dass man nicht rational denken muss, um die Welt zu verstehen. Dass ein paar Krümel Information reichen und man kann daraus eine ganze Story machen. Motto: „NUR WIR haben die Story!“ Auch wenn der eigentliche Stoff nur eine winzige Information ist, die man mit viel Phantasie und Vermutung aufgeblasen hat, bis es aussah wie eine riesige Recherchearbeit.

Superagenten eben.

Und es gibt augenscheinlich eine Menge Leute, die so etwas für bare Münze nehmen.

Was natürlich – wenn die Zahlen der Friedrich-Ebert-Stiftung so hinhauen – eine seltsame Gesellschaft ergibt, in der der so gern gehätschelte Wähler in vielen Fällen gar nicht in der Lage ist, rationale Wahlentscheidungen zu treffen. Kein Wunder, dass so auch völlig irrationale Parteien in die Parlamente einziehen.

Und Vernunft und faktenorientierte Entscheidungen ziemlich selten sind. Denn die paar Politiker/-innen, die rational denken, müssen ja ständig nicht nur den Kompromiss mit einer Menge halb- und ganz irrationaler Kollegen finden, sondern auch mit eigenen Parteianhängern und mit Wähler/-innen, die selbst wieder irrationale Erwartungen haben.

Nicht auszudenken – oder eben doch. Es erklärt eine Menge von dem, was wir derzeit erleben. Und wie irre es eigentlich ist, macht dieses hochemotionale Stück von Carolin Kebekus und Mai Thi Nguyen-Kim deutlich.

Wissenschaftler haben auch Gefühle | Die Carolin Kebekus Show

Vielleicht lacht man aber nur Tränen, wenn man so denkt wie Mai Thi Nguyen-Kim? Eine Frage, die mich eh schon die ganze Zeit umtreibt. Denn augenscheinlich haben andere Leute in der Schule etwas völlig anderes gelernt als ich, waren vielleicht sogar in einer völlig anderen Schule in einer völlig anderen Welt. Was sicher mancher so empfindet: Die meisten rauschen durch ihr Schulleben und haben hinterher nicht mal begriffen, dass sie gar nichts wissen, dass sie nicht einmal das Denkwerkzeug mitbekommen haben, um Wissen von Fake zu unterscheiden.

Was weniger mit Medienkompetenz zu tun hat als mit etwas, das Richard David Precht in einem sehr vergnüglichen Vortrag 2016 den Unterschied zwischen Wissen und Bildung nannte. Wobei er ja auch auf unser scheinbar unreformierbares Schulsystem einging, das eben keine Talente fördert und mit Bildung auch nichts zu tun hat, weil es ja keine gebildeten selbstbewussten Talente hervorbringen soll, sondern funktionsgerecht einsetzbare Staatsbürger.

PARADOX 16 — Richard David Precht: „Bildung versus Wissen“

Die Tragik dabei ist ja nicht nur, dass so die meisten Kinder überhaupt nicht entdecken, was sie alles können, welche Begabungen in ihnen schlummern und wie faszinierend die Beherrschung des (eigenen) Denkens ist. Sie gehen mit dem falschen Gefühl ins Leben zu wissen, was Wissen ist.

Selbst wenn sie weder etwas wirklich wissen, noch wissen, wie sie es sich erwerben können und wie sie es erkennen. Wissen aber eignet man sich nicht mühelos an, auch wenn so ziemlich alle Kinder als hochbegabte kleine Wesen in dieses Leben kommen, die nichts so perfekt beherrschen wie das Lernen.

Es wird ihnen aber spätestens in der Schule abtrainiert. Und die meisten zweifeln nicht einmal daran, dass sie alles wissen und sogar besser wissen als diese ganzen Wissenschaftler. Es ist ja nicht erst seit Corona so, dass selbst Leute in Amt und Funktion gegen „die Wissenschaft“ wettern. Das war ja vorher mit der Klimakrise, dem Rauchen, Glyphosat und anderen Segnungen unserer Zeit genauso.

Was ja eben auch heißt: Menschen, die eben nicht – nach Kant – gelernt haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, um aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit herauszukommen, sind verführbar, fallen auf jedes Gerücht, jede Mutmaßung, jeden Mythos herein, wenn er ihnen nur ernsthaft genug angetragen wird. Wenn dann noch das Misstrauen in klassische Medien (zu denen ich die BILD ganz bestimmt nicht zähle) und die Wissenschaft geschürt wird, dann wird es ganz heikel. Dann werden Bürger nämlich manipulierbar.

Und glauben trotzdem, dass sie alles wissen, dass nur die andern immer zweifeln und sich streiten und eigentlich gar nichts wissen, weil ja richtiges Wissen nur mit felsenfester Überzeugung einhergeht.

Was nicht stimmt. Aber das weiß man ja eigentlich nur, wenn man weiß, dass man nichts weiß, um mal auf Cicero und Sokrates zu kommen. Sokrates ist ja berühmt durch seinen fragenden Zweifel, seine verdammte Sicherheit, dass eine Sache nie zu Ende gefragt sein kann. Dass man sich „absolutem“ Wissen nur mit Beharrlichkeit annähern kann und am Ende wahrscheinlich viel mehr weiß über die Sache als alle, die nur zu wissen glauben.

Weshalb Wissenschaftler/-innen immer den Zweifel lassen, immer den Funken Unsicherheit, der nicht geklärt werden konnte. Dass ausgerechnet die Ich-weiß-was-Wisser dann so selbstbewusst auftreten, hat natürlich auch Wissenschaftler irritiert. Auch weil es eigentlich zum Schreien ist. Denn mit diesen Leuten kann man ja nicht mal diskutieren.

Sie zweifeln ja nicht mal an ihrem vermeintlichen Wissen, selbst wenn es durch keinerlei Faktenbasis getrübt ist. Warum diese Leute mit so einer Überzeugung glauben, alles besser zu wissen als andere, haben David Dunning und Justin Kruger 1999 untersucht. Seitdem hat der Dunning-Kruger-Effekt seinen Namen.

In Kurzform zeigt das untenstehende Video, worum es da geht. Und warum augenscheinlich die „social media“ dafür sorgen, dass sich die Ahnungslosen gegenseitig bestärken in ihrer Ahnungslosigkeit und mit derart viel unberechtigter Verachtung auf Wissenschaftler herabschauen. Nicht einmal ahnend, wie wichtig der Zweifel ist und warum Menschen, die sich wirklich in ein Thema eingearbeitet haben, auch noch an sich selbst zweifeln. Und nie im Leben mit der Verve eines Donald T. auftrumpfen würden und anderen Leuten empfehlen würden, sich Desinfektionsmittel zu spritzen.

Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit | Der Dunning-Kruger-Effekt

Und nicht nur Wissenschaftler/-innen verzweifeln, wenn sie sehen, mit welcher Überzeugung die Ahnungslosen die Diskussion an sich reißen und die ganze Gesellschaft dazu bringen, über ihren Unfug ernsthaft zu diskutieren. Was ja nicht nur Verschwendung von wertvoller Lebenszeit ist, sondern auch von Aufmerksamkeit.

Denn die Aufmerksamkeit, die wir dem Unfug widmen, fehlt für die wirklich wichtigen Debatten. Für all die Dinge, die wir jetzt wirklich klären müssten. Denn die Zeit läuft. Und bei einigen Themen läuft sie uns davon.

Kein Wunder, dass sich auch der Musiker und Bernd-das-Brot-Erfinder Tommy Krappweis darüber seine Gedanken gemacht und sie in ein ziemlich drängendes Lied gepackt hat.

Dunning Kruger Blues – Corona Edition 2020

Die ganze Serie „Nachdenken über ..“

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Der Artikel suggeriert, dass es eine einzige Art von Wissenschaftlern gibt. Solche hier: “Weshalb Wissenschaftler/-innen immer den Zweifel lassen, immer den Funken Unsicherheit, der nicht geklärt werden konnte.”
Das deckt sich nicht mit meiner Erfahrung. Ich habe während meines (sehr intensiven und bereichernden) Studiums nur sehr wenige ProfessorInnen kennengelernt, die Raum für Zweifel gelassen haben. Und nur einen, dem es scheinbar in Fleisch und Blut (oder wohin auch immer) übergegangen ist, dazu zu ermutigen, die Grenzen und Gefahren des Wissbaren (hier im Bereich Gesundheit und Biographie) auszuloten.

Und wenn man sich “Prof. Dr. Patzelt” vorstellt, hat man glaube ich, den Gegenpol dazu und eine ganz andere Art von Wissenschaft.

Ach und dann fällt mir noch Lewins Aktionsforschung (https://de.wikipedia.org/wiki/Aktionsforschung) ein, die vielleicht noch etwas ganz Anderes als “Wissen generieren” und “Zweifel zulassen” wollte.

Um das jetzt nicht rüberkommen zu lassen, als würde ich hier für eine Unterscheidung in “gute” vs. “böse” WissenschaftlerInnen plädieren, kürz ich mal ab und werfe ein panta rhei, oder wie das Ding heißt, in den Ring.

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