Thomas Kemmerich sieht es immer noch nicht als Fehler an, die Wahl zum thüringischen Ministerpräsidenten mithilfe der AfD angenommen zu haben. Die Bundesspitze der FDP reagiert sofort und kündigt an, ihn nicht im möglichen Wahlkampf 2021 unterstützen zu wollen. In Leipzig gab es am Abend gleich zwei wichtige Ereignisse. Eine Demo unter dem Motto „Gemeint sind einige, betroffen sind wir alle – Erinnern heißt handeln“ erinnerte an den Anschlag von Halle und ein „Mini-Lichtfest“ fand nach der Rede zur Demokratie auf dem Nikolaikirchhof statt. Die L-IZ fasst zusammen, was am Freitag, den 9. Oktober 2020, in Leipzig und darüber hinaus wichtig war.

Thomas Kemmerich hatte Anfang des Jahres – kurz vor Beginn der Coronakrise – etwas Bemerkenswertes geschafft: einen massiven Proteststurm, der Linke und Christdemokraten vereinte. Kemmerich hatte sich mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen lassen und – das war der eigentliche Skandal – diese Wahl anschließend angenommen. Wenig später trat er von diesem Amt zurück.

Dass dies der Einsicht in einen großen Fehler geschuldet gewesen sein könnte, konnte man hoffen. Aber so war es nicht. Auf Twitter schrieb Kemmerich gestern, dass nicht die Annahme der Wahl der Fehler gewesen sei, sondern „der Umgang der anderen demokratischen Parteien mit der Situation“.

Während die Bundesspitze der FDP im Februar eine Weile mit dem richtigen Umgang mit der damaligen Situation haderte, traf sie diesmal sehr schnell eine drastische Entscheidung. Das Präsidium distanzierte sich heute Mittag „geschlossen“ von den Äußerungen. Das sei das Ergebnis einer Telefonschalte gewesen. „Die Annahme der Wahl war ein schwerer politischer und persönlicher Fehler“, heißt es in einer Erklärung.

Keine Wahlkampf-Unterstützung für Kemmerich

Was für Kemmerich möglicherweise noch schlimmer ist als diese Distanzierung: Der Bundesverband möchte ihn weder finanziell noch organisatorisch unterstützten, falls er bei der kommenden Landtagswahl in Thüringen als Spitzenkandidat für die FDP antreten wird. Die Jugendorganisation der FDP – die Jungen Liberalen – gaben dieser Erklärung kurz darauf ihre „volle Zustimmung“.

Die nächste Wahl soll am 25. April in Thüringen stattfinden. Eigentlich. Wegen der Coronakrise ist auch eine Verschiebung in den Herbst denkbar. In Wahlumfragen landet die FDP seit Monaten fast durchweg unter der Fünf-Prozent-Hürde. Sollte die Thüringer FDP einen Kandidaten ins Rennen schicken, der ohne Unterstützung durch den Bundesverband in den Wahlkampf gehen müsste, könnte das das Schicksal der Liberalen als außerparlamentarische Opposition besiegeln.

Impressionen vom Lichtfest 2020 auf dem Nikolaikirchhof

Video: L-IZ.de

Erinnern x 2: Halle und Leipzig 1989, 30 Jahre danach

Das Lichtfest 2020 in klein. Foto: L-IZ.de
Das Lichtfest 2020 in klein. Foto: L-IZ.de

Seit dem Jahr 2019 hat das Lichtfest-Gedenken an den 9. Oktober 1989 eine Art Schatten aus 30 Jahren danach bekommen. Während sich in diesem Jahr zum 31. Jubiläum coronabedingt nur wenige um den Nikolaikirchhof sammelten, das Friedensgebet besuchten und der diesjährigen (hervorragenden) Rede von Basil Kerski, Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig, zuhörten, bewegten sich etwa 600 Menschen unter dem Motto „Gemeint sind einige, betroffen sind wir alle – Erinnern heißt handeln“ durch die Leipziger Innenstadt.

An der Spitze des Zuges jene Frau, die 89 gemeinsam mit anderen „ein freies Land mit freien Menschen“ gefordert hatte, Bürgerrechtlerin Gesine Oltmanns (heute Stiftung friedliche Revolution).

Während „draußen“ gegen den neuen und alten Antisemitismus und Rassismus in Gedanken an den Amoklauf von Halle vor einem Jahr demonstriert wurde, schürfte „drinnen“ in der Kirche Kerskis Rede tief und förderte Gedanken zutage, die manche der heutigen Probleme fassbarer machten. Indem er das Jahr 1989 in einen von den Auswirkungen her ähnlichen Bezugsrahmen mit der französischen Revolution stellte, machte er die Dimension der Neuheit der vergangenen 30 Jahre, ihre Chancen und Lasten klar.

So sei nach der 1945 nur westeuropäisch begonnenen Gründung Europas das Jahr 89 der Drehpunkt hin zur zweiten, wirklichen Neugründung Europas, eine neue Epoche also mit ganz neuen Herausforderungen.

Re-Nationalisierung, „Stress“ und ein enormer Entwicklungsdruck seien einige davon, so Kerski (hier zum Script seiner Rede zur Demokratie 2020 in der Nikolaikirche, PDF). Auch wenn er dabei immer wieder nach Polen schaute, konnte man vieles auf Deutschland (Ost) übertragen. Hier wie da ist längst eine ähnliche Auseinandersetzung zwischen nationalistischen und weltoffenen Positionen vor allem in den urbanen Ballungszentren zu erleben.

Ein Tag also, der heute gleich beide geschichtliche Klammern vereinte: das Erinnern an 1945, 1989 und an den 9. Oktober 2019, 30 Jahre nach der friedlichen Revolution, als ein Täter versuchte in eine jüdische Synagoge einzudringen und im weiteren Verlauf seiner Amokfahrt zwei Menschen tötete.

Was Gemeinschaft und Zusammenhalt befördert, daran möchte das Lichtfest erinnern. Was sie zerstört, wurde auf der Demonstration des „Initiativkreis 9. November“ unter anderem an der Gedenkstätte der ehemaligen Synagoge in der Gottschedstraße benannt.

Leere Häuser und Klimaschutz

Worüber die L-IZ heute berichtet hat: über den massenhaften Verfall von Häusern in Leipzig, den wir ab sofort – hoffentlich mit Unterstützung der Leser/-innen – dokumentarisch begleiten, über die Antworten auf eine Anfrage der AfD zu einer Klimaschutz-Guerillaaktion in Leipzig und über das EU-Parlament, das Druck beim Klimaschutz macht.

Was heute außerdem wichtig war: Der rechtsradikale Anschlag mit zwei Todesopfern in Halle jährt sich zum ersten Mal. Unter anderem in Leipzig fand am Nachmittag eine Gedenkdemonstration statt. In Halle sorgte ein zwischenzeitliches Verbot, an den Tatorten Blumen abzulegen, für Ärger. Das Verbot wurde damit begründet, dass später Bundespräsident Steinmeier vor Ort sein sollte und Hunde an den Orten nicht noch einmal nach möglichen Sprengstoffen suchen sollten.

Was am Wochenende passieren wird: Am Samstag rufen die „Querdenker“ in Berlin zu einem „Schweigemarsch“ auf. Für den Fall, dass die Polizei sie erneut nicht laufen lässt, haben sie bereits angekündigt, notfalls mit Gewalt vorzugehen. Am Sonntag folgt in Leipzig eine Demonstration der „Seebrücke“ für Solidarität mit Seenotrettung.

„Vergessene“ Häuser in Leipzig: Impressionen des Verfalls + Leser/-innen-Aufruf & Bildergalerie

https://www.l-iz.de/politik/leipzig/2020/10/Vergessene-Haeuser-in-Leipzig-Impressionen-des-Verfalls-347491

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten unter anderem alle Artikel der LEIPZIGER ZEITUNG aus den letzten Jahren zusätzlich auf L-IZ.de über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall zu entdecken.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

René Loch über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Also einige Sachen auf L IZ sind schon spannend. Kemmerich wurde zum Ministerpräsidenten gewählt, und das zeigte das Dilemma auf, das eine SED geführte Minderheitskoalition Thüringen regiert und weiter regieren will, nun eben auch mit Unterstützung der CDU. Merkel als Regierungsvertreterin in Afrika unterwegs, cancelt aus der Ferne vor den Augen der Weltöffentlichkeit die Wahl in Thüringen nach Gutsherrenart, ein gigantischer Schaden für Deutschland, die Antifa überfällt die Familie von Herrn Kemmerich, eine Schande für unser Land und Schuld ist die AfD, weil sie gewählt hat, wie ihre Wähler es von ihr erwarten. Manche müssen lernen, was Demokratie ist und was solches Unrecht, solche Gewalt und Dummheit bewirken.
Unser Land ist auf keinem guten Weg, weil es sich nicht mehr an die eigenen Grundsätze hält und 89 ist die SED entmachtet und die Bürger wieder ins Recht gesetzt worden, nicht mehr und nicht weniger. Das und genau das müssen wir bewahren.

Schreiben Sie einen Kommentar