So ist es unter anderem unbestritten, dass unser Bildungssystem in einer sozialen Schieflage ist – und trotzdem fehlt die politische Motivation für tiefgreifende Veränderungsprozesse.

In unserer Arbeit begegnen wir immer wieder Jugendlichen, die am System Schule scheitern. Das hat ganz vielseitige Gründe. Es mangelt an kulturellen oder materiellen Ressourcen, eigene Probleme finden in der Schule keinen Platz, aber geben auch keinen Raum, sich auf Mathe und Englisch zu konzentrieren. Der Leistungsdruck ist hoch, das Lerntempo schnell, die Klassen voll und laut oder die Erwartung, dass man eh versagen wird, lähmt.

Solche und ähnliche Umstände sind schon länger zu beobachten, und trotzdem schien die politische Motivation für Veränderungen sehr gering. Nach der PISA-Studie 2000 war der Schock groß. Vor allem wurde deutlich, wie sehr die soziale Herkunft Einfluss auf den Bildungsabschluss hat. Die Forderung nach Veränderungen wurde laut, der Druck auf die Bildungspolitik stieg und plötzlich wurde das Thema in Parteiversammlungen diskutiert.

Doch die Ergebnisse der letzten PISA Studie 2018 zeigen, dass die Leistungsschere noch immer weit geöffnet ist. Schauen wir nun 2020 in die Klassen wird sichtbar, dass es im Bereich der Bildungsgleichheit keine großen Errungenschaften zu verzeichnen gibt. Die Jugendlichen, die wir im Rahmen unserer Tätigkeit treffen und die uns von Problemen in der Schule erzählen, eine Klasse wiederholen müssen oder Sozialstunden wegen zu hoher Fehlzeiten bei uns ableisten, haben meistens ähnlich geringe sozialökonomische Voraussetzungen gemeinsam.

Hinzu kommt die aktuelle Pandemie-Situation. Ein seit Jahren mit verschiedenen Förderprogrammen forciertes Thema ist die Digitalisierung in und an den Schulen. Doch gerade im coronabedingten Lockdown wurde sichtbar: Deutsche Schulen brauchen im Thema Digitalisierung dringend Nachhilfe! Es fehlt, neben ausreichendem Zugriff auf sichere WLAN Verbindungen und entsprechender Hardware für den Unterricht, vor allem auch an ausgereiften Lernplattformen und angepassten pädagogischen Konzepten zum digitalen Lernen.

Mit dem 2019 in Kraft getretenen Digitalpakt Schule wollen Bund und Länder für eine bessere Ausstattung der Schulen mit digitaler Technik sorgen. So müssten jeder Schule im Schnitt 137.000 Euro zur Förderung der Digitalisierung zur Verfügung stehen, was ca. 500 Euro pro Schüler/-in entspräche. Aufgrund der Corona-Krise sind nochmals eine Milliarde Euro hinzugekommen. An Geld scheint es somit nicht zu mangeln, jedoch wurden die praktischen Bedingungen für das Homeschooling nicht geschaffen.

Die Umsetzung des Paktes obliegt den einzelnen Ländern, deren Bildungssysteme ohnehin schon unterschiedlichste Standards aufweisen. Eineinhalb Jahre später ist erst ein Bruchteil der Mittel verwendet worden. Laut Bildungsministerium musste die Verwirklichung des Digitalpaktes hinter den notwendigen Corona-Maßnahmen zurückgestellt werden. Dies wirkt widersprüchlich. Denn gerade jetzt ist die Dringlichkeit des Nachholbedarfs der Digitalisierung an Schulen besonders hoch.

Und hier muss Bildungsgleichheit auch digitale Chancengleichheit mitdenken. Nicht alle Schüler/-innen haben zu Hause Zugang zu einem Tablet, PC oder zuverlässigem Internet. Aus diesen unterschiedlichen Voraussetzungen für Homeschooling ergibt sich ein unterschiedlicher Lernzuwachs und ein noch größeres Ungleichgewicht zwischen Kindern aus sozial benachteiligten Familien und Kindern mit privilegierten Eltern.

Aber auch wenn alle WLAN-Netzwerke eingerichtet und die Schüler/-innen mit Tablets ausgestattet sind, bleiben noch viele Baustellen. Wer kümmert sich um die Wartung der Geräte, welche Lehrer/-innen sind überhaupt qualifiziert, pädagogisch wirksam mit digitalen Geräten zu arbeiten, und wer hat die Kapazität, für Fortbildungen freigestellt zu werden, wenn fast überall Mangel an Lehrer/-innen besteht?

Eine große Herausforderung wird es sein, den Unterricht mit allen neuen digitalen Angeboten und Möglichkeiten sinnvoll zu gestalten. Eine noch größere Aufgabe stellt jedoch die Kopplung zwischen Bildungserfolg und sozialem Ungleichgewicht dar.

Veränderungsprozesse müssen auch außerhalb der Schule angestoßen werden. Diskriminierung von Personen, abhängig von ihrer sozialen Herkunft, existiert in der Kita, der Schule, im Kulturbetrieb oder in der Politik, in Institutionen oder in persönlichen Verhaltensweisen. Armut und Reichtum werden in Deutschland häufig vererbt und die sozialen Unterschiede werden größer.

Kinder von Eltern mit einem hohen Vermögen bleiben meist Teil der Oberschicht, während Kinder, die in Armut aufwachsen, es schwer haben werden, diese zu überwinden. Denn der Bildungsabschluss von Eltern hat noch immer großen Einfluss auf den Abschluss der Kinder, und dieser ist oft ausschlaggebend dafür, was für einen Beruf sie erlernen und welches Gehalt sie verdienen können.

Derartige Problematiken müssen gesehen und ernst genommen werden und zwar nicht erst dann, wenn ein Land in internationalen Studien oder Vergleichen schlecht abschneidet.

Quellen:
Bundesministerium für Bildung und Forschung (2019): Was ist der Digital Pakt Schule?, [online] https://www.digitalpaktschule.de/.

Sandra Stalinski (2020): Digitalisierung an Schulen: An Geld fehlt es nicht, [online] https://www.tagesschau.de.

OECD Programme for International Student Assessment (PISA) (2020): Pisa Deutschland, [online] https://www.pisa.tum.de/home/.

Dr. Jörg Dräger: (2020) Die Corona-Krise als Brennglas, [online] https://www.digitalisierung-bildung.de/2020/05/19/die-corona-krise-als-brennglas-sechs-beobachtungen-und-sechs-schlussfolgerungen-zum-digitalen-lernen-in-der-schule/.

Infos zur Thesen-Aktion: Anlässlich seines 25-jährigen Bestehens hat der Mobile Jugendarbeit Leipzig e.V. einen Kalender mit 25 Thesen aus der Praxis zusammengestellt. Diese beziehen sich auf aktuelle Gegebenheiten und Entwicklungen in Gesellschaft und Jugendarbeit, auf die die Streetworker des Vereins in ihrer täglichen Arbeit stoßen. Die Thesen sollen zum Nachdenken und zur Diskussion anregen – und im Idealfall den Anstoß für einen Veränderungsprozess geben.

Mehr Infos zur Mobilen Jugendarbeit Leipzig e.V.:
www.kuebelonline.de

These #23: Jugendarbeit droht ein Bedeutungsverlust, da sie zunehmend als on/off-Dienstleister verstanden wird

These #23: Jugendarbeit droht ein Bedeutungsverlust, da sie zunehmend als on/off-Dienstleister verstanden wird

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten unter anderem alle Artikel der LEIPZIGER ZEITUNG aus den letzten Jahren zusätzlich auf L-IZ.de über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall zu entdecken.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Jan Kaefer über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar