LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 85, seit 20. November im HandelEigentlich hätte ich vor einigen Tagen mit ein paar tausend anderen Menschen in einem Stadion stehen und den Ärzten zujubeln sollen. Corona hat mir das versaut. Dafür hat Joe Biden kürzlich die Wahl in den USA gewonnen. Ich sah auf Twitter zu wie fröhliche Mobs durch die Straßen New York Citys zogen und „Ding, dong, the witch is dead“ grölten. Wobei mir es im Tippfinger kribbelte.

Melania hatte die Wahl ja sozusagen nur indirekt verloren. Wer da hätte im metaphorischen Sinn tot sein sollen, wäre ihr Gatte gewesen. Der allerdings – schon aufgrund seines Status als Hauptinfluencer für sämtliche alte weiße Männerdarsteller – die männliche Bezeichnung Warlock oder Witcher verdient gehabt hätte.

Mehr alt weiß und vor allem (mies) männlich als „Grab them by the pussy!“ geht nicht. An dem Versuch, das noch mal negativ zu unterlaufen scheiterten bislang sogar Dieter Nuhr und Friedrich Merz, obwohl die sich innerhalb ihres sozial und soziologisch verengten Gemütsrahmens durchaus alle Mühe geben. Trotzdem alles besser und wunderbar, weil Joe Biden seine Wahl gewann und das nach Kim Jon Un weltweit zweitschlechteste aller Frisurrollenvorbilder im Januar sein Büro räumen muss?

Nö.

Bidens Wahlprogramm bestand darin, The Donald abzuräumen. Er hatte dafür eine politisch so breite Koalition geschmiedet, dass es völlig unmöglich sein wird, allen Teilen zu geben, was sie sich von seiner Wahl erhofft haben. Da gilt also Trouble voraus für den neuen Commander in Chief.

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 85, Ausgabe November 2020. Foto: Screen LZ

Immerhin dürften unter dem großväterlichen Biden einige Weltgegenden wohl etwas sicherer werden. Putin wird sich unter einer Biden-Administration ebenso außenpolitisch eher zurückhalten wie Erdogan oder Irans Ajatollahs, die sich ein Ende der härtesten Handelssanktionen und eine Fortsetzung des Atomabkommens erhoffen. All dies ist auch nicht nichts. Im Gegenteil.

Wirklich verpflichtet ist Joe Biden seinen Wahlkampfsponsoren und das sind die großen Finanzinstitute, Hedgefonds und einige ausgesuchte Silicon-Valley-Granden. Deren Interessen wird die Biden- Administration ganz sicher vertreten. Die Malocher, die vor lauter Existenzangst Trump beinah im Amt bestätigt hätten, dürfen sich von Biden außer Lippenbekenntnissen und Notprogrammen keine Verbesserung ihrer Lage erwarten.

Interessant war die USA-Wahl vor allem im Hinblick auf Erkenntnisse, die man daraus gewinnen konnte. Erkenntnisse, die sich auch auf die Bundestagswahl 2021 übertragen lassen könnten.

Erste Erkenntnis: Wählerumfragen ist nicht zu trauen. Nach dem falsch vorhergesagten Brexitvotum, Trumps Präsidentschaftswahlen 2016 und der US-Wahl 2020 hat sich erwiesen, dass selbst mit größeren Nachjustierungen an Auswahl, Fragestellung und Fragehaltung, per Befragung getroffene Wahlprognosen heftig danebenliegen.

Wenn eine ganze Branche zwei Fehlprognosen produziert, könnte man das noch auf Leichtfertigkeit oder Hybris zurückführen. Aber das dritte brutale Versagen der Umfrageinstitute deutet auf einen Systemwebfehler oder eine kulturelle Verschiebung hin, die mit herkömmlich durchgeführten Prognosewerkzeugen nicht mehr zu erfassen ist.

Die zweite Erkenntnis aus der US-Wahl 2020 lautet, dass ausgerechnet Wahlversprechen wichtiger sind, als man es bislang wahrhaben wollte. Denn entgegen jeder Voraussage legte Trump gerade bei Latinos und Afroamerikanern in dieser Wahl kräftig zu, weil er den Wählern dieser Gruppen konkrete Programme bot, die deren finanzielle Lage verbessert hätte. Was ihnen so wichtig war, dass sie über Trumps rassistische Rhetorik und Sympathie für Neonazis hinwegsahen.

Vielleicht lautet die Erklärung dafür auch einfach, dass die Masse von Wählern schlicht pragmatischer handelt als man es ihr in vielen von linksliberalen Twitterfeeds betriebenen Elfenbeintürmen zutrauen will. Es ist dennoch tollkühn, aus den Analysen einer US-Wahl Rückschlüsse auf Bundestagswahlen ziehen zu wollen.

Trotzdem fiel in den letzten Wochen in der einheimischen Presselandschaft ein hartnäckiger Trend dazu auf, wie selbstverständlich eine Schwarz-Grüne Regierungsmehrheit bei der nächsten Bundestagswahl vorherzusagen. Mir kommt das vor wie das Aufsagen von Zaubersprüchen.

Wiederholt man die nur oft genug, glaubt man schon irgendwann daran, dass sie Kraft haben und Wünsche erfüllen können. In dem Fall besteht der Wunsch darin, dass alles im Lande so lange wie möglich weiterhin so bleiben möge wie es gerade ist. Ein klarer Fall von Wunschdenken.

Angesichts des fortgesetzten Versagens der US-Umfrageinstitute bezweifele ich, dass der Wahlausgang, den man uns so permanent ins Bewusstsein hämmert, so feststehend ist wie eine Bürgersteigkante. Es ist eben nicht nur denkbar sondern auch grundsätzlich realistisch möglich, dass die SPD auch unter Olaf Scholz sichtbar und wählbar bleibt. Was angesichts einiger köchelnder Skandale, Stichworte: Wirecard und Cum-Ex- Steuerhinterziehungen, zwar nicht selbstverständlich, aber auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist.

Genauso möglich ist es, dass Die Linke es bis zur Wahl trotz linkstraditionell brutal ernsthaft durchgeführter Versuche nicht fertiggebracht hat, sich in Flügelkämpfen selbst zu zerlegen und außerdem ein Wahlprogramm auflegt, das den Namen links verdient, und nicht die Forderung enthält, die Straßenmeistereien dazu zu verpflichten, sämtliche Autobahnzubringer mit Peace-Zeichen zu besprühen, sondern zum Beispiel vorgibt, das Lobbyregistergesetz so zu gestalten, dass Wähler endlich wirklich nachvollziehen können, welcher Lobbyist in wessen Auftrag welchen Regierungspolitiker zu beeinflussen versuchte.

Nicht auszuschließen wäre darüber hinaus auch, dass die Grünen den Veggie-Day doch nicht aus der Mottenkiste holen, sich noch eine etwas breitere Sozialfassade zulegen und weiterhin auf ihrem aktuellen Beliebtheitshoch bis zum Wahltag segeln. Das Allensbachinstitut – lange der Goldstandard für bundesdeutsche Wählerumfragen – würde selbst dann noch die Union bei über 30 Prozent sehen und der FDP eine Chance auf den Einzug ins Hohe Haus einräumen.

Aber da das Wahlvolk nicht Allensbach sondern sich selbst verpflichtet ist, könnte es sich an den verpatzten Neustart der letzten Bundestagswahl entsinnen und dafür sowohl an der Union wie der FDP Vergeltung üben und so für Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Linken und Grünen sorgen.

Natürlich müsste man dann ausgerechnet den Funktionären einer notorisch behäbigen deutschen linksliberalen Parteienlandschaft zutrauen, dass sie die passenden Schlüsse aus Trumps letzter Wahl zögen und nicht nur ihre Stammwählerschaft bedienen, sondern programmatisch auch mal über den parteitaktischen Tellerrand hinaus agieren.

Hm, all dies klingt für Sie nach naiven Blütenträumen?

Erinnern Sie sich doch mal, wie laut Sie gelacht haben, damals als Sie zum ersten Mal davon hörten, dass ein gewisser Reality-TV-Star namens Donald J. Trump seine Kandidatur für die US-Präsidentenwahl bekannt gab.

Leipziger Zeitung Nr. 85: Leben unter Corona-Bedingungen und die sehr philosophische Frage der Freiheit

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